image

image

Wir alle bleiben Kinder, nur die Attitüden,
die Spiele und Träume werden alt.
Denis Johnson

Das Buch

Berlin, 1999. Ein ehemaliger Musiker verdient seine Brötchen im verhassten Job als Manager einer Schallplattenfirma, Frust und Einsamkeit bekämpft er mit Alkohol und Drogen. Während seiner nächtlichen Streifzüge durch die Stadt erinnert er sich an seine frühere Band, die »Sonntagsmörder«, und seine große Liebe Nadja, die er nach einem Auftritt kennengelernt hat.

Nadja pfeift auf Konventionen, und es ist Liebe auf den ersten Blick. Er tingelt mit der Band durch die Lande, die Band hat Erfolg, wird immer bekannter. Nadja versucht sich in verschiedenen Jobs, eckt mit ihrer kompromisslosen Moral überall an und überfordert dabei sowohl ihre Umgebung als auch ihren Geliebten. Er ist hin- und hergerissen zwischen der Band, dem Basteln an der eigenen Karriere und der schwierigen Liebesbeziehung zu der stets Rückgrat einfordernden Nadja. Als sich der Erfolg der Band einstellt, wird die Liebe knallhart auf die Probe gestellt.

Der Autor

Paul Lukas, geboren 1956, war bis 1995 Mitglied der Band Element of Crime, veröffentlichte anschließend ein Solo-Album (»The Fear of a Singer«) und einen ersten Roman mit dem Titel »IHN«. Er ist Vater zweier Töchter und lebt heute als Musiker, freier Autor und Übersetzer in Berlin.

image

Inhalt

Das Buch

Der Autor

Vinyl

Ohne Nadja wüsste ich wohl nicht viel von Liebe, hätte wie die meisten von uns eine eher blasse Ahnung vom zwanghaften Sinn für Gerechtigkeit, von zermürbendem Selbsthass und der Flucht in den Irrsinn, hätte ich nicht diese Träume.

Ohne Nadja wäre ich heute noch Musiker von Beruf und nicht der versoffene A&R-Manager einer drittklassigen Schallplattenfirma. Einundvierzig Jahre alt. Ausgebrannt. Komplett im Eimer.

Als Erstes hatte ich mich in ihren unglaublich direkten Blick verliebt, dachte damals, trunken vor Stolz in Erwartung eines ziemlich großen Gigs, er gelte mir, war von ihrer rosaroten Haarpracht beeindruckt, von herrlichen Brüsten in ultrakurzem Kleidchen, den die Beine verlängernden kniehohen Stiefeln. Zwei schüchterne Wochen später, sie mochte meine Stimme am Telefon, fand ich an ihrem Bett kauernd heraus, dass sie Kontaktlinsen trug und über einen erstaunlichen Vorrat an Perücken verfügte. Als ich überraschend vor ihrer Wohnungstür auftauchte, hatte sie hysterisch nach einer imaginären Haushälterin gerufen und sich das nächstbeste Haarkleid übergeworfen.

Später standen wir auf ihrem Balkon, betrachteten die Sterne, genossen den städtischen Duft des Sommers, von Kastanien, Döner Kebab und Katalysator-Versagen, und ich erzählte ihr stolz, ich hätte ein Kind gezeugt (das zweite verschwieg ich ihr vorsichtshalber), einen Baum gepflanzt (während der wenigen Wochen, die ich Jahre zuvor als Gärtnergehilfe durchgehalten hatte) und ein Haus gebaut (ich hatte in einem Abrissunternehmen gejobbt und schwarz ein paar Mauern wieder hochgezogen). Dies schien ihr mächtig zu imponieren, sie legte ihr von grünen Locken umrahmtes Köpfchen gegen meine Schulter und summte irgendwas in der Art von »As time goes by«.

Trotzdem hatte ich mich kurz darauf verabschiedet, und es sollte noch einmal volle zehn Tage dauern, bis wir uns in einer Kneipe in der Nähe meiner Kreuzberger Wohnung verabredeten, bei einer Palette Mut machender Flaschenbiere fröhlich ins Plaudern kamen und schließlich bei mir zu Hause und dann auch sofort in meinem frischbezogenen Bett landeten, wo ich den großartigsten Sex meines Lebens erlebte. Ein Traum wurde wahr, eine kaum noch für möglich gehaltene gleichzeitig körperliche wie geistige Vereinigung, wie mir schien, und als wir uns erschöpft eine Zigarette teilten, trieb es mir, noch unter ihr und in ihr, Tränen des Glücks in die Augen.

Später in dieser Nacht, das Gesicht nur noch schwach vom Mondlicht beleuchtet, erzählte mir Nadja mit leiser Stimme, dass sie seit drei Jahren auf den Strich ging. »Aber mach dir jetzt bloß keine Sorgen, ich hab’s kein einziges Mal ohne Gummi gemacht.«

Sie sprach von der einzigartigen Freundschaft, die sie mit ihren Kolleginnen verbinde, von einer nirgendwo sonst gefundenen Solidarität, der geteilten Verachtung der Männer, die sie in diesem Job ausleben könne, aber ich hatte doch gar nicht nach Gründen gefragt.

Zwei Tage später stand sie wieder vor meiner Tür. Kurz geschorenes dunkelblondes Haar, ungeschminkt, im Parka, in Jeans und billigen Turnschuhen. Klein und schutzlos und so gar nicht mehr die selbstbewusst kokette Lady, als die sie mir bei unseren ersten Begegnungen erschienen war. Diesmal verbrachten wir eine ganze Woche im Bett, hoben wieder und wieder in ungeahnte Höhen ab, liebten uns und redeten, alberten in herrlicher Vertrautheit, standen nur auf, um aufs Klo oder zum Kühlschrank zu gehen, aßen kaum und tranken wenig, bis ich schließlich trotz allem den Wunsch verspürte, mal wieder alleine zu sein, zu arbeiten, meinen Kram zu sortieren, zu mir zurückzufinden, ganz einfach mal wieder ich selber zu sein.

Aber Nadja verstand nicht. Sah zutiefst verletzt aus, fühlte sich zurückgewiesen und weggeschickt. Ich blieb stur, drückte sie an mich, wischte ihr zärtlich zwei Tränen von der Wange, drehte sie um, dann also bis morgen, und schob sie zur Tür hinaus.

Nur fünf Minuten später klingelte es. Ich hatte gerade eine zerrupfte Saite meines Fender Precision Bass ausgetauscht, legte das gute Stück zur Seite und schlurfte mürrisch in den Flur, um zu öffnen. Vor mir stand Nadja. Beziehungsweise eine weitere verwirrende Variante meiner neuesten Eroberung. Noch einmal mindestens fünfzehn Zentimeter kleiner, schmaler und schutzbedürftiger. Am ganzen Leibe zitternd, mit einem verzerrten Gesichtsausdruck, der einem mir vollkommen fremden Menschen gehörte. Die panisch flackernden Augen suchten zwei weit auseinanderliegende Punkte in der Wohnung hinter mir, die rechte Hand fuhr ihr in fahrigen Wischbewegungen über den hässlich zugespitzten, nun winzigen Mund. »Sie sind wieder da!«, stammelte sie verzweifelt, »sie sind wieder da.«

»Wer denn? Wer ist wieder da?«, antwortete ich grober, als ich beabsichtigt hatte.

»Die Männchen«, schluchzte sie, »die kleinen grünen Männchen!«

Ich empfand Mitleid und gleichzeitig eine wachsende Wut. Glaubte sie denn ernsthaft, mit diesem Blödsinn bei mir landen zu können? Vor der herbeigeheulten Invasion außerirdischer Zwerge in meine Wohnung fliehen zu dürfen? Aber was war es, das sie zu derart lächerlichen Mitteln greifen ließ, um dem Alleinsein zu entgehen? Meine Zuneigung gewann die Oberhand. Seufzend führte ich sie wieder hinein, sie sackte in meinen Armen zusammen, ich hob sie auf, wie leicht sie jetzt war, trug sie ins Bett, zog sie aus, streichelte sie und bemühte mich, beruhigend auf sie einzureden, bis das allerschlimmste Zittern und Weinen vorüber war. Nach drei Tagen Ruhe und Pflege entsprach sie in etwa wieder dem Mädchen, das ich in einer der intensivsten Wochen meines Lebens kennengelernt hatte.

image

Diese verfluchten Geigen. Und die stechenden Kopfschmerzen, die sich anfühlten, als fuhrwerke ein durchgeknallter Zahnarzt mit seinem Instrumentarium in meinem Schädel herum. Dazu das Pochen und Ziehen in dem hässlichen Stumpf, der einmal meine linke Hand war. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Der Kerl in der Wohnung über mir hatte mich jahrelang mit Abba gequält, mit Tic Tac Toe, Phil Collins, George Michael und noch viel mehr von all dem verlogenen Müll, aber die neuesten Scheiben der Band, in der ich einst meinem Traumberuf hatte nachgehen dürfen, dröhnten natürlich erst zu mir herunter, seit die Sache für mich endgültig und für immer gelaufen war. Ich den mit süßlichen Streichern verklebten Sound nicht mehr ertragen konnte, mir die Stimme des Sängers zur Folter geworden war und der Langweiler, der meinen Platz am Bass eingenommen hatte, mich vom langsamen, genüsslichen Morden fantasieren ließ. Weil ich nicht daran erinnert werden wollte. Wie mir die Verachtung des Scheins die Leber zerfraß. Seitdem ich nun Tag für Tag einem vierundzwanzigjährigen geklonten Klassenstreber gegenübersaß, der nach das Hirn verkleisternden Wochenendseminaren der Kulturindustrie ins Büro stürmte, sich mit arroganter Visage im Schwingsessel zurücklehnte, die Designerschuhe auf dem Glastisch platzierte und den Kugelschreiber lässig in der Luft kreisen ließ, um mit der frisch erlernten Pose »Überlegenheit zu suggerieren«, wie er mir, maßlos von sich selbst begeistert, erklärte. Und anschließend den lieben langen Tag nichts anderes tat, als die hoffnungslosen Dilettanten abzubürsten, die ihr Erspartes in Studioaufnahmen grauenvoller selbst gebrannter CDs gesteckt und einen Termin bei ihm ergattert hatten. Den er ihnen einzig und allein deshalb eingeräumt hatte, weil es ihm Spaß machte, dabei zuzuschauen, wie von Ruhm und Erfolg träumende Augen erloschen. Tom Tänzer war ein Arschloch.

Ich stieg vorsichtig aus dem Bett, bemüht, das wasserstoffblonde Mädchen mit den Ringen in der Zunge, das leise und friedlich neben mir schnarchte, nicht aufzuwecken, und ging ins Bad, um ein Glas Wasser zu trinken. Ein weit vor der Zeit gealtertes aufgequollenes Trauergesicht, von Alkohol und Koks gerötet wie ein blutiges Steak, glotzte mir blöde aus dem Spiegel entgegen. Die Tränensäcke wären als Wiener Würstchen durchgegangen. Was taten die jungen Mädchen nicht alles, um an einen Plattenvertrag zu kommen. Und ich konnte mich nicht einmal an ihren Namen erinnern. Oder ihre Message. Umpf, umpf, umpf. Der letzte aufrichtige A&R, der sich auch zum Ende des Jahrtausends noch höchstpersönlich unters Volk mischt. In Clubs geht, um wahre Talente aufzuspüren. Bloß dass der sterilisierte Schrott, den sie dir heutzutage auftischen, keine Jauche und keinen Groove hat, keine Farbe und keine Substanz. Und dann kommt so ein kleines Mädchen daher, Kajal bis zum Ohr, nicht schön, aber jung, entdeckt den einsamen traurigen Ex-Künstler mit Verbindungen, schiebt ihm verschmitzt eine Hörprobe zu und einen zarten weichen Schenkel übers Knie. Der Sänger plärrt, die Synthies quietschen, was für ein Gesindel wieder da vorn auf der Bühne, schnell noch zwei Bier und dann ab aufs Klo mit ihr, wir hocken um die Schüssel herum, der Rest des zerbrochenen Deckels dient als Unterlage, zitternde Vorfreude, geübte kleine Hände führen die superscharfe Klinge, kratzen, zerhacken und teilen. Sie grinst und schnieft, dann wieder raus und hinauf, presst sich an mich, lässt den Hintern kreisen, redet und brüllt, ich versteh kaum ein Wort, nur Geiler Beat, Alter und ähnlichen Quark und: Zu mir oder zu dir? (Und das Fleisch war willig, aber der Geist war verwirrt.)

Ich ging in die Küche, klemmte mir mit zitternder Hand eine Dose Bier zwischen die Beine und riss sie auf. Der kalte Schaum spritzte mir über die Waden. Sieben Uhr dreißig. Noch zwei Stunden und dann ab ins Büro. Ja doch, ich würde mir das Tape schon noch einmal vornehmen. Das war ich ihr schuldig. Würde ihr Mut machen, sie vertrösten, schließlich an andere Adressen verweisen. Von wegen zurzeit leider hoffnungslos ausgelasteter Kapazitäten. Irgendwas in der Art. Und natürlich strikt telefonisch.

Mir wurde bewusst, dass nun schon seit Monaten einer meiner ersten Gedanken am Morgen der Frage galt, wie ich mir einen gelungenen Abgang verschaffen könnte. Selbsttötung. Schlussmachen. Nur, was würden wohl meine Kinder dazu sagen? Ich dachte an meinen alten Kumpel Jarosch, einen überaus talentierten Fotografen, der irgendwann die Gardinen zugezogen und die Wände seiner Wohnung komplett schwarz angestrichen hatte und nur noch auf die Straße gegangen war, um sich Büchsenfutter und Zigaretten zu besorgen. Ein halbes Jahr später hatte er sich schließlich von exakt derselben Brücke gestürzt, die schon sein Vater einst für die geeignete Plattform gehalten hatte, um senkrecht aus dem Leben zu scheiden. Ich stand auf, ging zum Kühlschrank und holte mir noch ein Pils.

image

Vor etwas mehr als fünfzehn Jahren hatte mein streng idealistisch geführter Schallplattenladen zwangsläufig pleite gemacht, ich hatte meinen Kleintransporter aus der Konkursmasse gerettet und aufstrebende Rockbands durch die Lande gefahren. Darunter eines Tages auch die Sonntagsmörder, die Band, mit der ich bald sämtliche Höhen und Tiefen einer ehrgeizigen musikalischen Karriereplanung durchmachen sollte. Von auf verregneten Bürgersteigen geteilten Brötchen, mit denen wir halbverhungert im Aldi-Fleischsalat stocherten, bis hin zu umjubelten Konzerten vor Tausenden von Fans, Luxus-Hotels und schleichendem Größenwahn.

Zunächst aber war ich wie gesagt nur der Fahrer. Ich klimperte zu Hause auf der Akustikgitarre, konnte durchaus einen Dur- von einem Moll-Akkord unterscheiden, hegte ansonsten aber keine besonderen Ambitionen, was Bühne, Rampenlicht und Groupies anging. Bis zu dem Tag, an dem die Band zum ersten Mal auf einem ländlichen Open-Air-Festival auftrat. Im Nachmittagsprogramm zwar, vor zu dieser Zeit noch recht wenigen Besuchern, aber Mo, der Sänger der wildentschlossenen Fünf-Mann-Combo, erzählte von einem gewaltigen Pressestab, der sich seine genialen Songs von Sex und Wahn und Verzweiflung mit Sicherheit nicht entgehen lassen würde. Die Sonne knallte mit tropischer Wucht auf den Steinbruch herunter, als Mo mich bat, dem Mann am Mischpult auf die Zehen zu treten, um den spezifischen klangtechnischen Anforderungen seiner damals noch reichlich archaischen Kompositionen zur Geltung zu verhelfen. Verwundert schleppte ich mich den Hang hinauf und unter die in der heißen Brise flatternde Plane, die unzählige Kabel und Knöpfe davor bewahrte, wie Butter zu zerlaufen und vom Tisch zu kriechen. Ein bärtiger Techniker im Aero-smith-T-Shirt nickte freundlich, als er mich sah, kam meinen Sonderwünschen nach einer rückwärts verhallten Hi-Hat und einer im Darmbereich rumorenden Kick-Drum, die auch noch die letzten Hirsche Schleswig-Holsteins für alle Zeiten verjagt haben dürfte, anstandslos nach, verkleisterte auch Mos Brüllgesang mit den entsprechenden Effekten und verzog sich nach dem Soundcheck zu meinem Entsetzen in den Kantinenbereich, um seinen Durst zu stillen. Mir blieb keine Wahl, schon waren die Jungs zurück auf der Bühne, ließen sich vom kläglichen Applaus nicht beirren und legten los, als sei Karel Gott hinter ihnen her. Und nach kurzem Zögern kam auch ich meiner Aufgabe nach, ich kannte inzwischen ja jeden Ton, ließ Becken peitschen, Gitarren wimmern, das Saxofon kreischen, von rechts nach links, von oben nach unten, einmal im Kreis und dann wieder von vorn, geriet in Ekstase, erkannte mich selbst nicht, beherrschte den Landstrich, empfand durchaus Macht. Als das Toben vorüber war, applaudierten die Menschen seufzend im Stehen, wohl heilfroh, wie ich heute vermute, dass der Albtraum ohne größere Hörschäden zu einem friedlichen Ende gefunden hatte. Ich aber hatte Blut geleckt, war angefixt worden und von nun an süchtig.

Auch Mo war begeistert. Allerdings mehr von sich selber. Was einer da draußen mit dem Soundsystem treibt, kriegst du als Musiker auf der Bühne kaum mit, wie ich heute längst weiß. So ließ ich ihn während der sechsstündigen Fahrt durch die Nacht neben mir brabbeln von »postmodern« und »wirklich gigantisch«, von »Avantgarde-Clubs in Manhattan« und den »Gefahren des Ruhms«. Ich wollte einen verzagteren Mo abwarten, um die dringende Notwendigkeit eines bandeigenen Technikers anzumahnen und mich, an den großen Tag in der Kellinghusener Heide erinnernd, in aller Bescheidenheit selbst in die Waagschale zu werfen. Aber es sollte ganz anders kommen.

Nur eine Woche später fuhr ich vorm Proberaum vor, wo Instrumente und Verstärker für einen Kurzauftritt auf einem Neuköllner Straßenfest verladen werden sollten, lehnte mich wartend vor den Bus und rauchte eine Zigarette. Tauben umkreisten gurrend meine Füße, eine türkische Weise drang träge aus den geöffneten Fenstern zu mir herunter, und ich wartete und rauchte. Bis ich die Kellertür im Wind quietschen hörte, sah, wie sie aufklappte und zurück in den Rahmen schlug. Ich stieg die schimmligen Stufen hinunter, und tatsächlich, da saßen die Künstler und stierten missmutig schweigend aneinander vorbei. Fredy, der Gitarrist, kaute auf den Fingernägeln, und Schlagzeuger Mark bohrte sich mit einem Trommelstock das Schmalz aus den Ohren. Saxofonist Ole versteckte seine Nase hinter einer John-Coltrane-Biografie, und der selbsternannte Kopf der Band, der kleine Mo mit der großen Schnauze, ergriff das Wort und erklärte mir die Lage. Der Bassist habe kurzerhand beleidigt die Band verlassen, weil sie ihm eine Abmagerungskur nahegelegt hätten. Die Konkurrenz sei groß, die Lage schwierig, und man müsse hart an sich arbeiten im Kampf um Ruhm, Ehre, Geld und Titelblätter. Das fange nun mal beim Äußeren an, sagte Mo und klopfte mir, mich wohlwollend von Kopf bis Fuß musternd, auf die Schultern. Dann drückte er mir das zurückgelassene Arbeitsgerät des Bassisten in die Hände, erklärte mir, dass die Band ihr Programm mit nicht mehr als drei oder vier Akkorden bestreite (als ob mir das entgangen wäre) und ich demnach auch nur drei oder vier verschiedene Töne zu produzieren hätte. Er würde mir die richtigen Stellen schon beibiegen, der Rest käme dann ganz von alleine.

»Bassisten dürfen doof sein wie Stulle, solange auf der Bühne die Post abgeht, ist die Banane gepellt«, dröhnte er, und mir fiel ein, dass ich im Alter von vier Jahren als Triangelspieler des Kindergartenorchesters so manche müde Mutti zu einem sanften Groove animiert hatte. Man kann nie wissen, was in einem steckt, und so fügte ich mich einer ersten Probe in den beengten Gemäuern und rieb mir noch Stunden später die pfeifenden Ohren.

image

Unseren ersten gemeinsamen Auftritt hatten wir drei Tage später auf einem Schulfest in Spandau. Ich hatte mir das Programm der Band, das die Jungs im Vorjahr auf eigene Kosten auf Vinyl gepresst und unter dem Titel 24 Beinharte Trauermärsche im Selbstverlag unter die wenigen geneigten Leute gebracht hatten, noch einmal in Ruhe angehört, dann mussten zwei weitere Proben genügen. Vierhundert überwiegend weibliche Schreihälse in der prall gefüllten Aula, in der es brodelte und dampfte wie im Heizraum eines antiken Ozeanriesen, bejubelten die abgenudelten Rocksongs, die ihnen ein gnadenlos rückständiger DJ servierte, tanzten und feierten entschlossen sich selbst, und Mo entschied nach einer kurzen nervösen Bandkonferenz, einige Gassenhauer ins Programm aufzunehmen, um das Publikum nicht zu überfordern und einer Revolte vorzubeugen.

Es kam, wie es kommen musste. Dass Fredy irgendwas in den falschen Hals gekriegt hatte und mit dem Gitarrenriff von »Hey Joe« prahlte, während der Rest der Band versuchte, Patti Smith mit einer entspannt rumpelnden Version von »Gloria« in den Schatten zu stellen, nahmen die berauschten Teenager noch anstandslos hin. Led Zeppelins »Gallows Pole« aber, der Griff in die Trickkiste, auf den Mo ganz besonders stolz war, brach nach einer sich zirka sieben Minuten hinziehenden Suche nach einer gemeinsamen Akkordbilanz in sich zusammen, wir hatten uns verhoben und die Trümmer des Arrangements versandeten in einer traurig atonalen Saxofoneinlage, die einen Stromausfall und einen Hagel Bierdosen zur Folge hatte. Mo rannte von der Bühne und suchte in der Dunkelheit nach dem Organisator, um ihm wegen Sabotage an den Hals zu gehen, Drummer Mark und Ole am Saxofon bemühten sich, mit peinlichstem Pseudojazzgedudel die Pause zu überbrücken, und ich packte den Bass ein, um mich in den Bandbus zu verziehen. Auf dem Schulhof aber wurde ich von einem blonden jungen Mann (Typ Tom Tänzer, wie ich heute sagen würde) in einem blütenweißen Seidenhemd und einer aschgrauen Bundfaltenhose aufgehalten. »Hallo«, sagte er, »ich bin Sven Meier von der Multiphon.« Er reichte mir eine Visitenkarte. »Würde mich freuen, wenn ihr die Tage mal anrufen würdet.« Sprach’s, ging und ließ mich verdattert in einer femininen Duftwolke zurück.

In der Aula knallte und zischte es, dann kündeten über den Asphalt huschende bunte Lichter und der mit einem gequälten Jaulen zur Originalgeschwindigkeit zurückfindende Plattenspieler davon, dass die Energiezufuhr wieder in Gang gesetzt worden war und von dem geladenen Live-Act, wie nicht anders zu erwarten, kein Mensch mehr wissen wollte. Zerzaust und verbittert drängelte sich Mo durch eine Gruppe vor der Tür rauchender Jugendlicher, dann folgte der Rest der Band, erregt diskutierend, wir bestiegen den Bus, ich beschloss, die Neuigkeit zunächst für mich zu behalten, das kleinlaute Schweigen der Rückfahrt zu genießen, besinnlich und milde nach einem Abend der mich ratlos zurücklassenden, das Kleinhirn zerrüttenden Klangerlebnisse.

Kurz vor dem Nollendorfplatz meldete sich Mo aus dem Dunkel der hinteren Sitzplätze und schlug vor, im Café Swing zwei, drei Biere zu nehmen. Eine weise Idee, ist man bemüht, eine von Zweifeln geplagte und vom Auseinanderbrechen bedrohte Kapelle aufs Neue und feste zusammenzuschweißen. Wir betraten das Lokal, in dem uns eine gelassene Archie-Shepp-Nummer entgegenblies, die üblichen Gestalten bei Bier und Tequila jedem Naiven, der ein Ohr für sie hatte, euphorisch ihre hochfahrenden, zu fünfundneunzig Prozent niemals zur Aufführung gelangenden künstlerischen Pläne erläuterten, und Else, die geduldige Wirtin und Hüterin dieses verlorenen Haufens, die Gesichter meiner Kollegen mit einer Runde aufs Haus zu entknautschen versuchte.

Ich erzählte es Mo schließlich auf dem Klo. Mit der selbstzufriedenen Lässigkeit eines Großgrundbesitzers, der störende Steinchen von seinem gepflegten Rasen kickt, schüttelte er sein Schwänzchen ab. »Scheißindustrie«, knurrte er. »Vergiss es.«

image

Draußen wurde es langsam hell. Ich schaute aus dem Küchenfenster und betrachtete den zertretenen Vogel, der im Schneematsch auf seine Verwesung wartete, den grauen Himmel, der wie ein Putzlappen über dem Morgen hing, und die missmutigen blassen Figuren, die in Erwartung eines Arbeitstages, der das Leben seit fünf, fünfzehn oder fünfunddreißig Jahren mit der immer gleichen wässrigen Farbe überzog, in gebeugter Haltung zum U-Bahnhof hasteten. Als ich endlich unter der Dusche stand, läutete das Telefon. Nach dem sechsten oder siebten Klingeln beschloss ich ranzugehen. Vielleicht war das Büro abgebrannt und ich konnte mir den Gang zur Arbeit schenken. Im Flur stolperte ich über Sylvester, meinen senilen schwarzen Kater, der beleidigt quiekte und mir zur Strafe in den Knöchel biss.

»Hallo?«

»Hallo Paps«, meldete sich die über alles geliebte Stimme meiner Tochter. Ihre Anrufe waren verdammt selten geworden, seit sie sich vor einigen Monaten mit einem jungen Angeber aus wohlhabender Familie, mit New Beetle und eigenem Appartement im Grünen, zusammengetan hatte.

»Hallo Clara, wie geht’s?«

»Mama ist beim Ficken aus dem Bett gefallen. Voll in den Glastisch rein. Das hat ihr echt krass den Arsch zerlegt. Jetzt liegt sie im Urban-krankenhaus und will von niemandem besucht werden. Ich schätze, es ist ihr peinlich.«

Mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Wenn dich eine verbiesterte allein erziehende Mutter, die weder mit dem Verlust ihrer angeblichen großen Liebe noch mit dem Älterwerden fertigwird, jahrelang verfolgt, um in ätzender Regelmäßigkeit den Hass gleich säckeweise über dir auszuschütten, dann kann dein Herz schon mal auf Erdnussgröße schrumpfen. Wir haben schließlich alle so unsere Probleme.

»Scheiße, da kann man wohl nichts machen.«

»Weiß ich ja. Es ist nur … ich weiß nicht, was ich mit dem Hund machen soll. Ich bin doch jetzt meistens bei Manuel. Er braucht mich jetzt wirklich, wo er sein Abi macht.«

Der Hund mal wieder. Dieser nervtötende kleine Bastard, dessen gewaltige, seine Körpergröße bei Weitem überragende Haufen regelmäßig auf meinem Bett dampften, wenn ich restlos erledigt von einer Fernfahrertour nach Hause kam. Damals, als wir gemeinsam im Wedding lebten und uns für einige Monate ganz sinn- und hoffnungslos damit abmühten, einen auf heile Familie zu machen. Ich hatte den Köter eines Tages heimlich in der Hasenheide ausgesetzt, die Tränen der Damen tapfer ertragend, aber das ansonsten stockblöde Fusselvieh hatte drei Tage später mager und zerzaust an der Wohnungstür gekratzt. Nach unglaublichen dreizehn Kilometern Wegstrecke durch die halbe Stadt.

»Tut mir leid, Süße, aber du weißt doch, dass er sich nicht mit der Katze verträgt.«

»Und wenn du ihn mit ins Büro nehmen würdest? Nachts kann er ja in der Küche schlafen. Bitte!«

Ich suchte verzweifelt nach einer Ausrede, wollte es mir mit dem einzigen Menschen, den ich bedingungslos liebte und von dem ich hoffen durfte, dass er auch für mich etwas übrig hatte, auf keinen Fall verderben. »Warum nimmst du ihn nicht mit zu Manuel?«

»Weil er ’ne Allergie gegen Hunde hat, aber das hab ich dir doch erzählt! Nie kannst du dir merken, wenn ich dir was sage.«

Die Übertreibung sei das Vorrecht der Jugend, heißt es. Trotzdem, langsam wurde es eng für mich. »Wie lange muss Sylvie denn im Urban bleiben?«

»Höchstens eine Woche oder so. Bitte! Das schaffst du doch locker.«

Oh, wenn mein Töchterlein wüsste! Das einzig Lockere an mir waren schon seit geraumer Zeit nur noch diverse Backenzähne. Andererseits war es nun einmal eine Tatsache, dass der Respekt meiner Zuarbeiter endgültig dahin wäre, würde ich mit der uralten vertrottelten Töle im Büro auftauchen.

»Was machen eigentlich deine Klavierstunden? Geht’s gut voran?«

»Paps! Jetzt lenk nicht ab! Nimmst du den Hund oder nicht?«

»Hör mal, Clara. Dein Manuel hat ’ne Hundeallergie. Schön. Und der Hund? Wenn der meinen Kollegen sieht, kriegt er garantiert ’ne Menschenallergie. Ich will nicht wissen, was du sagst, wenn ich ihn dir mit chronischem Asthma zurückbringe … Hallo?«

Aber Clara hatte schon aufgelegt. Verdammt. Schließlich war sie aus dem Alter heraus, in dem ich mit Eistüten, Zoobesuchen oder Dampferfahrten zum Müggelsee Boden bei ihr gutmachen konnte. Ich würde mir etwas einfallen lassen müssen.

image

Nachdem ich dem Kater eine Dose aufgemacht und ein Schälchen Milch dazugestellt hatte, zog ich mich an, lugte noch einmal vorsichtig in mein Schlafzimmer, wo die kleine Blonde mit der zerschossenen Zunge tief und fest schlummerte, und beschloss, das Mädchen ausschlafen zu lassen. Sie würde die Tür auch ohne mich finden.

Ich warf mir den langen schwarzen Mantel über, stieg die drei Treppen hinunter und trat in die feuchte Kälte hinaus. Polnische Presskohle, Abgaswolken und der Duft der nahe gelegenen Brauerei nach der morgendlichen Reinigung hüllten mich in eine vertraute Dunstglocke.

Auf dem Weg zur U-Bahn kaufte ich mir eine Zeitung. Ist schon klasse, wenn du in der Gondel hockst und deine angeblichen Mitmenschen geben sich, in mürrisches Schweigen versunken, alle erdenkliche Mühe, an dir vorbei oder durch dich hindurchzuglotzen (speziell, wenn deine Linke beim Blättern nichts weiter tun kann, als blöde auf den flatternden Seiten rumzupatschen), während du vom ersten Angriffskrieg der Bundeswehr liest, der im Leitartikel nicht etwa verteidigt, sondern begeistert gefeiert wird, von Splitterbomben auf Schulen, Krankenhäuser und Fluchtkonvois. »Es gilt den Balkan zu befrieden, den Quell allen Übels seit mehr als hundert Jahren.« Wow, und das aus deutscher Feder. Erste Sahne. Es geht voran.

In der dritten Station blieb der Zug stecken. Technische Probleme, wie es hieß, was aber genauso gut bedeuten konnte, dass ein abgewiesener Asylbewerber zermanscht die Gleise blockierte, weil er nicht mit der Frage zurande gekommen war, ob er lieber von Nato-Bomben oder den Gewehren der eigenen Landsleute zerfetzt werden wollte. Ich beschloss, das Stück zum Kottbusser Tor zu Fuß zu gehen, schlitterte durch einen riesigen Haufen Kotze auf den Ausgang zu, fand gerade noch am Treppengeländer Halt und hangelte mich nach oben.

Von ähnlichen Alltäglichkeiten begleitet, hatte ich dreißig Minuten später die Rosenthaler Straße erreicht. Hinter den Scheiben der verkrampft auf neuitalienisch gestylten Aquarien hockten die ersten Pappnasen in Beige, jung, schneidig und hohl, bei Milchkaffee und Perrier, und kauten mit hirntoter Lässigkeit auf ihren Handys. Einer der sich häufenden flüchtigen Momente, in denen ich mich nicht wegen meiner eigenen verflossenen Jugend grämte. Ich trauerte um die Jugend von heute.

Drei Straßen weiter und ich stand vor dem achtstöckigen Glaskasten, den ein japanisches Nudelimperium, Besitzer meines Arbeitgebers Alphatone Records, aus Gründen der sogenannten Imagepflege in den Asphalt der neuen Hauptstadt hatte pflanzen lassen. Ich zwang mich hinein und grüßte die Empfangsdame, die mir verschwörerisch zuzwinkerte und das übliche Glas mit den aufgelösten Aspirin reichte. Hanna war noch ein paar Jahre älter als ich, hatte in ihren flotten Zeiten als Promotion-Dame für dieselbe Plattenfirma angeschafft, in der auch die Sonntagsmörder einmal landen sollten, sich im kurzen Schwarzen auf den Schreibtischen so mancher Programmdirektoren geräkelt und mit den seidenen Beinchen geschlenkert, bis irgendwann die aufziehenden Falten und Krampfadern nicht mehr zu übertünchen waren und die Firma sie kurzerhand vor die Tür gesetzt hatte. Im Foyer der Alphatone Records und Konsorten hatte sie schließlich ihr Gnadenbrot gefunden, und ich hatte mehr als nur die vage Vermutung, dass auch sie ihren rasanten Absturz mit einer täglichen Ration Hochprozentigem abzufedern verstand. Ich gab ihr einen Kuss, kippte meine Medizin hinunter, fuhr in den siebten Stock und betrat mein Büro.

»Guten Morgen!«, versuchte ich es mit schlecht gespielter guter Laune. Tom Tänzer stand am Fenster, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und rührte sich nicht. »Du stinkst nach Alkohol«, sagte er, seinen Ekel offensichtlich nur mühsam unterdrückend. Zum wiederholten Mal spielte ich mit dem lustvollen Gedanken, ihn durch die Scheibe zu schubsen. »Ach Tom, so ein Schlückchen hier und da würde dir auch mal ganz gut tun. Entspannt ungemein, glaub’ mir.« Ich setzte mich an den Schreibtisch und stopfte mir ein Kaugummi in den Mund. Vor mir lagen die gesammelten Kritiken zu unserer letzten Veröffentlichung. Es handelte sich um das Debüt eines jungen Rappers, der es gewagt hatte, der verschmusten Beliebigkeit deutschsprachigen Hip-Hops mit aggressiven politischen Texten sowie einigen Samples, die direkt aus der hauseigenen Folterkammer zu stammen schienen, die Stirn zu bieten. Nadja hätte es gemocht, da war ich mir ganz sicher. Ich hatte mich für das Projekt stark gemacht und gegen Tom Tänzers Widerstand und allerlei lächerliche, als Firmenphilosophie getarnte Ängstlichkeiten in der wöchentlichen Vollversammlung durchgesetzt. Und saß nun hier und musste eine Groteske nach der anderen lesen. Widerlichkeiten von vom Neid zerfressenen Versagern, grottenschlecht formulierte Unverschämtheiten, die den Hirnen hasserfüllter gescheiterter Möchtegern-Musiker entsprungen waren, die es nicht einmal bis zu einem Auftritt in einer der Spelunken gebracht hatten, in die man Geld mitbringen musste, um sein talentfreies Gedudel aufführen zu dürfen. Die sich nun allen Ernstes anmaßten, ein vielleicht noch etwas unreifes, zweifellos aber zukunftsträchtiges, von Euphorie, Leidenschaft, ja Herzblut durchdrungenes Werk in der Luft zu zerreißen, an die Wand zu klatschen, es mit sadistischer Freude riskierten, einen jungen Künstler zu zerstören und ihn im schlimmsten Fall in den Sarg zu stoßen. Tränen der Wut nahe, zerknüllte ich den Dreck und warf ihn in den Papierkorb.

image

Schon mein zweiter Auftritt mit den Sonntagsmördern wurde zum Triumph, zur wutschnaubenden Ballade vom einsamen Henker, endlich verstanden, bejubelt, gefeiert, zum Ritt auf den Köpfen von Brüdern und Schwestern, zum Bad in der Menge, zum maßlosen, wilden und geilen Radau.

Eine auf gotischen Metal, düsterste Minnegesänge, vom Tod faszinierte Tagträume spezialisierte Radiosendung hatte das Album der Band nicht nur kurz an-, sondern wundersamerweise komplett ausgespielt. Und so stand die schwarze Gemeinde nun erwartungsvoll vor uns, schneeweiße Gesichter, die Augen tief in der Tiefe der Schädel versunken, und schwenkten zunächst noch bedächtig, dann bald schon ekstatisch die zu prächtigen Türmen toupierten Frisuren. Mehr als fünfhundert von der Sorte waren gekommen, nur dreihundert passten hinein in den Schuppen, also spielten wir zweimal, und die Band war so gut, so tight wie noch nie und absolut sicher. Eine wirkliche Einheit, dröhnend und zuckend, verrückt und verblasen, wir tauchten ins Dunkel von Mos Litanei und traten ans Licht, wenn der Sermon vorbei war, gewaltig und schräg, Gitarren wie Sägen, der Bass eine Walze, die Drums ein Gewitter des Zorns und der Liebe, und Ole ein Vogel, allein auf der Lichtung, verloren im Schmerz eines brünstigen Kranichs, ein Schrei noch, dann Stille und tosend Applaus.

Platt vor Glück und Erschöpfung hingen wir anschließend noch lange in der beengten Kammer hinter der Bühne herum, redeten wild durcheinander, hatten uns mächtig lieb, wollten uns gar nicht beruhigen, bis schließlich der Vorrat an Bier aufgebraucht war und wir uns draußen durch den Rest der Menge drängten, von Schulterklopfen und Lobeshymnen begleitet, und uns am Tresen die Überdosis Adrenalin aus den aufgewühlten Venen spülten.

Und dass ein Journalist namens H. D. Eulenbart den herrlichen Abend, der doch alle Seiten zutiefst befriedigt hatte, aus welchen Gründen auch immer in irgendeinem Käseblatt gnadenlos verriss und die ketzerische Frage stellte, wer um Himmels willen dem Kerl am Mikrofon seine Klampfe geliehen und erlaubt habe, loszuplärren wie eine Schwerhörigenversion von Screamin’ Jay Hawkins, steckte Mo mehr oder weniger unbekümmert weg. Als aber eben jener Herr Eulenbart ein paar Jahre später (wir hatten es inzwischen zu einer überregional beachteten Größe gebracht) meinte, nach einem Gig im Schatten anderer in der Schleimspur des Erfolges kriechender Wichtigtuer unsere Garderobe aufsuchen zu dürfen, nutzte Mo die ganze Tiefe des Raumes, nahm Anlauf und trat dem winselnden Schwachkopf in den Hintern, packte ihn am Pferdeschwanz und schleuderte ihn zur Tür hinaus.

image

Gegen Mittag verließ Tom Tänzer das Büro, um dem Videodreh einer durchgestylten Heulboje aus dem unsäglichen Technogewerbe beizuwohnen, die er bei der sogenannten Millenniumsfeier am Brandenburger Tor unterzubringen hoffte. Nichts im Kopf, aber Titten bis zum Fenster, so was gefiel ihm, und ich war froh, ihn los zu sein. Ich sah die Post durch, erledigte eine Reihe von Telefonaten und kämpfte mit einer hartnäckigen Obstfliege, die dem Aroma meines dünstenden Körpers nicht widerstehen konnte. Dann wurden mir die Albumcharts hereingereicht, das einzige dort vertretene Produkt des Hauses, eine sizilianische Bryan-Adams-Kopie mit Hasenzähnen, fand ich auf Platz 98, und ich fragte mich gerade zum wiederholten Male, wie lange die verrückten Japaner wohl noch ihr Geld in diesen hoffnungslosen Laden ohne Konzept und Linie pumpen würden, als mir irrsinnigerweise der Anruf eines Stehgeigers aus der Ukraine durchgestellt wurde. Der etwa fünfzig Jahre alte Mann, ein wahrer Grizzly in zerschlissenen Loden, war so ziemlich das Sturste, was mir bisher in diesem Job untergekommen war. Aber ich war ja selber schuld, hatte ihn, den Kopf voll von dem nervtötenden Gedröhn, das ich mir den ganzen Tag über zu Gemüte hatte führen müssen, eines Abends in der U-Bahn als wahren Segen empfunden und eine Mark spendiert. Da ich als Einziger so nett war, ihn wahrzunehmen, hatte sich ein Gespräch zwischen uns entwickelt, und von seinem hochromantischen Gefiedel, der kleinen Geige in den riesigen Pranken und seiner ohne Zweifel extrem schwierigen Lebenslage gerührt, reichlich betrunken und von wahrer Menschenliebe durchdrungen, hatte ich ihn tatsächlich aufgefordert, mir eine konservierte Probe seines Könnens zukommen zu lassen. Gleich am nächsten Tag hatte das Werk auf meinem Schreibtisch gewartet, ich hatte zu meinem Wort gestanden und das Band ohne jedes Zögern eingelegt, woraufhin Tom Tänzer wutentbrannt »Ohgottohgott« gegrunzt, fluchtartig das Büro verlassen und die Tür hinter sich zugeknallt hatte. Für ein kurzes Weilchen noch hatte ich mich der perlenden Melancholie vereinsamter Pusztageigen hingegeben, schließlich mit einem Seufzer auf die Stopptaste gedrückt und die Kassette den Experten im Sekretariat für knappe, kaltblütige Ablehnungsschreiben überlassen. Zwei Tage später hatte mich Michail Michailowitch vor der Tür abgefangen und mir in der Manier eines tamilischen Feuerzeugverkäufers mindestens siebzehn weitere Kassetten ins Gesicht gedrückt. Ich müsse sein Schaffen nur von allen Seiten betrachten, entnahm ich seinem Kauderwelsch, und überhaupt, er habe mich in meinem Brief gar nicht wiedererkannt, ob ich ein Problem hätte, was eigentlich mit meiner Hand passiert sei, mit ihm könne ich reden, er würde mir helfen, gar keine Frage, Freunde müssen zusammenstehen, und jetzt hör dir die Kassetten an, viel lieber wäre ich daheim in Krasnopavlovka, abends am Feuer mit Wein und Weib und Liebe und Tanz, oh mein geliebtes Vaterland, aber es ist schwierig bei uns, gibt keine Arbeit für mich, ich war Soldat, hab treu gedient, für nichts und wieder nichts, jetzt geben sie mir keine Arbeit und keine Pension, ich muss Geld verdienen für die Familie zu Hause, habe fünf Kinder, der Hunger ist groß, und so weiter und so fort.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, ihn loswerden zu müssen. Ich besorgte mir am Kiosk um die Ecke eine Plastiktüte, stopfte die Kassetten hinein und schüttelte ihn schließlich ab, indem ich irgendwas von meiner unendlichen Müdigkeit laberte, nein, ich würde mir jetzt auch keinen von ihm ausgeben lassen, ich fahre nach Hause, ich melde mich bald.

»Große Fisch frisst kleine Fisch«, radebrechte er mit einem traurig verschmitzten Grinsen. »Westen große Fisch, Osten kleine.« Er zuckte mit den Schultern und tapste von dannen.

Das war jetzt ziemlich genau eine Woche her, die Kassetten verstaubten unter meinem Bett, und seit jenem Tag hatte ich vor dem Verlassen des Bürohauses stets einen Blick auf die Straße hinuntergeworfen, ihn dort noch dreimal im Schummerlicht der Laternen stehen sehen, die hoffnungsvollen Augen, wie mir schien, direkt auf mein Arbeitszimmer gerichtet. Ich hatte jedes Mal den Hinterausgang genommen und mich im Entengang zwischen parkenden Autos hindurch unbemerkt verdrückt.

Und nun hatte unsere Sekretärin offenbar einen falschen Knopf erwischt und mir den armen Mann mit dem großen Herzen ungefragt ins Ohr geladen. Eine halbe Stunde später lag ich von Magenkrämpfen geplagt unter dem Schreibtisch, unfähig, den Hörer aufzulegen, und doch so hilflos in meinen verzweifelten Versuchen, ihm die Marktlage, die Zwänge des dahinsiechenden Business, meine eigene Machtlosigkeit, eben die Unsinnigkeit seines hartnäckigen Strebens deutlich zu machen. Er hörte mir nicht zu, ließ mich nur hier und da einen halben Satz stammeln, um dann selbst wieder loszulegen. Mit der gleichen Tirade wie gehabt, bloß einige Zacken schärfer, wechselte er von vertraulichem Gebrummel zu sich steigernden Orgien der Wut, schimpfte mich schließlich einen Lügner, einen Versager und Mutterficker, um sich dann, offenbar den Tränen nahe, geschwind zu entschuldigen und einen weiteren ganz liebreizenden Versuch zu starten, schlussendlich aber auf meine nun immer gleichen Einwände, die sich auf ein verzweifelt lauter werdendes »Nein!« beschränkten, mit einem letzten trockenen Satz, dessen Sound mir kalte Schauer über den Rücken jagte, zu reagieren: »Ich will dich nie wieder sehen!«

Ich wälzte mich unter dem Schreibtisch hervor, legte den Hörer auf und verbrachte zwanzig Minuten in gekrümmter Haltung und mit dröhnendem Schädel in meinem Ledersessel. Als die Schmerzen ein wenig nachließen, entschied ich, dass der Arbeitstag gelaufen war, schob meinen Kram zusammen und ging.

image

Was ich jetzt dringend nötig hatte, waren zwei, drei Magenbitter und einige Biere zum Spülen. Ich bog in die Oranienburger Straße ein und schleppte mich die fünf Stufen in eine der wenigen in einem halbwegs erträglichen Urzustand belassenen Kneipen der vom Tourismus verseuchten Gegend hinunter, setzte mich an den Tresen und gab bei dem freundlich gähnenden Barkeeper meine Bestellung auf. Bis auf die schmatzenden Knutschgeräusche eines Pärchens an einem der Tische, die hörbare Müdigkeit des Wirtes und das leise Knistern des Holzofens in der Ecke war es angenehm ruhig in dem Laden. Nach der dritten Runde hatte ich mein schlechtes Gewissen und die quälende Frage, was Nadja wohl zu meinem ukrainischen Desaster gesagt hätte, halbwegs zur Seite geschoben und trug mich mit dem Gedanken, mein Töchterchen anzurufen, mich nach ihrem Hundeproblem zu erkundigen. Dann flog die Tür auf und zwei Damen vom Straßenstrich gegenüber, in Knautschlackmänteln, flambierten Tangabodys und Stulpenstiefeln, polterten die Stiege herunter, steuerten den Tresen an und orderten, sich bibbernd Gesicht, Gesäß und Glieder reibend, zwei Glühwein mit Schuss. Die lautere der beiden, ein trotz der Montur eher gemütlich wirkendes Walross, fluchte gut gelaunt über die Kälte und das saumies laufende Geschäft. Sie kippte die Brühe in einem Tempo in ihren bebenden Torso, als wäre ihr Schlund aus Stahl. Mir wurde angst und bange um ihre Innereien, Bilder von dampfenden, brodelnden Nierensträngen drängten sich auf, aber schon knallte sie einen Fünfer auf den Tresen und stapfte zurück ins Freie. Das zweite Mädchen, erheblich schmaler gebaut und von daher vermutlich anfälliger für Frost und Blasenkatarrh, nahm sich einen Barhocker und nippte ihren Punsch in kleinen verträglichen Schlucken. Ich erlaubte mir einen Blick auf ihr Näschen, den aufregend kleinen knallroten Mund, die blonde Perücke und die Nylons, die knapp einen Meter von mir entfernt zwei herrlich lockende Schenkel verhüllten, das Knöpfchen am Body, die quellende Scham am Zaun des Nirwana.

»Möchtest du noch einen?«, fragte ich leise, als sie ihr Glas geleert hatte. Endlich wandte auch sie mir den Blick zu, ich sah in zwei aufmunternd fragende tiefgrüne Augen und wünschte mir nun endgültig, sie kennenzulernen, ein Schwätzchen zu wagen, die Seele in weiblicher Nähe zu wärmen, ganz ohne Absicht der üblichen Art. Sie warf einen kurzen Blick zur Küche, in die der Kellner verschwunden war, beugte sich zu mir herüber und flüsterte mir verschwörerisch ins Ohr: »Ich wüsste da was viel Schöneres für uns beide.«

Ich war verwirrt und enttäuscht, fühlte mich missverstanden und suchte nach Worten, die meine albernen Träumereien nicht verraten würden: »Mag ja sein, aber ich hab kein Auto und auch nicht genug Geld eingesteckt.«

»Okay«, seufzte sie. »Dann eben noch einen Drink.«

Ich bestellte uns beiden noch einen, wir tranken schweigend, den Blick nun wieder über den Tresen gerichtet, und ich dachte voller Wehmut daran zurück, wie ich einst vor einem Gig in Hamburg bei herrlichem Sonnenschein die Reeperbahn entlangspaziert war, wo die Huren den Männern pfeifend und schäkernd auf die Pelle rückten, mich aber seltsamerweise vollkommen unbehelligt ließen. Zurück in Berlin hatte ich Nadja nach einer möglichen Erklärung gefragt, und sie hatte mir liebevoll und diesmal gar nicht eifersüchtig klargemacht, dass für eine Professionelle ein Mann, der ihr eventuell etwas bedeuten, in den sie sich vielleicht verlieben könnte, als Kunde nicht in Frage kam. »Logisch, oder?«, hatte sie gesagt, und nicht ohne Stolz hatte ich ihr beigepflichtet.

Bloß war das eben etliche Jahre her, meine jugendliche Anmut mehr als nur verblasst, und ein Foto von früher hatte ich nicht dabei. Für das reizende Mädchen neben mir war ich vermutlich nichts weiter als ein an Kontaktarmut leidender Halbgreis, der sich mit ein paar Drinks ein geduldiges Ohr für seine Monologe zu erkaufen versucht. Mir der extrem grellen Glühbirne über dem Tresen urplötzlich bewusst, rutschte ich ein Stück nach hinten und schob die paar Reststrähnchen über meinem Hinterkopf zusammen. Ich zahlte, zog den Bauch ein, zwängte mich, ein kleinlautes »Ciao« grummelnd, an ihrem Rücken vorbei und ging.

Als ich im nieselnden Schneeregen zum U-Bahnhof schlitterte, kam ich mir vor wie eine dieser lächerlichen Gestalten, die mit vierzig erschrocken feststellen, dass ihr mieses, kleines Dasein vergänglich ist. Und deren Jammern nun klingt wie das Klammern an längst schon verjährte, verklärte, womöglich nie dagewesene glückliche Zeiten.

image

Wer weiß, wie ich ohne Nadja mit meinen Bandkollegen klargekommen wäre. Zumindest hätte die Sache einen anderen Verlauf genommen ohne ihre überzogen aufgeregten Hinweise auf mangelnde Street Credibility und unreflektierte Ruhmgeilheit, ihre Reden von einem Haufen Egoisten, von dem ich mich benutzen und aussaugen lasse, bis nichts mehr von mir übrig sei. Wobei sie in vielem ganz zweifellos recht hatte.

Meinen dritten Auftritt mit den Sonntagsmördern hatte ich auf dem Benefizkonzert eines Bootleg-Händlers. Philip, ein pfiffiger Engländer aus der Hausbesetzerszene, der auf Flohmärkten und Straßenfesten schwer verdauliche Independent-Produktionen unters Volk zu streuen versuchte, hatte seine Kasse mit Schwarzpressungen von Mainstream-Alben aufgebessert, ein Kontaktbereichsbeamter und Eurythmics-Fan war ihm auf die Schliche gekommen, Phil wurde vor Gericht zitiert und zu einer Strafe von mehreren tausend Mark verdonnert. In seiner Not hatte er das Tempodrom angemietet, seine glänzenden Verbindungen zur Punkszene spielen lassen (er hatte in diversen Krawallvideos den exhibitionistischen Priester gegeben) und ein höchst attraktives Programm auf die Beine gestellt. Auch die Sonntagsmörder waren dem Mann in Freundschaft verbunden, seit er ihnen in ihrem ersten Jahr unter die Arme gegriffen und 24 Beinharte Trauermärsche gegen eine geringe Provision in sein Sortiment aufgenommen hatte. Mo hatte unseren Auftritt zugesagt, dreißig Minuten sollten wir spielen und die Aufregung war groß, als wir vor dem fast dreitausend Leute fassenden Zelt eintrafen und feststellten, dass es so gut wie ausverkauft war.