Begriffe, die mit einem Stern gekennzeichnet sind, werden im Anmerkungsteil erklärt.

-1-

Die Sonne schüttete ihm ihre drückende Hitze wie Bleiperlen mitten auf den Schädel und zielte dabei genau auf die kahle Stelle. Er glaubte zu hören, wie ein Feuerregen über der verbrannten Savanne niederging. Die Schwefeldämpfe zogen den Saft aus der Vegetation, die wie verkohlt wirkte. Seine dunklen Brillengläser schützten ihn kaum vor der Strahlung. Er hatte Lust auf einen Schluck tranpe*, um den Durst zu lindern, der ihn umklammert hielt wie in einem Schraubstock. Die Flasche, die er aus der Tasche zog, war leer. Er musste einer Halluzination aufgesessen sein, er konnte unmöglich schon so viel getrunken haben. Es sei denn, er hatte jedes Zeitgefühl verloren, seit er seinen betagten Nissan, der nun das ehrwürdige Alter von 27 Jahren erreichte, am Rand der Landstraße geparkt hatte. Er warf die Flasche gegen einen Felsen; sie zerbrach, ohne dass das Klirren zu ihm drang.

»Ist es noch weit?«, fragte er die Frau, die vor ihm ging.

»Es ist ganz nah«, antwortete sie.

Er wunderte sich über ihre Fähigkeit, sich an diesem verlassenen Ort ohne sichtbare Orientierungspunkte zurechtzufinden. Die Sonnenkörner fielen weiter hageldicht auf seinen Schädel. Er bekam nur schwer Luft, atmete wie ein Asthmatiker, was ihm noch nie passiert war. Das lag nicht am Alter oder an der Müdigkeit, es war dieser Ort, der sich dem Leben verweigerte. Gelegentlich stieg ihm der Geruch der Massengräber in die Nase, die von ausgehungerten Schweinen und Hunden freigelegt wurden. Er bat Gott, er möge sie schnell ankommen lassen, lange würde er nicht mehr durchhalten. In dieser Hitze konnte man ohnmächtig werden. Das hier war eine Abkürzung zur Hölle. Der unpassendste Ort zum Sterben, dachte er.

»Wir sind da«, verkündete sie.

Er erblickte die Hütte von fern im Hitzenebel und in den Schwefelausdünstungen. Sie stand inmitten von einer Art Geschwür aus Schlamm. Drei schmutzige, zerrissene Fahnen mit ausgewaschenen Farben, wie verkohlt von den Angriffen der Sonne, waren am Dach befestigt. Das Haus schien ein Feuer überstanden zu haben. Er wunderte sich, dass es bei dieser Hitze, die auf das Stroh und das Holz hinunterbrannte, nicht in Flammen aufging. Die Leute, die hier wohnten, mussten Mutanten sein, eine neue Art, die an die Lebensbedingungen an diesem Ort angepasst war. »Wir sind alle Mutanten«, dachte er. »Wären wir Menschen, dann hätten wir dieses Leben nicht akzeptiert.« Sie legten die letzten Meter auf einem zweifelhaften Pfad zwischen Schlammpfützen zurück, die die Gluthitze ausgetrocknet hatte. Wenn es regnete, dann trat das Wasser an die Stelle des Feuers und verwandelte den Ort in einen üblen Brei, in dem sich die Verdammten dieses Inselviertels tummelten.

»Bist du sicher, dass du dich nicht irrst?«

»Es ist hier«, beharrte sie.

Ihr Gesicht war verschlossen. In ihren Augen leuchtete jene Energie, die der Umgang mit der Verzweiflung verleiht. Sie klopfte an die Tür. Er hätte gern eine andere Flasche tranpe gehabt. Es war der Alkohol, der ihn in diesem Land am Leben hielt. Wie lange würde er diese Hitze aushalten? Die Sonnentropfen fielen wie Hammerschläge auf seinen Schädel. Er kam sich vor wie ein Nagel, den eine unsichtbare Hand in den Boden zu schlagen versuchte.

»Was willst du?«, fragte eine gehässige Stimme hinter der Tür.

»Ich bin wegen dem Kind zurückgekommen. Dem kleinen Mädchen.«

»Hast du das Geld mitgebracht?«

»Ich will mit Marasa sprechen«, sagte sie.

»Wer ist bei dir?«

»Mein Bruder«, log die junge Frau.

Man hörte, wie innen eine kurze Beratung abgehalten wurde, dann ging die Tür auf.

»Kommt rein«, sagte die Stimme.

Die junge Frau betrat die Hütte, ihr Begleiter folgte ihr. Es war so dunkel, dass die Neuankömmlinge den Hausherrn nur schwer ausmachen konnten. Der Mann nahm seine dunkle Brille ab, aber das Licht draußen war für die Sonnenfilter der Gläser zu stark gewesen. Er brauchte eine Weile, bis seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Der, der sie hereingeführt hatte, zeigte auf einen Mann, der ganz hinten im Raum saß. Dieser stand auf und kam auf sie zu. Er war mager wie eine Leiche, sicher von der Sonne mumifiziert. Seine Haut war wie Holzkohle. Das kalkige Weiß seiner Augen legte eine beunruhigende Aura um sein Gesicht.

»Papa Marasa, ich bin zurückgekommen wie vereinbart«, sagte sie, indem sie sich zum Zeichen der Unterwerfung auf ein Knie niederließ.

»Hast du die 15 000 Gourde*?«, fragte Papa Marasa.

Der Begleiter der jungen Frau bereute, dass er unmäßig tranpe getrunken hatte. Die Hitze vertrug sich nie gut mit dem Alkohol. In diesem Zustand nahe an der Trunkenheit ließ seine Sehkraft um eine Stufe nach. Aber woher hätte er wissen sollen, dass seine Augen trotz der Brille einem solchen Lichtansturm ausgesetzt sein und anschließend in dieses dunkle Universum eintauchen würden?

»Ich will das Kind wieder mitnehmen«, flehte sie.

»Sie wird sterben«, warnte Marasa trocken. »Sie hat ihre Seele nicht mehr. Du kannst die Seele nur zurückkaufen.«

»Jedenfalls muss sie bezahlen«, sagte mit quiekender Stimme jemand, den die Neuankömmlinge nicht bemerkt hatten. »Das Mädchen war acht Tage hier. Jetzt kostet es das Doppelte!«

»Eine Frau!«, wunderte sich der Mann, dessen Augen sich langsam an das Halbdunkel gewöhnten. Das einzige Zimmer war kreisförmig und etwa dreißig Quadratmeter groß; es war um einen Pfeiler herum gebaut, in den Gesichter und Symbole geschnitzt waren. Im Hintergrund standen große Tontöpfe. Ein Hocker, dessen Füße mit Tüchern umwickelt waren, thronte in der Mitte des Raumes. Eine Bank. Ein Hochbett, zum Teil verdeckt von einer schmutzigen, überall von Insekten durchlöcherten Stoffbahn. Die Frau kam mit bösartigem Blick hinter dem Vorhang hervor und setzte sich rittlings auf die Bank. Bestimmt die gefährlichste Gestalt hier. »Ich habe das Geld nicht«, jammerte die Mutter. »Bitte, lassen Sie mich mit meiner Tochter gehen.«

»Wenn du für das Kind nicht zahlen kannst, dann verschwinde!«, schrie Marasa. »Du verschwendest unsere Zeit. Und wir haben gedacht, du bist seriös. Hau ab!«

In diesem Moment war eine Kinderstimme zu hören:

»Mama ... lass mich nicht hier ... Ich habe Schmerzen.«

Die Mutter schob Marasa beiseite und stürzte zu der Stelle, an der die Stimme hinter dem Vorhang hervordrang. Sie zog ihn beiseite. Der Mann folgte ihr. Der Anblick des Mädchens, das er hübsch, pausbäckig und voll Leben gekannt hatte und das nun zum Skelett abgemagert und in mehrere schmutzige, verwaschene T-Shirts eingemummt in diesem Bett lag, traf ihn wie ein Schlag. Er war so angewidert, dass ein plötzlicher Brechreiz ihm den Magen zusammenzog.

»Doris!«, rief die Mutter, indem sie ihr Kind in die Arme schloss.

»Wir heilen dich, ich verspreche es dir, wir heilen dich.«

»Sie will das Kind mitnehmen«, sagte der Mann mit vor unterdrücktem Zorn vibrierender Stimme.

»Das macht 30 000 Gourde. Aber sie wird sterben«, warnte Marasa erneut. »Wenn sie leben soll, dann zahlt die geforderte Summe. Sie ist verkauft. Verhandlungen um eine Seele sind keine einfache Sache.«

»Wir nehmen sie mit«, antwortete der Mann heftig, »und wir zahlen nichts.«

»Was glaubt ihr, wer ihr seid?«, blaffte die Frau mit dem bösartigen Blick.

Der Mann sah das Aufblitzen der Machete in der Hand des Gehilfen, der ihnen die Tür geöffnet und seitdem nichts gesagt hatte. Der erste Schuss ließ die Hütte erbeben. Die Wucht des Projektils schleuderte den Mann mit der Machete gegen die Wand aus Lehm und Stroh. Die Frau stand keifend auf. Das zweite Geschoss riss ihr einen Teil des Schädels weg. Marasa sperrte die Augen auf, sein weit geöffneter Mund ließ eine fast schwarze Zunge sehen.

»Nehmt sie mit«, sagte er eilig in einer Art Kläffen, das an einen Schluckauf erinnerte.

Die Kugel traf ihn in den Mund. Marasa schlug wie ein Ertrinkender um sich, während er zusammenbrach.

»Bist du verrückt?«, schrie die Mutter, die plötzlich aus ihrer Betäubung erwachte. »Bist du verrückt?«

Links neben ihm war im Dunkeln das Klirren eines zerbrechenden Gefäßes zu hören. Die zwei Flügel eines Fensters flogen mit einem Knall auf. Ein Wesen, halb Spinne, halb Mensch, sprang mit einer solchen Behändigkeit und Schnelligkeit nach draußen, dass er nicht sofort reagieren konnte. Er stürzte zum Fenster und sah das Ding im Zickzack auf ein etwa hundert Meter entferntes Kaktuswäldchen zurennen. Er feuerte, war aber nicht sicher, getroffen zu haben. Er fand seine Reflexe als Eliteschütze nicht wieder. Die Kreatur verschwand in dem Wäldchen. Er kehrte zu der jungen Frau zurück, die mit den Händen auf dem Kopf stöhnend dastand und alle Heiligen des katholischen Kalenders um Beistand anrief.

»Nimm deine Tochter«, befahl er mit ausdrucksloser Stimme und steckte die rauchende Zweiundzwanziger Automatik wieder an den Gürtel.

Die Stimme ihres Begleiters riss sie aus ihrer Trance. Sie berührte den Körper des Kindes, es glühte vor Fieber.

»Sie wird sterben«, schrie sie hysterisch. »Wenn ich gewusst hätte, dass du vorhattest, sie umzubringen, hätte ich dich nicht mitgenommen. Dann hätte ich mich nicht an dich gewandt. Nur weil du deine Tochter Mireya den Weißen gegeben hast, musst du mir nicht meine nehmen.«

»Hör auf, Unsinn zu reden«, sagte er ärgerlich. »Deine Tochter wird leben.«

»Ich hoffe es für dich, sonst wirst du für ihren Tod büßen.«

»Hör auf mit dem Geschwätz. Wir sind hier in Gefahr.«

Sie hob das Mädchen hoch und legte es sich auf die Schultern. Sie verließen die Hütte. Im Umkreis war niemand zu sehen. Die Hütte hatte den Lärm der Detonationen verschluckt. Der Feuerregen ging weiter auf die Savanne nieder. Er setzte die dunkle Brille wieder auf. Er spürte, wie ihnen aus dem Wäldchen der hasserfüllte Blick der Kreatur folgte, die sich dort verkrochen hatte.

»Was war das für ein Ding, das da aus dem Fenster gesprungen ist?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Ich weiß es nicht. Aber hab keine Angst. Es traut sich nicht an uns heran.«

»Du hast mich belogen, Dieuswalwe«, sagte sie, während sie unter Tränen zusammenbrach. »Du hattest das Geld nicht ... Stimmt’s?«

Er ignorierte die Frage.

»Du kannst das Kind bei dieser Hitze nicht tragen. Gib sie mir.«

»Nein ... Das ist meine Tochter, ich trage sie. Bei der heiligen Jungfrau Maria, warum hast du das getan, Dieuswalwe Azémar? Warum? Du bist nicht mehr du selbst, seit du deine Tochter weggegeben hast.«

Er antwortete nicht. Sie hätte ihn nicht verstanden, wenn er ihr gesagt hätte, dass er einen Brechreiz gehabt hatte. Er war niemals fähig gewesen zu erbrechen. Nach der Unterzeichnung der Urkunde, mit der er das Leben Mireyas rechtsgültig der Kirche vom Blut der Apostel anvertraute, hatte er geglaubt, dass er sich endlich übergeben würde. Tagelang hatte er vergeblich gehofft, endlich diese Übelkeit loszuwerden. Es war physisch unmöglich. Heute hatte er die Leute in der Hütte nicht ertragen können. Diese Hütte war das Land im Kleinformat. Und er hatte geschossen. Das war eine Art, sich zu übergeben.

Gary Victor

Schweinezeiten

Ein Voodoo-Krimi

Aus dem Französischen
von Peter Trier

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

-2-

»Immer diese verdammte Sonne!«, schimpfte Dieuswalwe Azémar, während er sich mit dem Handrücken klebrigen Schweiß von der Stirn wischte. Noch nie hatte er einen so heißen Juni erlebt. Madame Baptiste, die tranpe-Händlerin an der Ecke, schlug ihm im Scherz vor, Eiswürfel in seinen Schnaps zu geben. Er sah sie an, wie ein haitianischer Chef* einen Zivilisten ansieht, der eine unvorsichtige Bemerkung gemacht hat, dann trank er sein Glas in einem Zug leer. Der assorosi* war köstlich, so bitter, wie man ihn sich wünschte, aber die Hitze verdarb alles. Der Inspektor stellte den Fuß auf den Asphalt vor der Bank, auf der er saß. Sein Schuh versank in der schwarzen, gallertartigen Masse. Er befreite ihn mühsam. Dunst waberte über der Straße. Das war vielleicht die Energie der Lebewesen, die die Sonne auf diese Weise ansaugte. Die Leute sahen tatsächlich wie Zombies aus, bemerkte Azémar. Er musterte die Gesichter der Fahrgäste eines Busses, der plötzlich vor ihm stehengeblieben war und ihn dem lauten Schwall eines kreolischen Raps aussetzte. Sie wirkten müde und verstört zugleich. Leute, die nur lebten, weil sie dazu gezwungen waren. Leute, die wussten, dass Leben und Tod hier auf demselben Bürgersteig nebeneinander hergingen.

Madame Baptiste fragte, ob er noch ein Glas wollte. Der Inspektor lehnte ab. Eine Frau bot ihm Traktate der Zeugen Jehovas an. Er schob die Zeitschriften mit einer zornigen Bewegung beiseite, erhob sich unter den beleidigten Blicken der Frau und ging mit unsicherem Schritt auf sein Auto zu, das er nicht weit von der Statue des unbekannten marron* geparkt hatte. Auf einem Müllhaufen erblickte er zwei Schweine. Wie lange schon wunderte es niemanden mehr, dass mitten in der Hauptstadt Schweine herumliefen?, fragte er sich. Das war das Tragische heutzutage: Man wunderte sich über gar nichts mehr. Geschah eine Katastrophe, die die Menschen eigentlich an ihre erbärmliche Dummheit erinnern sollte, dann machten sie einen Jahrmarkt daraus und bevölkerten ihn mit allen Schrullen ihrer zerlumpten Vorstellungswelt.

Am Steuer seines Autos fiel dem Inspektor ein, dass er nicht allzu vorzeigbar aussah, obwohl er seine Tochter im Pensionat abholen wollte. Er hatte mehr als gewöhnlich getrunken. Es würde ihm schwerfallen, die Alkoholfahne vor der Direktorin zu verbergen, die aus ihrer Verachtung und ihrer Abneigung ihm gegenüber nie einen Hehl gemacht hatte. Normalerweise hatte er sich unter Kontrolle, wenn er Mireya treffen sollte. Er wollte vor allem nicht, dass seine Tochter ihn in diesem erbärmlichen Zustand sah. Aber diesmal würde er zum letzten Mal mit ihr zusammenkommen. In genau drei Tagen sollte Mireya zu einer Pflegefamilie ins Ausland abreisen.

Heute war er wütend. Auf sich selbst, auf dieses Land, auf die ganze Welt. Eigentlich empfand er eher Ohnmacht als Wut. Eine erschreckende Ohnmacht, die seine Nichtexistenz in diesem Land schlagartig bloßlegte. Ein weiteres Mal wurde ihm klar, dass er nur Hirngespinste umwälzte. Seine Tragik war, dass er nicht anders konnte, als sie umzuwälzen. Er kam dagegen nicht an. Wäre es nur nach ihm gegangen, hätte er sich wie die meisten seiner Kollegen auf eine fette Schutzgelderpressung oder eine andere illegale Tätigkeit verlegt. Davon gab es genug in diesem Land, das die internationalen Organisationen in ihren Korruptionsberichten regelmäßig mit Vergnügen an den Pranger stellten. »Dieuswalwe«, dachte er mit einem Seufzer, »was hättest du verloren, wenn du es so wie die anderen gemacht und dich im Dreck gesuhlt hättest? Deine Seele? Aber wozu braucht man in diesem gottverdammten Land eine Seele? Schließlich haben sie doch alle ihre Seele verkauft. Für einen Moment des kurzlebigen Glücks, bis die Berge auf ihre Villen und ihre Kitschpaläste fallen. Du glaubst, knapp vor der reinigenden Sintflut zwischen der Sonne und dem Nichts, zwischen Feuer und Felsen, zwischen Träumen und Unrat hindurchzusteuern, und träumst unentwegt davon, eines Tages die Kleider des Tieres anzulegen. Überschreite die Grenze, und so wie ihnen wird auch dir das Leid unbekannt sein.« Aber er war nicht fähig dazu, das machte ihn wütend. Manchmal wachte er nachts auf und stellte seine Mutter und seinen Vater zur Rede, die schon lange verstorben waren. Sie waren schuld an seiner elenden Lage. Sie hatten irgendwo in sein Bewusstsein jene Werte eingeschrieben, die veraltet waren, seit die spanischen Menschenausrotter, die Freibeuter und der Bodensatz der damaligen französischen Gesellschaft begonnen hatten, dieses Land mit einem madichon* zu belegen.

Zur Trauer über die unmittelbar bevorstehende Trennung von Mireya kam ein weiterer Schmerz. Auf den Tag genau vor zwei Jahren war Wachtmeister Colin, auch an einem Samstagmorgen, zu ihm gekommen und hatte ihm einen Keulenschlag versetzt, von dem der Inspektor sich noch immer nicht erholt hatte. Zumal er an diesem Morgen große Mühe hatte, sich nicht ständig Vorwürfe zu machen, weil ihm bei seinem Ausflug zu dem bòkò* in diesem verlorenen Nest bei den Stinkenden Quellen* die Sicherungen durchgebrannt waren.

Zwei Jahre lang war der junge Polizist Balsam für die Seele des Inspektors gewesen. Dieuswalwe Azémar schätzte seine Ehrlichkeit, sein Bestreben, stets gute Arbeit zu leisten, und seine gute Erziehung, die auch er seinen Eltern, glühenden Siebenten-Tags-Adventisten, verdankte. Colin trank nicht. Ein einziges Mal hatte Dieuswalwe Azémar gesehen, wie er sich mit ein wenig tranpe die Lippen befeuchtete. Das war auf dem Höhepunkt der Jagd nach dem wahnsinnigen Killer, der seinen Opfern Nägel durch die Hände trieb, nachdem er sie hingerichtet hatte. Sein bisher anstrengendster Fall. Er hatte entdeckt, dass der Mörder sein Lieblingsschriftsteller war. Seitdem versuchte er, die Geschichte zu vergessen. Komischerweise war das Vergessen auch Thema des Romans, der den Schriftsteller wahrscheinlich in den Wahnsinn getrieben hatte.*

Colin aß kein Schweinefleisch, das Lieblingsgericht von Inspektor Azémar, der seinen jungen Untergebenen gern schockierte, indem er sich jeden Tag eine üppige Portion griyo mit frittierten Bananen ins Büro bringen ließ. Einmal war der junge Colin explodiert: »Das ist keine Frage der Religion, Herr Inspektor«, hatte er gesagt. »Es geht um Ihre Gesundheit. Dieses Fleisch ist mit viel zu viel Öl zubereitet, noch dazu mit so schlechtem. Das kann Ihnen unheilbare Schäden zufügen.« Der Inspektor schätzte Colin umso mehr, als er in ihm den Sohn sah, den er gern gehabt hätte. Er fragte sich indessen oft, ob er diesen Sohn nach den Grundsätzen erzogen hätte, die sein Vater und seine Mutter ihm eingepflanzt hatten, jenen Grundsätzen, die ihn zu dem Versager gemacht hatten, über den seine Kollegen hinter seinem Rücken spotteten. Diese Frage machte ihm Angst. Wahrscheinlich war das der Grund, warum er sich nie hatte entschließen können, ein Kind zu zeugen. Mit Mireya war es etwas anderes, dieses Kind hatte ihm das Schicksal geschenkt. Eine Gabe, der er nicht gewachsen war, wie er sich vorwarf.

Als Inspektor Dieuswalwe Azémar an jenem zweiten Samstag im Juni ins Büro gekommen war, hatte er dort Wachtmeister Colin vorgefunden. Normalerweise versäumte der nie den Gottesdienst am Samstagmorgen. Er hatte keinen der nahezu perfekt geschnittenen Anzüge an, die er gern trug, wenn er mit seiner Frau zur Kirche ging, sondern nur Jeans und ein weißes Hemd. Er wirkte nervös.

»Könnte ich Sie sprechen, Herr Inspektor?«

»Wenn Sie nicht in der Messe waren, dann schließe ich daraus, dass Sie mir etwas sehr Wichtiges zu sagen haben, Wachtmeister Colin.«

»Samstags bin ich sicher, dass der Allmächtige mich unterstützt, Herr Inspektor. Ich zögere schon seit einer Woche, aber meine Frau hat darauf bestanden.«

»Ihre Frau?«, wunderte sich Dieuswalwe Azémar.

Er schloss sein Büro auf und bat den Wachtmeister, einzutreten und Platz zu nehmen. Er widerstand der Versuchung, die Flasche tranpe unter dem Schreibtisch hervorzuholen. Der junge Mann schien sich wirklich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen, und er wollte ihm seine Aufgabe erleichtern.

»Sagen Sie mir, wo Sie der Schuh drückt, Wachtmeister Colin.«

Dem Wachtmeister brach der Schweiß aus.

»Inspektor Azémar, Sie wissen, wie sehr ich Sie achte. Ich habe so viel von Ihnen gelernt.«

»Dieser Einstieg verheißt nichts Gutes«, dachte Azémar, spöttisch, obwohl er nicht dazu aufgelegt war.

»Ich arbeite nun schon über ein Jahr mit Ihnen. Nach dem Abschluss der Polizeischule hätte ich keinen anderen Posten finden können, auf dem ich ...«

Er suchte nach dem richtigen Wort.

»... in beruflicher Hinsicht so viel profitiert hätte.«

»Aber ...«

»Meine Frau, Herr Inspektor«, fuhr Wachtmeister Colin entschlossen fort. »In drei Monaten bekommen wir ein Kind. Sie möchte, dass ich mir einen besseren Posten suche.«

»Ich verstehe nicht«, erwiderte der Inspektor und warf sich dabei vor, sich dumm zu stellen. »Egal auf welcher Stelle Sie nun sind, beim Gehalt macht das kaum einen Unterschied.«

Wachtmeister Colin wagte nicht, seinem Vorgesetzten in die Augen zu blicken.

»Ein Onkel von meiner Frau ist bei der Regierung. Dank ihm werde ich in ein anderes Kommissariat versetzt. Ich komme zum persönlichen Sicherheitsdienst eines wichtigen Politikers.«

»Ich verstehe ... Irgendwohin, wo Sie so werden können wie die anderen. Wachtmeister Colin, sind Sie sicher, dass Sie das Richtige tun?«

Wachtmeister Colin stand auf.

»Ich muss die Zukunft meiner Familie absichern, Inspektor Azémar. Vergeben Sie mir. Sie sollen wissen, dass ich die größte Hochachtung vor Ihnen habe.«

»Sie haben immerhin Grundsätze, Wachtmeister Colin«, wandte Inspektor Azémar mit ein wenig Bitterkeit ein.

Colin gelang es endlich, seinem Vorgesetzten direkt in die Augen zu schauen.

»Um die Wahrheit zu sagen, ich möchte nicht so enden ... Herr Inspektor.«

Ohne auf eine Antwort seines Vorgesetzten zu warten, hatte er kehrtgemacht und das Zimmer fluchtartig verlassen. Der Inspektor hatte ihn nicht wiedergesehen. Er wusste nur, dass Colin zweimal befördert worden war. Wie er gehört hatte, lief es für seinen früheren Mitarbeiter gut: ein neues Auto und ein im Bau befindliches Haus in einem bei den Neureichen beliebten Stadtteil. Wachtmeister Colin besuchte weiterhin eifrig die Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten und spendete nun mehr als großzügig bei der Kollekte. Mehr hatte der Inspektor nicht wissen wollen.

* * *

Sein alter Nissan blieb nach kaum einem Kilometer stehen. Zornig rief der Inspektor mit seinem Handy den Mechaniker an und befahl ihm, ein Taxi zu nehmen und zu ihm zu kommen. Es dauerte eine Stunde, bis Willio ankam; der Inspektor musste sich in Geduld fassen. Willio war fünfundsiebzig Jahre alt, wirkte aber wie gerade einmal fünfzig. Er besaß eine Werkstatt und einen Ersatzteilhandel im Stadtteil Les Rails, in dem es zahlreiche Freiluftwerkstätten gab. Es war Willio, der das Auto des Inspektors am Leben hielt, denn es waren keine Ersatzteile für dieses Modell mehr zu bekommen. Die technischen Zauberkunststücke des betagten Mannes machten ihn zu einem der gefragtesten Mechaniker für alte Fahrzeuge. Er machte dem Inspektor immer einen guten Preis, der von diesem dennoch unweigerlich angefochten wurde. Der Mechaniker protestierte nicht. Dieuswalwe Azémar war immerhin ein Chef. Außerdem teilte Willio mit dem Inspektor die Leidenschaft für tranpe.

»Das wird dauern«, verkündete er, nachdem er den Wagen rasch untersucht hatte. »Die Benzinpumpe ist hinüber.«

»Scheiße!«, fluchte der Inspektor und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Er sagte sich, dass er den Alkohol recyceln könnte, den er seit dem Morgen getrunken hatte, wenn er seinen Schweiß ableckte. Er schimpfte auf Wachtmeister Colin. Er schimpfte auf seine Freundin, die gekommen war, um ihn um Hilfe zu bitten, weil ihr Kind bei einem bòkò behandelt wurde. Er schimpfte auf seinen Vater und seine Mutter. Er hätte schon längst den Mut aufbringen sollen, es wie Wachtmeister Colin zu machen. Dieses Land würde immer in der Scheiße stecken, warum sollte er sich also an all diese idiotischen Grundsätze klammern?

»Im Moment kann ich nichts tun; ich kann das Teil nur ausbauen und zur Reparatur in die Werkstatt mitnehmen.«

»Ich muss meine Tochter im Pensionat abholen«, jammerte der Polizist. »In drei Tagen verlässt sie das Land. Heute sehe ich sie vielleicht zum letzten Mal.«

»Gib mir den Schlüssel und nimm ein Taxi«, schlug Willio vor. »Sobald es fertig ist, rufe ich dich an. Es kostet 500 Gourde.«

»500 Gourde?«, protestierte der Inspektor. »Wo soll ich die hernehmen?«

»Dann zahl mir wenigstens das Taxi«, sagte Willio mit einem Seufzer.

Inspektor Azémar reichte dem Mechaniker einen 50-Gourde-Schein.

»Also, hol deine Tochter ab, Inspektor«, sagte Willio.

bòkò