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Dieses Buch erscheint mit der freundlichen Unterstützung von

Reinhold Stipsits und Gottfried Biewer.


 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
 
 
Für Fragen und Anregungen:
sylviapetter@100fans.de
 
1. Auflage 2014
 
© 2014 by riva (powered by 100 FANS),
ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
 
 
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
 
Redaktion: Susanne Schneider
Umschlaggestaltung: Melanie Melzer, München
Umschlagabbildung: »Hundertwasserhaus« von Sharon Ratheiser, Wien
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print: 978-3-95705-000-7
ISBN E-Book (PDF): 978-3-95708-000-4
ISBN E-Book (EPUB, Mobi): 978-3-95708-001-1
 
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.100FANS.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter
www.muenchner-verlagsgruppe.de


Inhalt

Titel
Hinweis
Impressum
Inhalt
In Gedenken
Danksagung

ERWACHSEN
VERWIRRUNG DER GEDANKEN
DAS SCHWARZE LOCH
BOBBIN HEAD
SCHREIENDES FEUER
SCHATTEN DER VERGANGENHEIT
FREUNDE UND LIEBENDE
MATRJOSCHKAS
DER WOHNWAGEN
HITZEWELLE
UND DANN WAREN WIR …
GEGENFEUER
DER PARADIESAPFEL
HAUTNAH
NIEMANDSLAND
DER TSCHUSCH
WIENER BLUT
GEDANKENFETZEN
WITWENSPITZEN
GLÜCKWUNSCH
EIN IMAGINÄRER FREUND

Über die Autorin




In Gedenken an meine Eltern

Frieda Petter geb. Eimler (1917 Gorenzen–2009 Sydney)

Herbert Petter (1918 Wien–2002 Sydney)




Mein Dank gilt:

Eberhard Hain aus Chemnitz, meinem Kollegen bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Genf, 1974, für die Übersetzungen und unsere langjährige Freundschaft, die politische Willkür in seinem Land und in meinem überstehen konnte;

Sharon Ratheiser, langjährige Freundin seit dem Dolmetsch-Studium in Wien der späten 60er-Jahre, und heute bildenden Künstlerin, für das Bild des Hundertwasserhauses;

Judith Nika Pfeifer, einer Wiener Lyrikerin, für den letzten Schliff meines Manuskriptes und die Unterstützung und Freundschaft, die ich seit meiner Rückkehr nach Wien 2006 genießen darf;

und Günter Linsbauer, meinem Mann, und Maarit Linsbauer, unserer in Sydney lebenden Tochter, für die immerwährende Unterstützung meiner Schreiblust.


ERWACHSEN

Ich wollte durchaus nicht immer etwas Besonderes sein, als ich größer wurde. Ich wollte einfach nur nicht erwachsen werden.

Wenn Erwachsene auf die Frage nach dem Sein nicht sofort eine Antwort parat hatten, warfen sie eben die Frage nach dem Tun auf.

»Ich möchte einmal fliegen. Wie Peter Pan.«

»Du willst sein wie Peter Pan?«

»Nein. Ich möchte nur so fliegen können wie er.«

Als man mir sagte, dass Peter Pan nie erwachsen wurde, entgegnete ich: »Ich möchte auch nicht erwachsen werden.«

»Aber Pamela, du musst erwachsen werden. Jeder Mensch wird einmal erwachsen.«

»Warum? Wenn ich nun einfach nicht erwachsen werden möchte?«

»Das ist in der Natur nun einmal so, mein Liebling«, sprach meine ­Mutter.

Meine Mutter war erwachsen. Trotzdem konnte ich aber noch mit ihr reden. In gewisser Weise hatte sie ja recht. In der Natur entstehen Dinge, die auch ich nicht aufhalten kann.

»Pamela ist aber groß geworden, Mrs. Thomson«, sagte ein Nachbar eines Tages zu Mutter.

Wirklich? Ich wurde größer. Wahrscheinlich brauche ich neue Schuhe, bevor die alten abgetragen sind. Ich dachte bei mir, dass ich mit dem Erwachsenwerden gut zurechtkomme, wenn es darauf hinausläuft, dass ich immerzu neue Schuhe bekomme. Das würde aber auch bedeuten, dass man sie einlaufen müsse und dass man sich dabei Blasen über Blasen holen kann. Vielleicht sollten meine Füße eine Weile aufhören zu wachsen. Wenn mir die Blasen wehtaten, sagte ich zu Mutter: »Mama, ich möchte nicht groß werden.«

»Das ist nun mal so, mein Liebling«, pflegte sie dann zu antworten. Es war wohl das geringere Übel.

Ich wuchs weiter, meine Brüste bildeten sich heraus und ich bekam meine erste Periode.

»Pamela wird groß«, konnte ich hören, als Mutter mit jemandem am Telefon sprach.

Man wurde also erwachsen. Ich würde jedoch auch ohne das auskommen. Beim Rennen könnte ich darauf verzichten, dass an mir etwas auf und nieder wippt, ich könnte darauf verzichten, zu einer bestimmten Zeit im Monat nicht in meinem Wasserloch baden zu können, und ich könnte auch darauf verzichten, dass mir irgendwann Pickel aus dem Gesicht wachsen. Ich würde heulen, bevor ich wüsste, warum ich eigentlich heule. Erwachsen werden war wirklich das Allerletzte.

Wenn ich im Klassenzimmer meine Zunge herausstreckte, sagte der Lehrer zu mir: »Pamela, werde endlich erwachsen.«

Auch wenn ich schmollte, wurde mir gesagt, dass ich erwachsen werden solle. Erwachsen sein war etwas, das meine Freundinnen kaum erwarten konnten. Dabei sagten sie, dass sie dann Schuhe mit hohen Absätzen und Strümpfe anziehen könnten und allein in die Stadt gehen dürften. Das war doch was! Ich würde lieber fliegen wollen.

Daher erklomm ich einmal einen Felsen und versuchte es. Gott sei Dank tat ich dies am Wasserloch. Danach begann ich zu überlegen, ob die Erwachsenen vielleicht doch recht hatten. Und dass mir gar nichts anderes übrig bliebe, als erwachsen zu werden. Oder blieb mir eine andere Wahl?

Was war nur dran am Erwachsenwerden? Die Erwachsenen, die ich kannte, schienen gar nicht so begeistert darüber zu sein. Meistens kamen sie mir fürchterlich ernst vor. Dinge, die sie nicht wahrnahmen, Dinge wie furzen, brachten mich zum Lachen, wobei sie nur tief Luft holten.

Schließlich war ich sechzehn geworden. Zwar wurde ich äußerlich erwachsen, aber innerlich schwebte ich durch die Lüfte. Ich glaube, meine Mutter verstand mich. Sie lächelte und schüttelte den Kopf, wenn sie mich meilenweit weg wieder auflas.

Und dann verliebte ich mich. Ich dachte mir, dass ich jetzt auch im Innern erwachsen würde. Dass ich herumsitzen und den ganzen lieben langen Tag träumen würde. Ich liebte alle Menschen und lächelte bei jeder Gelegenheit.

Sie nannten es Träumereien und sprachen zu mir: »Werde endlich erwachsen.«

Ich heiratete meine Liebe. Und die Leute sagten, dass ich nun endlich erwachsen werden würde. Ich konnte die Erwartungen an mich körperlich spüren. So begann ich, das Erwachsenenspiel mitzuspielen. Mit einer Ausnahme: Am Telefon meldete ich mir immer mit »Niemandsland hier. Wollen Sie mit einem der verlorenen Buben sprechen?«

Lange dauerte es nicht, bis mein Mann zu mir sagte: »Werde erwachsen.«

Dann wurde meine Tochter geboren. Ein Teil von mir wurde erwachsen. Der größere Teil von mir verbrachte die Zeit damit, mit ihr zu spielen.

»Wer ist Peter Pan, Mama?«

Ich erzählte ihr die Geschichte.

»Aber Mama, wir müssen doch alle groß werden. Ich kann nicht damit warten, bis ich neunzehn bin.«

»Das ist keine Frage des Alters, mein Liebling«, entgegnete ich. »Das findet im Kopf statt.«

Sie warf mir einen fragenden Blick zu, und ich bat den Himmel darum, dass sie eines Tages verstehen möge.

Möglicherweise verließ mich mein Mann, weil ich nie erwachsen wurde.

»Weißt du, Mama, du bist wirklich etwas seltsam«, sagte meine Tochter eines Tages zu mir mit der Klugheit eines ausgehenden Teenagers.

Während der aufkommenden Wechseljahre sagten meine Freundinnen zu mir: »Pamela, jetzt ist es aber wirklich an der Zeit, erwachsen zu werden. Du kannst doch nicht einfach reden und tun, wie es dir gefällt.«

»Aber ich tue doch damit niemandem weh.«

Jetzt bin ich Großmutter. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich mich verliebt habe? Ich reite auf Regenbögen, auf denen Trolle herumtanzen, und ich trage lila Unterwäsche. Irgendwie scheint dies niemanden mehr zu stören. Das kommt mir sehr entgegen. Ich mache Seifenblasen und kann mich über alles lustig machen, und meine Welt ist angefüllt mit Indigo und Alpenveilchen. Und meine Enkelkinder können mich verstehen.


VERWIRRUNG DER GEDANKEN

»Du weißt, dass du uns alles fragen kannst.« Wie oft hatte Hans dies zu Anna gesagt. Es gehörte zu den Dingen, die er mit Stolz von sich gab. Stolz auf das Risiko, das sich hinter diesem Versprechen verbergen könnte, und bereit, sich diesem Risiko zu stellen, sobald es sich konkret zeigte. Hans war schon immer Risiken eingegangen, für sein Land und für sich selbst. In unserem neuen Leben, in unserem neuen Land schien es leicht, einem Kind solche Versprechen zu machen. Oder hatte er auch hier das Risiko erkannt und erneut beschlossen, sich ihm zu stellen?

Anna muss um die sechs Jahre gewesen sein, als sie fragte: »Warum ist der Himmel blau?«

»Er ist die Widerspiegelung des Meeres«, antwortete Hans, ohne von seiner Zeitung hochzublicken.

»Aber das Meer kann man doch von hier überhaupt nicht sehen, Liebling«, hatte ich damals eingeworfen.

Anna schaute sich im Zimmer um und ging dann zum Küchenfenster. Hans schaute mich an und zog die Augenbrauen hoch, als sie an ihm vorbei zum vorderen Fenster rannte.

»Man kann es nicht sehen, stimmt’s?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf und kam in meine Arme. »Das soll aber nicht heißen, dass es nicht richtig ist«, flüsterte ich und schaute auf Hans, der langsam nickte.

Ich erinnere mich noch gut. Als Anna sieben war, fragte sie uns, warum man die Blue Mountains »Blaue Berge« nennt.

Ich blickte zu Hans und gab zur Antwort, dass sie vom Tal aus durch den Dunst der Eukalyptusbäume blau aussehen.

An einem Sonntag verließen wir unser Haus zu früher Stunde und fuhren nach Katoomba. Wir standen am Aussichtspunkt hinter den Three Sisters und sahen die Felsen aus dem Busch hervorragen, von dem aus sich meilenweit ein intensives Graublau erstreckte. Der leichte, frische Geruch machte das Blau so fassbar, dass es schon gar nichts mehr ausmachte, dass die Three Sisters in Wirklichkeit rot gefärbt waren.

Erst als wir Anna zu den Snowies mitnahmen, bemerkte ich, dass die Blue Mountains eigentlich keine Berge waren. Dagegen war Mount Kosciuszko, ein Zweitausender, ein richtiger Berg, schneebedeckt wie fast alle österreichischen Gipfel, die ich aus eigenem Erleben kannte. Man konnte meinen, der Geruch des Eukalyptus sei in den harzroten Aufklebern eingefroren, die die verkümmerten Schnee Eukalyptus mit so viel Stolz auf ihrer weißen Rinde zu tragen schienen.

Anna stellte keine weiteren Fragen und ich dachte, sie habe die Berge, das Meer und das Blau bereits vergessen. An einem Samstag jedoch fuhren wir sehr schnell über Tumble-Down-Dick Hill zum Strand, auf der Straße, die steil abfiel und dann wieder abrupt nach oben führte, wobei es schien, als würde sich mein Magen und sicherlich auch Annas bis zum Verdeck des Wagens heben. Als wir am halbmondförmig verlaufenden Teil der Straße ankamen, schrie Anna plötzlich auf: »Ich sehe das Wasser! Es ist blau, wie der Himmel.«

Ganz sicher haben wir immer versucht, stets eine Antwort zu geben, selbst wenn Annas Fragen ab und an zu früh kamen oder wir schon die Antwort parat hatten, bevor sie überhaupt gefragt hatte. Ich versuchte, sie auf Kommendes vorzubereiten, wobei mir klar war, dass ich flinker sein musste als die Natur – und die Zeit.

Wie das eine Mal, als ich versuchte, ihr ein Bild zu erklären, das ich in ihrem Zoologie-Schulbuch gesehen hatte. Doch durch ihren Gesichtsausdruck wurden mir mit einem Schlag die schulterförmigen Ungetüme von Eierstöcken klar, die sie betrachtete, wobei mir ihre Worte in den Kopf drangen: »Das kann ich doch nicht in mir haben!«

Ich glaube, dies war das erste Mal, dass ich bei ihr Zweifel an unseren Antworten spürte. Trotzdem stellte sie weiter Fragen, bei Tisch.

In unserer kleinen Familie wurde bei Tisch stets gesprochen. »Es ist ganz wichtig, miteinander zu reden«, pflegte Hans zu sagen. Seit seinem Herzanfall, den er einen Monat früher erlitten hatte, als ihm schwindelig wurde und er sich hinlegen musste, wobei er sich nichts anmerken lassen wollte, aß er maßvoller, kaute mit Methode, wobei sich seine Antworten nur noch auf ein Kopfschütteln, ein Grunzen oder ein Nicken beschränkten. Und ich merkte, dass leere Teller eine gute Möglichkeit boten, das Gespräch zu beenden.

Einmal platzte Anna beim Abendessen heraus: »Wer ist Hitler? Was ist ein Nazi?«

In meinem Gedächtnis haftet noch das unüberhörbare Schweigen, als Hans Messer und Gabel an beiden Seiten des halb geleerten Tellers an sich zog und mit der Spitze nach oben auf dem Tisch aufrichtete. Er schluckte hinunter und sagte: »Warum fragst du das?«

»Mary Simmons hat heute in der Schule gesagt, ich sei ein Nazi. Es war wegen des Theaterstücks. Es muss etwas Unschönes sein.« Annas Augen huschten von Hans zu mir.

Ich wischte mir die Hände an der Serviette ab, stand auf und beugte mich über Annas leeren Teller. Hans legte Messer und Gabel auf seinem Teller ab und reichte ihn mir herüber. An einer Seite waren noch Fettreste haften geblieben.

»Nazis waren Deutsche«, antwortete er und machte eine Pause. »Aber nicht alle Deutsche waren Nazis.«

»Aber was ist ein Nazi?«, wollte Anna wissen.

Hans räusperte sich. An seiner Schläfe bemerkte ich ein verräterisches Pulsieren. »Das war im Krieg«, sprach er. »Und das ist eine lange Geschichte. Doch es ist schon spät. Und morgen ist wieder Schule.«

Seit seinem Herzanfall war Hans nicht mehr Auto gefahren, und ich hatte ihn gerade vom Bahnhof abgeholt. Wie immer war er nach der Heimreise zur Hauptverkehrszeit müde. Als wir ankamen, wurde gerade die Straßenbeleuchtung angeschaltet. Ich rief nach Anna. Keine Antwort. Ich ging in ihr Zimmer und sah, dass sie in ihr Kopfkissen weinte.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte ich, aber sie gab keine Antwort. Ich nahm sie in die Arme und betete, dass das, was sie bewegte, vorübergehen würde. An jenem Abend sprach niemand bei Tisch, doch kurz bevor sie zu Bett ging, erzählte mir Anna, was geschehen war.

»Ich habe heute in der Schule Mary Simmons gefragt, warum sie gesagt hat, ich sei ein Nazi. ›Du bist eine Deutsche‹, war ihre Antwort. Ich sagte ihr, dass das nicht stimmt. Daraufhin fragte sie mich, warum ich die Rolle der Gretel bekommen habe. Ob es wegen meines blonden Haares war. Und sie sagte, dass Gretels in allen Büchern blond sind. Und außerdem sei es ein deutscher Name.«

»Was ist so schlimm daran?«, fragte ich sie und streichelte ihren Kopf.

»Sie hat gesagt, alle Deutschen wären Nazis. Und dass die Deutschen alle Juden verbrannt hätten. Darauf hab ich ihr geantwortet, dass ich Australierin bin und das auch beweisen kann. Und ich hab sie gefragt, was eigentlich ein Jude ist. Mary Simmons wusste es nicht. Das Einzige, was sie behauptete, war, dass die Deutschen sie alle verbrannt hätten. Du und Papa auch.« Anna hob den Kopf. »Was ist ein Jude, Mama?«

»Sei still und geh schlafen, es ist spät«, hörte ich mich sagen. »Wir reden ein anderes Mal darüber.«

Hans war zeitig zu Bett gegangen. So ging ich hinaus, um die warme Dezembernacht zu genießen und mir einen anderen Sommer ins Gedächtnis zurückzurufen. Der Krieg war gerade vorbei und ich war zu Fuß auf dem Weg vom Bahnhof zu meinem Dorf in Ostdeutschland. In meinem Tornister hatte ich Brot und eine Flasche Wasser. Hans kam, um mich abzuholen. Mich rauszuholen.

Ich ging auf der Hauptstraße entlang, als sich mir ein Mann näherte. Er war abgemagert und zerlumpt. Er kam noch näher und streckte mir seine Hände entgegen. »Wasser«, flehte er mich an.

Ich gab ihm die Flasche aus meinem Tornister und reichte ihm dazu das Brot. Unsicher schaute ich zu, wie er das Wasser runterstürzte und das halbe Brot auseinanderriss.

»Ich bin Deutscher«, sprach er, während er kaute. »Ich komme aus dem Lager.«

»Lager? Was wollen Sie damit sagen?«, fragte ich ihn.

»Ich bin Deutscher«, wiederholte er und fasste mich an den Schultern. »Kommunist.«

In seinen Augen war etwas Wildes, als ich versuchte zurückzutreten. Dann begann er zu schluchzen. »Sie wissen doch gar nicht, was die angerichtet haben.«

Seit meiner Ankunft in Australien hatte ich nicht mehr an jene Zeit gedacht. Beim Anblick des Mondes zu Beginn des neuen Tages und bei den Gedanken an die Vergangenheit stellte ich mir oft die Frage, wie ich meiner Tochter all das erklären sollte, was sie wissen musste. Und ich fragte mich, wann der richtige Zeitpunkt dazu gekommen sei.

Es war an einem Samstag. Hans war gerade nicht zu Hause. Die scharlachroten Kamelien standen in voller Blüte. Plötzlich kam Anna mit ihren wehenden blonden Zöpfen ins Haus gerannt. In der Hand hielt sie eine Postkarte.

»Aus Österreich, Mutti!«

Sie hielt mir die Karte hin.

»Habe ich denn einen Onkel?«, fragte sie leise.

Hohe, weiße Bergspitzen. Keine Bäume. Geschrieben stand nur: »Ein kurzer Abschiedsgruß. Und ein großes Bussi für meine Nichte.« Ich versuchte, mit fester Stimme weiterzusprechen, fühlte mich jedoch unendlich schwach. »Das ist von Otto, dem Bruder von Papa«, erwiderte ich.

»Papa hat einen Bruder?«

Ich ging zur Anrichte. von den drahtigen Stielen der Kamelien waren zerdrückte Blütenblätter abgefallen. Ich las sie mit der Hand auf und lehnte die Postkarte gegen die leere Vase. »Er ist gestorben«, sagte ich.

»Das ist nicht möglich! Er hat uns die Karte geschickt.«

Die Zeit war gekommen, Annas Zweifel auszuräumen, zu ihrem eigenen Wohl, aber auch meinetwegen und für Hans. »Für deinen Papa ist er gestorben«, sprach ich mit schwacher Stimme. »Schon lange.« Ich wischte meine Hände am Rock ab und ging hinaus, wobei ich spüren konnte, wie mir Annas Blicke folgten. Sie kam mir nach und schaute mir zu, wie ich bei strahlendem Sonnenschein drei rote Kamelien abschnitt. Obwohl sie kein Wort sprach, konnte ich ihr die Fragen vom Gesicht ablesen.

An jenem Abend schob ich Hans beim Abendessen die Karte über den Tisch zu. »Anna hat sie geholt«, sprach ich dazu.

Hans richtete sich steif auf, starrte auf die Karte und sagte zu Anna: »Otto war mein Bruder. Er ist gestorben.«

Anna drehte sich von Hans zu mir herum. »Warum sagt ihr immer wieder, dass er gestorben ist?«, fragte sie.

Die Unterlippe meines Gatten begann zu zucken. Er sagte: »Für mich ist er gestorben, Anna.«

Ich legte meine Hand auf seinen Unterarm und schaute Anna traurig an. »Otto ist weggelaufen«, sprach ich zu ihr.

Hans straffte seinen Körper und sein Gesicht verfärbte sich zum tiefen Schein des Harzes an den … »Weggelaufen soll er sein? Ein Deserteur ist er! Und ein Feigling dazu!«, brüllte er und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Annas Augen öffneten sich weit. Weiter, als ich es jemals gesehen hatte.

»Otto war der Meinung, dass Hitler im Unrecht war«, sprach ich ganz ruhig. »Manchmal braucht es Mut, um wegzugehen.«

In der Luft lag der Geruch alter, vermoderter Erinnerungen.

»Was hat er schon von richtig und falsch gewusst?«, ereiferte sich Hans. »Er hat sich ganz einfach über seine Pflicht lustig gemacht. Hat sich über meine Auszeichnungen lustig gemacht! Hat sich über mich lustig gemacht!«

»Vielleicht hat er gewusst, was mit den Juden geschieht«, sprach ich mit leiser Stimme. Fast hatte ich vergessen, dass Anna noch da war und den Kopf vorstreckte, um zuzuhören.

»Die Juden? Was haben denn die Juden damit zu tun?« Der Puls an seinen Schläfen wurde immer heftiger. »Wir haben nicht gewusst, was mit den Juden geschah! Wir waren keine Nazis!«

»Nein, das waren wir nicht, Liebchen. Er auch nicht. Er nahm ein großes Risiko auf sich und hat dafür bezahlt.«

Das Gesicht von Hans wurde noch einen Ton roter. »Dafür bezahlt? Habe ich nicht auch bezahlt? Bis zum heutigen Tag?« Er atmete schwer, als plötzlich die Wörter aus ihm herausbrachen: »Was für ein Stigma, das nun Helden zuteilwird!«

»Er hat aber einem geholfen zu fliehen«, entgegnete ich.

»Einem Kriminellen hat er geholfen! Oder denkst du, dass es unter den Juden keine Kriminellen gab?« Hans starrte mich mit weit geöffnetem Mund an. Wie festgenagelt saß er auf seinem Stuhl. Dann fiel sein Kopf zurück und er stürzte zu Boden. Ich kann mich erinnern, dass alles wieder gut gewesen wäre, hätte ich in jener Nacht nur meine Hand ausgestreckt. Aber ich tat es nicht.

Einen Augenblick später knieten Anna und ich auf dem Boden. Ich zog sie mit einem Arm fest an mich und schloss mit der anderen Hand seine Augen. Lange blieben wir so sitzen, ohne Tränen in den Augen. Die Tränen kamen erst später.

Nach der Beisetzung nahm ich Anna zu einer Wanderung in den Busch mit. Die lebendige Ruhe war Balsam für die Seele. Die Erde roch nach Moder, ja nach Gärung.

»Der Boden ist sehr fruchtbar«, sagte ich.

»Wie war er, Mama?«, fragte Anna leise.

Ich blieb stehen und schaute meine Tochter an. Ihr blondes Haar und ihre hohen Wangenknochen. Dann zog ich sie eng an mich, sehr eng. Schweigend gingen wir nach Hause.

Zurück im Haus, ging ich zur untersten Schublade der Anrichte und holte einen großen grauen Briefumschlag heraus. Die Klappe stand leicht ab. Ich öffnete den Umschlag und reichte Anna ein altes Foto mit rosa Rand. Es zeigte mich als junges Mädchen im Alter von etwa zwanzig Jahren, mein Kopf zwischen Hans mit seinem dunklen Teint und seinem Bruder mit der helleren Hautfarbe.

»Das ist Otto?«, fragte Anna, und ich nickte.

Als sie mir das Foto in Schwarz und Weiß zurückgab, füllten sich meine Augen mit Tränen. »Du hast viel von deinem Vater«, sagte ich zu ihr.


DAS SCHWARZE LOCH

Schwester Loreto hatte einen harten Mund, wie meine Großmutter. Sie erzählte uns von Maria und Jesus und nahm uns vor dem Mittagessen zur Andacht mit. Dabei stand sie in der Bankreihe immer direkt neben mir, und ich war mir sicher, dass sie mein Gemurmel hörte. Freitags murmelte ich ­immer etwas lauter, da wir länger bleiben mussten, um bei Pater Stephen unsere Beichte abzulegen, damit wir am Sonntag mit gereinigter Seele zum Gottesdienst gehen konnten.

Ich mochte Pater Stephens, obwohl er mir aufgab, wegen meiner lässlichen Sünden wie Schwindeln und Egoismus alle Stationen des Kreuzwegs zu durchschreiten. Eigentlich gefiel mir die Musik des Ave Maria, ich konnte es schnell durchgehen, versuchte dabei, den Geschwindigkeitsrekord zu brechen, wobei ich mit den Augen dem Minutenzeiger der Uhr über der Kapellentür folgte. Über den Text selbst dachte ich kaum nach.

Selbst wenn mir Pater Stephen die Stationen vorgab und bei jeder Station zweimal das Ave Maria anstimmte, empfand ich es nicht als Buße, obwohl ich etwas Hunger verspürte. Immerhin konnte ich mich auf die Skulpturen an den Wänden der Kapelle konzentrieren. Skulpturen mit weißen Roben und rosaroter Haut, eigentlich zu rosarot, um die Leiden Christi zu vermitteln. Damals wusste ich noch nicht, was diese Leiden eigentlich sein könnten, und ich glaube, Schwester Loreto wusste es auch nicht. Pater Stephen habe ich dazu nie gefragt.

Großmutter habe ich auch nicht gefragt, aber nur, weil ich sie nicht mochte. Bei meinem ersten Abendmahl kam sie gleich für ein paar Monate zu Besuch. An dem Tag selbst fühlte ich mich wie eine Fee in meinem weißen Rüschenkleid mit den Puffärmeln. Mama hatte es speziell für diesen Tag selbst geschneidert.

Großmutter ging immer in Schwarz, selbst an jenem Tag. Aber diesmal schenkte sie mir ein mit Perlmutt hinterlegtes Messbuch, und ich sah sie an jenem Tag zum einzigen Mal lächeln. Eigentlich war es gar kein richtiges Lächeln, denn ihre Mundwinkel blieben gerade und waren nur nicht nach unten gezogen, was sie immer tat, wenn sie sich mit festen, knochigen Fäusten auf die Brust klopfte.

»Warum tut sie das?«, fragte ich Mama.