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ZUM BUCH

»Ich drehte meinen Kopf und du warst da. Bei dieser Party. Ich war derjenige, dessen Date ein Mikrometer war.« So steht es im ersten von insgesamt 62 Briefen, die ein gleichermaßen mysteriöser wie solitärer Erzähler an eine Frau richtet, die er bei der besagten Feier trifft. Boxen hat einen großen Stellenwert im Leben des Berichtendenden, gefolgt von seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem meteorologischen Phänomen – einem geisterhaften Wirbel. Dieser Vortex bringt sein Leben aber längst nicht so durcheinander wie die unbekannte Schöne, der die Schriftstücke gewidmet sind.

Poetisch, lakonisch und immer wieder auch sehr witzig fängt der Schreibende seine Umwelt ein, verfertigt kurze Tagesberichte voll kleiner Details und großer Gefühle. Bill Callahan ist mit seinem literarischen Debüt ein Werk von poetischer Dichte und berührender Menschlichkeit gelungen, das seinen besten musikalischen Arbeiten nicht nachsteht.

ZUM AUTOR

Bill Callahan, geb.1966, gilt als einer der wichtigsten Singer-Songwriter der US-amerikanischen Szene. Unter dem Bandnamen Smog nahm er zahlreiche wegweisende Alben auf, seit 2007 veröffentlichte er mehrere Soloarbeiten, zuletzt das Album »Sometimes I Whish We Were An Eagle«. Diese Platte steht auch in direktem Zusammenhang mit seinem literarischen Debüt, dem Briefroman »Letters to Emma Bowlcut« (Drag City, 2010).

This book thanks
Connie Lovatt
for giving it life
.

And Damian Rogers
for giving it shoes
and a little hat
.

In the pursuit of further knowledge

Joe was subsequently struck by

Philadelphia Jack O’Brien, who

had been hit by Bob Fitzsimmons,

who had been hit by Jim Corbett,

Corbett by John L. Sullivan, he by

Paddy Ryan, Ryan by Joe Goss, and

Goss by Jem Mace.

THE BOOK OF BOXING

W.C: Heinz, Nathad Ward (editors)

Inhalt

Teil Eins

Brief 1

Brief 2

Brief 3

Brief 4

Brief 5

Brief 6

Brief 7

Brief 8

Brief 9

Brief 10

Brief 11

Brief 12

Brief 13

Brief 14

Brief 15

Brief 16

Brief 17

Brief 18

Brief 19

Brief 20

Brief 21

Brief 22

Brief 23

Brief 24

Brief 25

Brief 26

Brief 27

Brief 28

Brief 29

Brief 30

Brief 31

Brief 32

Brief 33

Brief 34

Brief 35

Brief 36

Brief 37

Brief 38

Brief 39

Brief 40

Teil Zwei

Brief 41

Brief 42

Brief 43

Brief 44

Brief 45

Brief 46

Brief 47

Brief 48

Brief 49

Brief 50

Brief 51

Brief 52

Brief 53

Brief 54

Brief 55

Brief 56

Brief 57

Teil Drei

Brief 58

Brief 59

Brief 60

Brief 61

Brief 62

TEIL EINS

BRIEF 1

Die Welt um mich herum war still geworden. Die Stille senkte sich wie schwerer Schnee, langsam und stetig. Seither warte ich auf das Knirschen von Schritten, die sich meinen anschließen. So bewusst benutze ich meine Sinne. Und halte dabei immer einen silbernen Mikrometer (reimt sich auf Thermometer). Wenn ich genug getrunken habe, stecke ich es in die Tasche. Trinke ich mehr, nehme ich es wieder heraus.

Ich hörte diese Schritte. Ich wandte meinen Kopf – und da warst du. Auf dieser Party. Ich war der mit einem Mikrometer als Date.

Ich gab mich genervt. Dabei hatte ich mir wahrscheinlich genauso viele Gedanken über die Party gemacht wie die Gastgeber.

Ich könnte über dein Haar reden, oder über meine Studien. Sie sind eng miteinander verbunden. Das ist es, was mir an dir sofort auffiel. Meine Arbeit dominiert mich. Als ich sah, wie sie auf deinem Kopf sprießte, musste ich dir schreiben.

Ich konnte nicht mit dir reden, aber ich muss dir schreiben.

BRIEF 2

Deine Antwort erreichte mich wie eine Herzmuschel, die eine hungrige Möwe fallen ließ. Gibt’s überhaupt noch Herzmuscheln? Ich legte den Brief auf meinen Küchentisch und ließ mir ein Bad ein. Wie immer ging es mir dabei nicht wirklich um Sauberkeit. Ich bade, um Zeit zu schinden.

Frisch gebadet setzte ich mich an den Tisch. Mein Nachbar lehnte sich aus seinem Fenster, schnupperte und rief herüber, Backen Sie einen Schokoladenkuchen?

Dein Brief spielte mit seinem Haar. Der erste, den du mir je geschrieben hast.

Nein, rief ich hinüber.

Wir hatten noch nie zuvor miteinander geredet, und nun stand er da, starrte mich an und blähte seine Nüstern. Ich konnte nicht fassen, wie nahe er war. Ich habe vorhin Toast gemacht, sagte ich, weil er nicht vom Fenster verschwand.

Auf seiner Arbeitsplatte lagen Kuchenformen und ein Päckchen Mehl. Ich glaube eher, dass er den Schokoladenkuchen machte. Er richtete sich auf, wischte sich langsam seine Hände an der Schürze ab und ließ mich nicht aus den Augen. Er sah aus, als kämen ihm gleich die Tränen. Heute war wohl sein »Kuchentag«, und den wollte ich ihm nicht vermiesen.

Tief in deinem Briefumschlag lagen Bröckchen, die wie Teile der Zimmerdecke aussahen. Meine begann sich im letzten Winter aufzulösen. Wurde nass, dann silbern, dann bronzen und fiel in weichen klebrigen Klümpchen herunter. Und ich habe noch immer nichts deswegen unternommen.

Um 4 Uhr morgens konnte ich von meinem Bett aus hören, wie das Tropfen losging. Ich hatte unter einem halben Meter Schnee gelebt, der seit wer weiß wie lange schon vor sich hinschmolz.

Ich nehme mir vor, keine Fragen zu stellen. Denn das würde bedeuten, dass all dies schon einmal passiert ist und ich dich bloß bitte, mir zu sagen, wie die Dinge gelaufen sind. Was nicht heißen soll, dass ich nicht ans Schicksal glaube.

Du aber hast jedes Recht, mich zu fragen, was ich mache. Ich glaube nur nicht, dass es einen Namen dafür gibt. Ich studiere den Vortex. Dafür verwende ich meistens Mikrometer. Diese Arbeit hat mich bereits von vielem entfernt, und trotzdem nehme ich sie auf mich – und denke dabei das genaue Gegenteil. Ich hoffe, du bist das Bindeglied. Dein Brief passt wie ein Schlüssel in meinem Tag.

Dreh ihn um.

BRIEF 3

Ich kaute darauf herum, bis ich herausfand, dass ich am Zügel zerrte. Raus aus dem Haus, um die Endlosschleife in mir zu stoppen. Das Bild ist verworren und der Ton abgewürgt. Dass dir das nichts gibt, wird mir ab und zu bewusst. Ich kann alles vergessen.

Aber etwas gibt mir Anweisungen. Bist du das, aus einem anderen Mund? Einem, von dem ich nicht sicher bin, dass du ihn hörst? Komm näher in diesem betäubenden Schnee. Darunter liegen die heißen Felsen der Wüste.

Ich lief um den Block, als würde ich eine Blockade umgehen, und setzte mich dann in mein Auto, um Zeitung zu lesen. Ich bin geladen. Voller Energie. Die Nachbarn nerven mich. Bin gereizt. Rechter Unterarm kribbelt. Meine Mikrometerhand zittert wie der Verschluss einer Kamera ohne Film.

Die letzte Nacht verbrachte ich damit, einem einschläfernd langweiligen Boxkampf über zehn Runden zuzusehen. Der eine spezialisierte sich auf die Distanz, der andere auf den Infight. Keiner brachte einen echten Schlag an. Sogar der nachsichtige Ringrichter wollte, dass es aufhört. Man kann nicht immer seinen Kampf kämpfen. Aber mein Gott, die Kinnhaken sollten sitzen.

Am spitzen Absatz des Tages brauche ich mein Glas Wein. Christbaumkerzen fürs Gehirn. In der Windstille taxieren wir das Können der Möwe. Ich will eigentlich nichts kaputt machen. Aber ich will wissen, was ich kaputt machen kann. Ich bin besessen von der Überzeugung, dass ich dich brauche, so wie Blut eine Vene braucht, um von da nach dort zu kommen.

BRIEF 4

Ich glaube, du meinst Siegellack. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie Ziegellack gibt.

Ich erinnere mich an alles, was auf der Party geschah. Du wirktest getrieben. Hast alle deine Freunde zur Begrüßung und zur Verabschiedung geküsst, obwohl du nur fünfzehn Minuten da warst. Mir fiel auf, dass dein Haar nicht leuchtete, sondern Licht absorbierte wie der Vortex. Dann blitzten deine Zähne auf, und ich wollte sie küssen. Oder einen oder zwei davon wie Mints essen.

Ich konnte sehen, dass du dein Outfit wie eine Uniform getragen hast. Männerschuhe ohne Socken. Später sah ich die gleichen Schuhe an einer Schar Nonnen. Du hast mich gar nicht gebraucht. Deine Augen waren der Raum. Von der Hüfte abwärts: Mystery River. Deine Stimme war mehrere zugleich.

Ich wollte dich halten, bis ich nur noch eine höre. Ich stand da und wollte mich nicht bewegen, und da ging mir auf, dass wir in einem Boxfilm jeden Schlag kommen sehen, im wirklichen Leben aber oft danebenhauen.

BRIEF 5

Ich war kurz draußen, Bourbon holen, und dachte darüber nach, was du geschrieben hast. Die Stadt war ein Treibhaus. Die Vergangenheit erblühte wie eine groteske Orchidee. Ich ging durch mein Leben vor zwölf Jahren. Ich sah einen, der meinem damaligen besten Freund täuschend ähnlich sah.

Wo er jetzt wohl ist? Unsere Freundschaft verlief sich.

Ich habe nach ihm gesucht. Ich habe Leute angeheuert. Eine Person. Einen Alkoholiker.

Durch meinen Kopf wirbelten alte Erinnerungen, als ich mit dem Bourbonbaby in meinem Arm herumging. Die Neonreklame des chinesischen Restaurants warb für Arroz Fritos Chinos. Ein Schaufenster stellte eine gläserne Kloschüssel aus. Ich spiegelte mich darin. Ich hoffte, dass das nicht die Ereignisse sein würden, an die ich mich in zwölf Jahren erinnern würde.

Ein Junge ohne Hosen rannte an mir vorbei. Seine Mutter lief hinter ihm her und hatte seine weggeworfenen Sachen in der Hand. Vielleicht war der Junge mein alter Freund, und die Mutter war ich.

Wegen unseres Besuchs – ich bin eigentlich nicht zurückhaltend, aber vielleicht willst du dir lieber ein Buch mitnehmen.

Ich habe mit meiner Großmutter telefoniert. Sie lässt arg nach. Ich bin nicht sicher, ob sie ein Wort von mir verstanden hat. Sie ist jetzt in einem Pflegeheim. Wegen der Aussetzer.

Mir ist aufgefallen, dass es in meinen Briefen nur um mich geht und nicht um dich.

Ich würde mir wünschen, dass du mir denselben Respekt erweist.

BRIEF 6

Zu meinen liebsten Vorstellungen gehört, wenn ein Tier mit einer anderen Art lebt. Oft ist es eine Ente. Du könntest dir eine Ente für die Bibliothek, in der du arbeitest, zulegen. Niemand würde sich beschweren. Enten gehören in Bibliotheken.