image

image

image

Redaktion: Milena Verlag

© der Textzusammenstellung: Milena Verlag

© der einzelnen Textbeiträge bei den Autorinnen

A-1080 Wien, Lange Gasse 51/10

www.milena-verlag.at

ALLE RECHTE VORBEHALTEN

eISBN 3-85286-132-2

INHALT

Dani C. Mimo

Tamam

Gitta Büchner

Der Iltis, Nina und ich

Ronja Berlin

Schattenband

Barbara Hundegger

splitter liebe 1

Katja Winkler

Expedition

Jeannette Unger

Seeräuber

Jule Blum, Elke Heinicke

Trish Trash

Barbara Hundegger

splitter liebe 2

Viviane Eisold

Der Feind

Eva Kuntschner

Wolkenkratzer

Manuela Mittermayer

love cuts

Barbara Hundegger

splitter liebe 3

Corinna Waffender

Scheinehe

Petra Ladinigg

Erklärung für Ruth

Judith Düsberg

Neulich war ich auf einer Lesung

Barbara Hundegger

splitter liebe 4

Marlen Schachinger

Die Vermessenheit der geraden Bahn

Ulrike Lunacek

Ihr habt doch eh genau dieselben Probleme wie wir

Marianne Tufar

Sie wird begeistert sein

Barbara Hundegger

splitter liebe 5

Ariane Rüdiger

Marathon

Martina-Marie Liertz

Nacht ohne Versteck

Susanne Hochreiter

Abends

Barbara Hundegger

splitter liebe 6

Christa Nebenführ

Die Flügel des Fauns

Erika Hütter

Tausend Fragen

Katrin Janitz

Nachtfrost

Die Autorinnen

tamam

Dani C. Mimo

DER BLICK ist, wie Michi ihn sich vorgestellt hat: Die Promenade, die Bäume, der Strand, dahinter das Meer. Blaugrün, bleigrau, schlammig-braun, gischtig-weiß. Der Wind treibt das Wasser landeinwärts. Unaufhörlich donnern die Wellen an den Strand.

Michi öffnet die Fenster und atmet tief ein. Da ist er, der Duft, auf den sie sich so gefreut hat. Am liebsten würde sie gleich zum Wasser laufen. Aber sie wird auf Ayshe warten. Sie müsste jede Minute da sein – wenn sie pünktlich weggekommen ist, wenn kein großer Stau war. Sie wollte unbedingt das Auto nehmen. Sie fährt so gern, auch wenn an einem Freitag Nachmittag auf den Straßen raus aus Berlin mehr gestanden als gefahren wird.

Michi dagegen ist relativ entspannt am Berliner Ostbahnhof in den pünktlichen Zug nach Ahrensdorf gestiegen. Vier Stunden später pünktlich angekommen. Hatte Zeit, die Woche hinter sich zu lassen. Den Ärger zu vergessen. Sich auf zwei Tage allein mit Ayshe zu freuen.

Das gleichmäßige Donnern des Wassers hat etwas Hypnotisches. Jetzt und jetzt und jetzt … Wenn sie nicht aufpasst, schläft sie ein. Gleich hier am Fenster.

Es war keine leichte Woche. Zu heiß fürs Büro. Zu heiß für die Stadt. Das Gefühl, dass der Asphalt unter den Füßen weich wird. Dass die Luft steht, nicht genug Sauerstoff enthält. Die verschiedenen Schweißgerüche, die sich zu einer dichten Wolke ballen … Als sie es Ayshe erzählt hat, hat die gelacht. Ihr spinnt, ihr Deutschen, hat sie gesagt. Entweder ist es euch zu kalt und ihr jammert über die Kälte. Oder es ist euch zu heiß und dann jammert ihr auch. Ihr mögt keinen Regen, keinen Nebel, keine Hitze. Bei euch zu Hause. Wenn es in der Türkei 35 Grad hat, jammert ihr nicht. Dann rennt ihr sogar mittags herum und holt euch begeistert einen Sonnenbrand oder einen Sonnenstich. Ich werde das nie begreifen.

Michi war ein wenig gekränkt über das "ihr". Dass manche so sind, sieht sie auch. Sie ist ja nicht blind. Aber dass Ayshe sie dazu zählt! Michi versteht sich als Europäerin, versteht auch Ayshe als Europäerin. Ayshe jedoch sieht sich als Kreuzberger Türkin, mit Wurzeln in Bergama. Europäerin, da lacht sie nur. Michi sei eine schwäbische Kreuzbergerin, sagt sie, und basta. Dabei hat Michi alles Schwäbische längst hinter sich gelassen. Seit 25 Jahren lebt sie in der Hauptstadt, hat sich hier zur Europäerin entwickelt. Aus Überzeugung.

Es klopft. Michis Herz hüpft. Jetzt …

Die Frau vom Empfang fragt, ob sie Wein bestellt hat. Michi war es nicht. Ayshe trinkt selten Alkohol. Michi hat sich inzwischen daran gewöhnt, Tee zu trinken. Trotzdem hat sie eine Flasche Prosecco dabei. Sie will mit Ayshe auf den Tag anstoßen, an dem sie sich vor dreizehn Jahren in der Praxis der Frauenärztin getroffen haben, in der Ayshe arbeitet, bei der Michi Patientin ist. Noch heute ist Michi davon überzeugt, dass Ayshe sie angemacht hat. Wie sie gelächelt hat! Wie sie gesagt hat: "Dann wohnen Sie hier ja gleich um die Ecke." Als ob sie sich darüber freuen würde. Michi hat geantwortet, dass sie gerade erst in die Gegend gezogen ist und sich noch nicht so gut auskennt. Ayshe hat zwar nicht angeboten, ihr das Viertel zu zeigen, aber sie hat lächelnd gesagt: "Deshalb habe ich Sie noch nie hier gesehen." In ihren Augen tanzten Funken. Ihre Lippen schimmerten. Michi erinnert sich gut. An ihre Überraschung. Das Gefühl, das darf doch nicht wahr sein. Die macht mich an. Die weiß nicht, dass immer ich den ersten Schritt tue. Das Spiel starte …

Ayshe erzählt die Geschichte anders. Für sie war Michi eine Patientin wie alle anderen. Vielleicht ein wenig hübscher, mit ihren kurzen roten Igelhaaren und den Ohrringen. Aber dass sie anders gelächelt hat als sonst, bestreitet sie entschieden. Sie wollte nur höflich sein. Wie bei der Bemerkung über Michis Adresse. Sie hat sich nichts dabei gedacht. Überhaupt nichts.

Tatsache ist, dass Michi in den Wochen nach jenem Termin die Cafés der Umgebung regelmäßig gecheckt hatte. Sie wollte Ayshe, von der sie damals nicht wusste, dass sie so heißt, unbedingt wiedersehen. Nach ungefähr zwei Wochen hat sie sie in einem türkischen Lokal entdeckt. Sie saß allein an einem Tisch beim Fenster, trank Tee und blätterte in einer Zeitung. Michi hat sich zu ihr gesetzt, Ayshe hatte nichts dagegen. Sie haben geredet. Es war sofort eine Verbindung da, sagt Michi, und Ayshe bestätigt das. Sie konnten wunderbar miteinander reden. Michi hat nicht versucht, Ayshe etwas vorzuspielen, wie sie es sonst gern tat. Sie hätte gar nicht gewusst was. Ayshe war damals nicht klar, dass es um mehr ging als eine gute Freundschaft. Als es ihr klar wurde, hat sie intensiv darüber nachgedacht. Sich mit einer Freundin beraten. Entdeckt, dass sie es sich vorstellen konnte, mit Michi. Das betont sie immer wieder, nur mit Michi. Mit keiner anderen.

Auf den ersten Blick wirkt Ayshe weich und nachgiebig. Mütterlich. Was sie auch ist. Aber nicht nur. Sie hat einen eisernen Willen. Einen eigenen Kopf. Michi hat es schmerzlich erfahren. Wenn sie nicht will, will sie nicht. Zusammenziehen, zum Beispiel, will sie nicht. Obwohl Michi inzwischen sogar bereit wäre, ihre Wohnung aufzugeben und gemeinsam mit Ayshe in eine neue zu ziehen.

Aber Ayshe lebt weiter bei ihrem Vater, als sei das normal für eine Frau Anfang vierzig. Michi kennt eine Menge Türkinnen, die jünger sind und auch unverheiratet und allein leben. Aber Ayshe sagt, das interessiert sie nicht. Die leben ihr Leben und sie das ihre. Sie hat ihre Mutter bis zu deren Tod vor zwei Jahren gepflegt. Hat sich um die Kinder des jüngeren Bruders gekümmert, als dessen Ehe zerbrach. Jetzt kümmert sie sich um Ergün, ihren Vater, der noch immer täglich von früh bis weit in den Abend hinein in seinem Lokal steht, obwohl er schon 75 ist, obwohl die beiden Söhne Bülent und Adnan längst mitarbeiten. Sie findet das normal, und wenn Michi behauptet, das sei nur in Bergama normal und auch da vielleicht inzwischen nicht mehr, wird Ayshe böse. Wenn Michi dann noch andeutet, dass Ayshe längst mit ihr wohnen würde, hätte Michi nur türkische Wurzeln, dann wird es heftig. Weil Ayshe sich dann als Rassistin verunglimpft sieht oder als türkische Nationalistin. Das will Michi ihr natürlich nicht unterstellen, aber tief in ihrem Herzen glaubt sie doch, dass es der Grund für das getrennte Wohnen ist.

Sie streiten selten, aber wenn, dann deshalb. Ayshe findet ihr Leben gut so wie es ist, Michi möchte es ändern. Ayshe sagt, bitte, ändere dein Leben, aber lass meines in Ruhe. Aber wie soll Michi etwas ändern, wenn Ayshe so stur ist?

Inzwischen ist Michi so weit, dass sie sogar heiraten würde. Als sie Ayshe einen Antrag gemacht hat, hat die zu lachen angefangen. Sie findet nicht nur das Wort "verpartnern" absolut albern, sondern den ganzen Vorgang. Zu einem Notar zu gehen, um einen Vertrag zu unterzeichnen. Nein, danke. Sie will nicht. Michi denkt, dass sie es dann ihrer Familie sagen müsste, und für die wäre es sicher ein Schock. Sie halten sie für eine gute Freundin, eine gute, alte Freundin. Begrüßen sie herzlich, wenn sie ins Lokal kommt. Schenken ihr Tee ein, stellen ihr eine warme Suppe hin. Ayshe sagt, dass sie längst zur Familie gehört. Michi fühlt sich aber nicht als vollwertiges Familienmitglied. Die Schwiegertöchter – auch die abtrünnige, die, die sich hat scheiden lassen – werden anders behandelt. Gehören mehr dazu als sie. Das wäre in deutschen Familien nicht anders, sagt Ayshe und könnte damit Recht haben. Aber das gibt Michi nicht zu. Das schafft sie einfach nicht.

Manchmal, wenn Ayshe genug hat von dem Thema, sagt sie, wenn du Teil eines Clans sein willst, ruf deinen Bruder an. Besuch deine Schwester. Kümmere dich um deine Nichten und Neffen. Aber das will Michi nicht. Sie hat mit ihren Geschwistern nichts mehr zu tun, die immer noch in dem Dorf leben, in dem auch sie geboren wurde. Das Michi verlassen hat, kaum war sie alt genug und fertig mit der Schule. Früher sind ihre Geschwister manchmal nach Berlin gekommen. Sie haben sich getroffen, aber sie hatten einander nichts zu sagen. In Michis Erinnerung waren es quälend lange Nachmittage oder Abende. Wenn Beate und Peter berichtet hatten, wer gestorben war, wer geheiratet hatte, Kinder bekommen oder sich getrennt, wenn sie wieder ungefähr auf dem aktuellen Stand war, gab es nichts mehr zu besprechen. Sie erzählte Geschichten aus Kreuzberg und hatte das Gefühl, dass sie die beiden nicht wirklich interessierten. Beim letzten Treffen waren alle drei spürbar froh, als der Abend endlich vorbei war. Seither haben sich Beate und Peter nicht mehr gemeldet. Und Michi vermisst sie nicht. Ayshe sagt, das geht nicht in ihren Kopf. Wie Michi bei ihrer Begeisterung für Großfamilien mit dem eigenen Clan so hässlich umgehen kann. So lieblos. Eben, antwortet Michi, deine Familie ist viel liebevoller. Der Zusammenhalt viel größer. Ayshe hat sie ausgelacht. Du hast es in der Hand. Du kannst es ändern. Fang einfach an, liebevoller mit ihnen umzugehen.

Michi läuft energisch die Treppe hinunter, ruft der Frau am Eingang zu, dass sie ihrer Freundin sagen soll, sie sei am Strand. Die nickt mürrisch. Die Deutschen haben einen Hang zum Mürrischsein, behauptet Ayshe, und Michi muss ihr auch da Recht geben. Ayshes jüngerer Bruder Adnan sagt, Fröhlichsein mache einfach mehr Spaß als Mürrischsein. Und sei besser fürs Geschäft.

Michi setzt sich in den Sand. Zieht die Schuhe aus, bindet sie an den Schnürsenkeln zusammen und hängt sie über die Schulter. Geht zum Wasser und spürt die Temperatur. Warm. Morgen werden sie schwimmen. Weit hinaus. Wenn der Wind nachlässt. Sonst bleiben sie so lange im Zimmer, bis er sich gelegt hat. Sie grinst. Der Wind zerrt an ihren Haaren, nimmt sie fast mit, treibt sie am Strand entlang zum Landungssteg, in dessen Mitte ein Holzhaus gebaut ist. Es wirkt nicht ganz so geheimnisvoll wie auf den Postkarten. Die meist abends aufgenommen werden, wenn ein einsamer Mond über dem Haus leuchtet.

Im Sand liegen kleine Muscheln neben toten Fischen und leeren Plastikflaschen. Die Wellen fressen die Reste einer Sandburg auf, verwischen die Spuren im Sand.

Plötzlich kann sie es kaum mehr aushalten ohne Ayshe. Wo bleibt sie nur so lange? Hätte sie nicht längst angerufen, wenn sie sich so sehr verspäten würde? Michi greift in die Brusttasche ihres Jeanshemds. Kein Handy. Sie ist Mitte vierzig und schon total vergesslich. Meist gelingt es ihr, Geld und Schlüssel einzustecken, bevor sie die Wohnungstür zuzieht. Und das Handy. Noch … Ob sie Ayshe dezent darauf hinweist? Dein Vater kommt allein zurecht, aber ich, ich brauche allmählich Hilfe? Nicht komisch, gar nicht komisch.

Hat sie das Handy vielleicht in Berlin vergessen? Nein, sie hat Ayshe in der Praxis angerufen, um ihr zu sagen, dass sie jetzt losfährt. Hat nur die Mailbox erreicht. Hat es später im Zug noch einmal versucht, hat noch einmal auf die Mailbox gesprochen. Obwohl sie sich fest vorgenommen hat, das nicht mehr zu machen. Fünf Stunden ist das her. Ayshe hat nicht reagiert. Wenn sie im Stau steckte, hätte sie ihr das nicht gesagt? Da ist sie wieder, die Angst um Ayshe, die sie begleitet, seit sie erkannt hat, wie sehr sie sie liebt.

Sie versucht, die Bilder zu verdrängen, die plötzlich da sind. Sie versucht sich ganz auf das Wasser zu konzentrieren. An nichts zu denken. Nur zu stehen, zu hören, zu sehen, zu riechen. Ayshe kann es. Loslassen, sich fallen lassen. Michi würde es ihr gern nachmachen. Sich ganz auf das saugende Geräusch konzentrieren, das der Sand macht, wenn sich das Wasser zurückzieht … Aber in ihrem Kopf fragt es weiter: Was ist mit Ayshe? Wo ist sie so lange? Ob etwas mit Ergün ist? Aber hätte sie sich dann nicht wenigstens kurz gemeldet?

Vielleicht hätte sie doch mit ihr fahren sollen. Selbst auf die Gefahr hin, dass sie nicht aus der Stadt rausgekommen wären. Manchmal, wenn es spät ist, sagt Ayshe, lass uns auf den Ausflug verzichten, gehen wir zu dir. Ich bin müde, du bist müde. Was sollen wir noch lange fahren. Aber dann ist es nur ein Wochenende zu Hause. Das ist auch schön. Aber nicht so schön, wie wenn sie irgendwo draußen sind. Michi hat so ein Bedürfnis nach Natur. Nach Wald, nach Wasser, ganz egal, ob es ein See ist, ein Fluss oder das Meer.

Sie schaut auf die Uhr. Am besten geht sie zurück. Ayshe könnte inzwischen gekommen sein. Wahrscheinlich hat ihr die Person am Empfang nicht gesagt, wo Michi ist, und sie wartet längst. Gegen den Wind trabt sie zurück zum Hotel. Nicht gerade das erste Haus am Platz. Eine Renovierung wäre dringend nötig. Der feuchte Wind hat die Farbe abgefressen und das Holz der verglasten Veranda schwer mitgenommen. Neben den weiß, golden, grün glänzenden Hotels in der Nachbarschaft wirkt es wie die vergessene Schwester. Im Internet sah es weniger schäbig aus. Das Foto war wohl älter. Oder digital bearbeitet. Michi fand es romantisch. Der ideale Treffpunkt für ein geheimes Liebespaar. Denn Ayshe will nicht gesehen werden. Sie will ihre Ruhe. Keine Kreuzberger und niemand aus dem Clan. Nur Michi und das Meer. Oder den See. Oder den Wald. Sagt sie. Aber Michi hat den Verdacht, dass es ihr weniger um die Ruhe geht. Dass sie nicht mit ihr an einem Ort gesehen werden möchte, der Fragen aufwirft. Was macht ihr da? Zum Beispiel. Ayshe müsste sagen, dass sie ein gemeinsames Wochenende verbringen. Warum mit Michi und nicht mit einem der netten Männer, die ihr die Brüder so gerne im Lokal präsentieren? Freundliche Männer in einem gewissen Alter, denen die Frau gestorben ist oder weggelaufen. Die jemanden brauchen, für die Kinder und für sich selbst. Das wäre die nächste Frage. Wenn du ihnen sagen würdest, dass du lesbisch bist, hättest du endlich Ruhe, sagt Michi immer wieder. Ayshe lächelt bloß und sagt, dass sie um nichts auf das Vergnügen verzichten möchte, diese Männer zu treffen. Außerdem sei sie nicht sicher, ob sie lesbisch ist. Und manche der Männer seien außerordentlich charmant, es tue ihr gut, auf eine so altmodisch höfliche Art behandelt zu werden. Michi könnte dann jedem einzelnen von ihnen sofort den Hals umdrehen, während sie sich fragt, ob dieses "altmodisch höflich" eine versteckte Kritik an ihr ist.

Sie rennt die Stufen nach oben, immer zwei auf einmal, aus dem Fenster neben der Treppe dringt Musik, sie kennt die Melodie, versteht aber den Text nicht. Der ohnehin überflüssig ist. Es ist auch ohne Worte klar, worum es geht – um Liebe. Wenn sie Liebe denkt, denkt sie Ayshe. Sie hätte das nie für möglich gehalten. Weil sie gedacht hat, sie weiß, was Liebe ist. Liebe war, da ist jemand, die mir gefällt, der ich auch gefalle. Wir genießen es, solange es dauert, weil wir wissen, dass es nicht dauert. Erst sehen wir uns ständig, dann sehen wir uns regelmäßig, dann sehen wir uns nicht mehr. Und wenn wir uns später wiedersehen, lächeln wir und grüßen uns freundschaftlich und bilden uns ein, wir seien befreundet.

Die Frau am Empfang, die Michi für die Besitzerin hält, sitzt vor dem Fernseher. Sieht sich eine Quizshow an. Neben sich fünf Dosen Bier. Aus der sechsten trinkt sie gerade. Die laute Musik scheint sie nicht zu stören.

"Hat jemand für mich angerufen?"

Die Frau nimmt den Blick nicht vom Fernseher. "Sie haben wohl kein Handy, wa?"

"Hat jemand für mich angerufen?", wiederholt Michi ihre Frage, ohne die Stimme zu verändern. Früher wäre sie jetzt etwas lauter geworden. Sie kann es nicht leiden, wenn sie so behandelt wird. "Wenn jemand angerufen hätte, hätte ich es schon gesagt."

Michi steigt die knarrende Treppe hinauf in ihr Zimmer. Lehnt wieder aus dem Fenster, schaut zu den Wolken, die sich am Horizont türmen. Es wird Sturm geben. Oder ein Gewitter. Es wird donnern und blitzen. Sie werden Liebe machen. Es wird anders sein und besonders. Dreizehn Jahre sind etwas ganz Besonderes. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal treu sein würde. Wie hat sie das Gefühl, frisch verliebt zu sein, gebraucht! Wie oft hat sie sich nur deshalb verliebt. Manchmal wusste sie gar nicht so genau, in welche sie verliebt war. Warum sie ausgerechnet in sie verliebt sein wollte. Das hat sich geändert, seit es Ayshe gibt. Wenn wir uns jeden Tag sehen würden, wärst du längst nicht mehr mit mir zusammen, sagt Ayshe manchmal. Du brauchst das Gefühl, dass dir etwas vorenthalten wird. Rationierte Zeit ist für jemand wie dich das beste Mittel, um die Liebe frisch zu halten. Michi fragt dann, routinemäßig, was sie mit jemand wie dich meint. Aber Ayshe lacht nur.

Am Anfang war es sicher so. Da hat sie die unsichtbare Grenze gereizt. Sie wollte sie unbedingt überwinden. Doch mit den Jahren hat sich Michi an Ayshe und die unsichtbare Grenze gewöhnt. Das Leben mit ihr ist vertraut und trotzdem manchmal so fremd. Ein Rest Unberechenbarkeit ist geblieben. Unsicherheit. Sie traut ihr – tief in ihrem Herzen – zu, dass sie einen Witwer mit Kindern heiratet, weil die Kinder eine Mutter brauchen und Ayshe Kinder sehr liebt.

Warum kann sie sich zur Abwechslung nicht einmal etwas Schönes vorstellen? Ayshe, die ins Zimmer kommt, in dem schwarzen Pullover, den sie ihr zum Geburtstag geschenkt hat, mit der roten Kette vom letzten Weihnachten um den Hals. Ayshe, die sagt, lass uns erst essen, dann Liebe machen und dann heiraten. Es ist ja nicht so, dass sie es sich nicht vorstellen kann. Es ist wie mit der gemeinsamen Wohnung, die sie schon hundert Mal in schlaflosen Nächten eingerichtet hat. Was gar nicht so leicht ist, weil sie es lieber schlicht mag, Ayshe aber lieber bunt. Weil sie auf ihre Teddybär-Sammlung nicht verzichten möchte und Ayshe Stoffbären albern findet. Die Vorstellung hat keine Konsequenzen. Weil es nicht nur nach dem geht, was sie sich wünscht, sondern vor allem nach Ayshe. Und die teilt manche ihrer Wünsche nicht. "Tamam" sei es, so wie es ist, sagt sie, in Ordnung.

Michi würde gern ein Bier trinken, zur Beruhigung. Aber das Zimmer hat keine Mini-Bar. Und sie hat keine Lust, ein offenes Geschäft zu suchen. Oder eine Tankstelle. Der Wirtin eine Dose abzukaufen erst recht nicht. Also rennt sie durchs Zimmer. Sucht das Handy, findet es, tippt die Nummer, die sie am besten kennt – und landet wieder bei der Mailbox.

Logische Erklärung – Ayshe hat es in der Praxis vergessen. Da ist es immer ausgeschaltet. Sie hat sich so beeilt, zu ihr zu kommen, dass sie es hat liegen lassen. Beeilt, denkt sie, zu schnell gefahren. Sie sieht den blauen Polo an einem der Alleebäume, für deren Erhaltung sie demonstriert hat. Wenn einer dieser verdammten Bäume ihrer Freundin etwas getan hat, dann sägt sie sie alle um. Oh, ja, das macht sie. Sie kauft eine Kettensäge im Baumarkt und geht die Alleen entlang, rechts, links, rechts, links. Leichen pflastern ihren Weg. Als Kind hat sie gern Western gesehen. Weil die Darstellerinnen meist nichts anderes zu tun hatten, als auf die Helden zu warten, hinter ihnen her zu winken, oder sich Sorgen zu machen, hat sie sich natürlich mit den Helden identifiziert, die eindeutig die spannenderen Leben führten. Und nun wirft Ayshe ihr vor, sich wie ein Macho zu benehmen. Jedenfalls manchmal.

Vermutlich hat sie auch damit Recht.

Dass sie nichts tun kann, warten muss, macht Michi wahnsinnig. Jedenfalls fast.

Wen könnte sie anrufen, wen könnte sie fragen, ob er oder sie weiß, was mit Ayshe ist? Wenn sie Ergün anruft, macht er sich auch Sorgen. Das ist schlecht. Adnan? Bülent? Besser sie fragt Dilek, die kleine Schwester. Doch Dilek geht auch nicht ans Telefon. Michi holt den CD-Player aus der Tasche, blättert durch die CDs. Sie braucht etwas, das sie ablenkt, das sie entspannt. Etwas gegen die Bilder in ihrem Kopf. Gegen die wachsende Wut auf alle Alleebäume, weltweit.

Ein leises Klopfen. Ayshe, einen Korb in der Hand und einen riesigen Blumenstrauß. Sie stellt den Korb auf den Tisch, legt den Strauß daneben, schaut sich um. "Das hast du im Internet gefunden? Es ist wirklich unglaublich, was man da alles findet."

Sie umarmt Michi, doch die macht sich los. "Es gefällt dir nicht." Die Wut auf die Bäume wird zu einer Wut auf Ayshe, die ihr die ganze Freude verdirbt. Ayshe scheint es nicht zu bemerken. Sie stellt die Blumen – einen von Dileks quietschbunten Sträußen – in eine Vase, die sie mitgebracht hat. Stellt die Vase auf den Tisch. "Wo wollen wir essen? Am Tisch? Im Bett?"

"Ich glaube, ich habe keinen Hunger. Ich will lieber was trinken." Michi bemüht sich, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Ayshe wütend anzumachen ist keine gute Idee. "Hast du was zu trinken dabei? Tee vielleicht?"

"Du bist sauer, weil ich nicht angerufen habe. Ich hätte dir sagen sollen, dass es später wird. Ich dachte, ich hol es wieder rein. Aber der Stau war gnadenlos. Du weißt ja, Freitag Nachmittag."

"Warum bist du dann nicht mit mir mit dem Zug gefahren?"

"Weil ich das nicht alles schleppen wollte." Sie deutet auf den Korb und die Blumen. "Weil es sonst keine Überraschung mehr gewesen wäre."

Das ist ein Argument, das sieht Michi ein. Erklärt aber noch immer nicht, warum Ayshe so spät losgefahren ist. "Und warum ist es später geworden?"

Michi spürt, dass sie aufpassen muss. Ihre Stimme hat einen Unterton, den sie selbst nicht mag. Ayshe scheint er nicht zu stören.

"Es hat so lange gedauert, bis ich alles zusammen hatte." Sie deutet wieder, fügt mit einem kleinen Lächeln an: "Und Ergün musste dreimal prüfen, ob ich wirklich nichts vergessen hatte." "Warum?"

"Warum?" Michi nickt, etwas störrisch. Sie will sicher gehen, dass sie nichts falsch versteht. Sie hat das Gefühl, dass sie leicht missverstehen könnte. "Er wollte nicht, dass wir uns den Abend verderben, weil etwas fehlt."

"Aber woher weiß er … "

"Weil ich es ihm gesagt habe."

"Dass du mit mir das Wochenende verbringst?"

"Das auch. Und dass wir etwas zu feiern haben." Ayshe stellt diverse Schüsselchen auf den Tisch, dazu Teller und Gläser, Besteck, Servietten. Sie prüft die Temperatur der Flasche, die sie aus einem Kühler zieht. Champagner.

"Du hast ihm von unserem Jahrestag erzählt?"

"Ja. Ich dachte, es ist Zeit. Wenn wir erst zusammen wohnen, sehen sie doch, dass wir nur ein Schlafzimmer haben. Oder willst du lieber getrennte?"

"Nein." Michi stottert. Vermutlich ist sie eingeschlafen und träumt. Es muss ein Traum sein, auch wenn sich alles erstaunlich echt anfühlt. "Wieso wohnen wir plötzlich zusammen? Ich dachte, du wohnst lieber bei deinem Vater."

"In unserem Haus wird eine Wohnung frei, vier Zimmer im dritten Stock, mit Küchenbalkon. Ich dachte, wir schauen uns das mal an."

"Ja, gern." Michi stottert noch immer. Was vermutlich daran liegt, dass sie träumt.

Im Traum reden ist neu für sie.

"Gut. Montag um sechs haben wir einen Termin. Du hast doch Zeit?"

"Ja."

Ayshe dreht vorsichtig den Korken, schaut Michi prüfend an. "Freust du dich gar nicht?"

"Doch. Ich bin nur – überrascht. Ich hab nicht mehr damit gerechnet, dass du es deiner Familie sagst, dass du, dass wir … Wie hat Ergün reagiert, als du es ihm gesagt hast? Und die Geschwister?"

"Na, wie schon? Sehr gefreut haben sie sich nicht. Es wird Getratsche geben. Tante Adili wird wieder behaupten, wenn die Familie in Bergama geblieben wäre, wäre das nicht passiert. Irgendein Onkel oder Cousin wird von der Familienehre faseln … Ich denke, Ergün war einfach froh, dass ich es ihm endlich gesagt habe. Geahnt hat er längst, dass wir nicht nur sehr gute Freundinnen sind."

Michi beißt sich auf die Lippe und spürt den Schmerz und weiß, dass sie nicht schläft. Kann trotzdem nicht glauben, dass das Wirklichkeit ist. Dass sie ein Glas hält, dass Ayshe ihr einschenkt und sagt: "Trinken wir auf uns, auf unsere Zukunft." Sie schmeckt den Champagner, sie sieht Ayshes blitzende Augen und trotzdem … "Und wieso jetzt plötzlich? Hast du nicht noch letzte Woche gesagt, eine gemeinsame Wohnung kommt für dich überhaupt nicht in Frage?"

Würde Ayshe in einem Traum sagen: "Für eine intelligente Frau bist du erstaunlich blöd. Hätte ich letzte Woche gesagt, ja Liebste, lass uns zusammenziehen, wäre doch die ganze Überraschung hin gewesen."

Da hat sie Recht. Schon wieder. Es kann doch kein Traum sein. In Michis Träumen ist sie selbst im Recht. Immer.

"Und wenn ich dann aus lauter Enttäuschung nicht mehr hätte feiern wollen?"

Ayshe leert ihr Glas und schenkt Michi und sich wieder ein. "Ein bisschen kenne ich dich schon, nach dreizehn Jahren. Du feierst gern. Ein schlichtes Nein von mir ändert daran gar nichts. Noch dazu, wenn es gar nicht so gemeint ist."

Michi könnte sagen, dass das nicht logisch ist, dass sie das nicht wissen konnte, aber es ist ihr egal. Das Essen duftet, Ayshe duftet, der Champagner ist köstlich.

"Tamam", murmelt sie, "tamam."

der iltis, nina und ich

Gitta Büchner

DASS NINA den Iltis heiraten wollte, sprach sich in Windeseile herum. Ich war bestimmt eine der Letzten, die es erfuhr, und ich war nicht erbaut. Was natürlich absolut nichts damit zu tun hatte, dass ich selbst einmal was mit dem Iltis gehabt hatte. Im Übrigen war das ungefähr zehn mal so lange her wie es gedauert hatte.

Natürlich hieß der Iltis nicht Iltis, sondern Iris. Den nicht sehr schmeichelhaften Namen hatte ich ihr angehängt, weil sie nun mal wie ein Iltis aussieht: Langer, sehr beweglicher Körper auf eher kurzen Beinen, kleiner Kopf mit stumpfer Mund-Nasen-Partie, eng stehende, böse Augen, gefährlich spitze Zähne.

In gewissen Momenten, in, wie soll ich sagen, Augenblicken der Ekstase, pflegte Iris sich mit wieselartiger Wendigkeit zu winden und zu drehen, und wenn sie zum Orgasmus kam, stieß sie einen gellenden Schrei aus, der es durchaus mit dem Drohschrei eines Iltis aufnehmen konnte.

Ich erfuhr es von Katrin.

Verschwiegenheit ist sicher eine Tugend, sagte sie in diesem etwas spitzen Höhere-Tochter-Ton, der mich jedes Mal innerlich schockgefriert. Aber musstest du so weit gehen, mir zu verheimlichen, dass deine Zwillingsschwester den Iltis heiratet?

Ich brauchte lange, das zu verdauen, und noch länger, sie zu überzeugen, dass ich keine Ahnung hatte. Als das geschafft war, beschloss ich, alles daran zu setzen, diese Heirat zu verhindern.

Ich rief Nina an. Wie kannst du nur, sagte ich. Was denkst du dir dabei. Warum hast du mir nichts gesagt.

Leider war nur ihr Anrufbeantworter dran.