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Ulf Krämer

Rossi

Jörg Roßkopf – Die Biografie

VERLAG DIE WERKSTATT

Copyright © 2012 Verlag Die Werkstatt GmbH

Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagfoto: Dr. Stephan Roscher

Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

ISBN 978-3-89533-867-0

Inhalt

Vorwort

KAPITEL 1

»Mich kann heute keiner schlagen«

Europameisterschaften 1992 in Stuttgart

KAPITEL 2

»Er hat nie irgendeinen Blödsinn gemacht«

Die Jugend

KAPITEL 3

Ein schlafender Riese wird geweckt

Weltmeisterschaften 1989 in Dortmund

KAPITEL 4

Vom Lehrling zum Leader

Erfolge mit Borussia Düsseldorf

KAPITEL 5

Für einen Sportler gibt es nichts Größeres

Die Olympischen Spiele

KAPITEL 6

Die goldene Generation

1989 bis 2000

KAPITEL 7

»Ich bin ein Kämpfer«

Verletzung, Krise, Enttäuschungen

KAPITEL 8

Das Markenzeichen zum Schluss – die krachende Rückhand

Vom Spieler zum Trainer

ANHANG

Sportliche Erfolge und Turnierteilnahmen

Zum Autor

Vorwort

Den ersten Kontakt mit Jörg Roßkopf hatte ich mit der Unterschrift unter einen Sponsor-Vertrag mit dem damals Zehnjährigen, der von seinem Trainer Horst Heckwolf als Talent aus Hessen empfohlen wurde. Er war einer der vielen jungen Tischtennisspieler, die von JOOLA über all die Jahre gefördert wurden und werden.

Dass er der erfolgreichste werden könnte, habe ich offen gesagt nicht vermutet, als ich ihn dann zum ersten Mal persönlich traf. Da war er vielleicht zwölf – ein schlaksig wirkender Junge mit einer etwas merkwürdigen Technik und einer Rückhand, die man so eigentlich nicht spielen durfte. Aufgefallen ist mir nur die Ernsthaftigkeit, ein passenderes Wort fällt mir nicht ein, mit der er damals schon seinen Sport betrieb.

Nicht lange danach war aber abzusehen, dass da einer ist, der einmal ein großer Spieler werden wird. Mit seinen Eltern (denen Jörg sehr viel zu verdanken hat) habe ich dann vereinbart, dass ich mich intensiv um ihren Sohn kümmern werde, sowohl in sportlichen als auch finanziellen Dingen. Sie haben mir vertraut, genau wie Jörg.

Der »Manager« Bachtler war geboren, ein Novum im Tischtennis zur damaligen Zeit – es hat etwas gedauert, bis sich der Verband und die Vereine daran gewöhnt hatten, dass da einer ist, der einzig und allein die Interessen von Jörg im Sinn hat. Den »Manager« stelle ich übrigens deshalb in Anführungszeichen, weil ich diesen Job von Anfang an bis heute sozusagen ehrenamtlich ausgeübt habe.

Beruf: Tischtennisspieler. Das hat der 16-jährige Jörg Roßkopf eingetragen, wenn im Hotel ein Meldebogen auszufüllen war. Und das war er dann auch schon in diesem Alter, als er die Schule beendet hatte und Profi wurde. Ein Wagnis für die Eltern, für mich, der ich dazu geraten hatte, nicht für Jörg – sein Ziel war klar, und er hat es nie aus den Augen verloren: Er wollte einer der besten Tischtennisspieler der Welt werden.

Unzählige Male habe ich Jörg spielen sehen. Es hat mich bei seinem Abschiedsspiel in Hanau, als er gegen Svensson diesen einen Wahnsinnsball abgefeuert hat, genauso gepackt wie in all den Jahren davor – als er gegen Ding Yi in Paris bei seiner ersten EM im Viertelfinale gewann, als er gegen Erik Lindh in Delhi beim denkwürdigen 4:5 gegen Schweden den letzten Satz verlor und wir alle mit den Tränen kämpften, natürlich beim WM-Sieg im Doppel mit Steffen Fetzner, beim sicher dramatischsten Spiel seiner Karriere gegen Kim Taek Soo bei den Olympischen Spielen in Atlanta und und und …

Kein einziges Mal in dieser Zeit habe ich gesehen, dass er die Entscheidung eines Schiedsrichters beanstandet hat oder es irgendeine Diskussion mit einem Gegner gab – nicht nur seine Erfolge, sondern auch das persönliche Auftreten von Jörg hat sicher zu seiner Popularität beigetragen, ihm zu dem Titel »Mister Tischtennis« verholfen.

Aus dem Spieler/Manager-Verhältnis ist eine Freundschaft geworden – ich bin stolz darauf, eine der großen Sportler-Persönlichkeiten Deutschlands meinen Freund zu nennen.

Michael Bachtler,

Geschäftsführer der JOOLA Tischtennis GmbH + Co. KG

KAPITEL 1

»Mich kann heute

keiner schlagen«

Europameisterschaften 1992 in Stuttgart

Ein angenehmer Sommertag im Juli 2011, der Marktplatz in Darmstadt ist um neun Uhr morgens noch kaum belebt. Einige wenige Passanten tummeln sich um den alten Brunnen, an dem ich mit Jörg Roßkopf verabredet bin. Nicht weit entfernt von hier liegt die Heimat des Mannes, der das deutsche Tischtennis verändert hat wie kein Profi vor oder nach ihm.

Ich war noch nie zuvor in dieser hessischen Stadt, und genauso wenig habe ich Roßkopf bis heute persönlich getroffen. Als Kind hat er mir einst ein Autogramm gegeben, doch das ist fast 20 Jahre her. Dennoch erkenne ich ihn sofort. Pünktlich steht er im Schatten der alten Häuserfront gegenüber.

Vor einigen Wochen ist Jörg Roßkopf 42 Jahre geworden. Seine aktive Karriere ist beendet, als Bundestrainer spielt er aber nach wie vor eine entscheidende Rolle im DTTB. Ich freue mich, ihn zu sehen, und auf das bevorstehende Gespräch. Man hat mir in der Vorbereitung viel Positives über ihn erzählt, wie sympathisch und entspannt er doch sei. Ich möchte mir lieber selbst ein Bild machen, versuche, unvoreingenommen zu sein. So will ich auch schreiben, es dem Leser überlassen, sich eine Meinung zu bilden. Doch ich merke schon nach wenigen Minuten: Das wird nicht einfach.

Wir gehen frühstücken. Das Buchprojekt habe ich am Tag zuvor mit Michael Bachtler und meinem Bruder Achim als Ansprechpartner der Firma JOOLA besprochen. Ich stelle unsere Vorstellungen und mein Konzept vor. Dann beginnt Roßkopf zu erzählen. Er ist locker, gut gelaunt und dabei sehr fokussiert. Er weiß ganz genau, was er will und sagt. Ein Markenzeichen seiner Karriere macht sich auch in diesem ersten Gespräch bemerkbar. Jörg Roßkopf ist bei allem, was er anpackt, konzentriert und zielstrebig. Ich bin erleichtert und zugleich von den Worten gebannt. Mag für viele Menschen Tischtennis eine langweilige Randsportart sein, ein Waisenknabe im Vergleich zu Fußball oder Formel 1. Doch was Roßkopf in seiner Karriere geleistet und erlebt hat, ist überragend, und seine Erfahrungen heben sich weit von denen ab, die andere ihr Eigen nennen dürfen. Er ist bereit, sie mit uns zu teilen. Seine Erinnerungen beginnen in Stuttgart, einem der Meilensteine seiner Karriere.

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Die Stimmung in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle könnte an diesem 20. April 1992 nicht besser sein, schwankt irgendwo zwischen Vorfreude und Enthusiasmus. Doch die Zuschauer warten nicht etwa auf einen Auftritt des damals populärsten deutschen Sportlers, Boris Becker. Hier tritt gleich ein junger Mann aus Hessen gegen einen Belgier an. Die Bälle sind kleiner, aber schneller und vor allem werden sie mit viel Rotation gespielt – was es für Laien immer wieder schwer macht, Tischtennis zu verstehen. Heute ist der letzte Tag der Europameisterschaften, nur noch ein Spiel steht auf dem Programm. Traditionell endet die EM mit dem Endspiel im Herreneinzel. Zum ersten Mal nach Erich Arndt 1962 in Berlin steht wieder ein Deutscher im Finale. Arndt musste sich damals Hans Alser aus Schweden geschlagen geben. Nun hat Jörg Roßkopf die Chance, es besser zu machen. Dabei hat alles recht durchwachsen begonnen.

Nachdem Jörg Roßkopfs drei Jahre zuvor in Dortmund an der Seite von Steffen Fetzner Weltmeister im Doppel geworden war, sind 1992 in Stuttgart alle Augen auf den neuen Vorzeigesportler in Tischtennis-Deutschland gerichtet. Mit einem solchen Erfolg im Rücken steigen die Erwartungen: sowohl beim Publikum, das zum zweiten Mal in kürzester Zeit ein Großevent vor der Haustür hat, als auch bei den Sponsoren und vor allem dem Verband. Natürlich sind auch die Ansprüche von Roßkopf selbst sowie bei seinen Vertrauten gestiegen. Jedes Jahr zu Saisonbeginn trifft er sich mit Michael Bachtler und dem Teamcoach der Nationalmannschaft Zlatko Cordas, um die Aussichten für das kommende Jahr zu formulieren. In einem Protokoll des Gesprächs von 1991 steht als Ziel für 1992 unter anderem der Gewinn der Europameisterschaft im Einzel sowie im Doppel vermerkt. In der Mannschaft ist mindestens das Finale anvisiert. Ehrgeiziger geht es nicht, denn gegen die Topfavoriten aus Schweden – angetreten mit dem Superstar der Szene Jan-Ove Waldner, dem aktuellen Weltmeister Jörgen Persson und Einzel-Titelverteidiger Mikael Appelgren – muss wirklich alles zusammenkommen, um überhaupt eine Chance zu haben.

Doch schon in der Gruppenphase verliert das deutsche Team überraschend deutlich gegen Frankreich. Auch Roßkopf muss beide Spiele abgeben. So trifft man als Gruppenzweiter bereits im Halbfinale auf die großen Schweden, denen man sich erst im Finale hatte stellen wollen. Trotz der klaren Außenseiterrolle hat Roßkopf mit seinen Teamkollegen Steffen Fetzner, Peter Franz, Torben Wosik und Georg Böhm die Sensation im Hinterkopf. Doch der Brocken ist zu groß. Bis auf das Doppel gehen die Spiele ziemlich klar an die Schweden. Immerhin gelingt im Spiel um Platz drei die Revanche gegen ersatzgeschwächte Franzosen. Dass man das Finale verpasste, ist dennoch eine kleine Enttäuschung, der bald die nächste und wesentlich größere folgen sollte.

Natürlich ruhen die Hoffnungen vor allem auf dem Weltmeister-Doppel von 1989, Roßkopf und Fetzner. Nach Dortmund könnte in Stuttgart ein weiterer Titel vor heimischem Publikum gewonnen werden. Die Ernüchterung kommt bereits im Viertelfinale, in dem die beiden überraschend deutlich mit 12:21 und 18:21 den Jugoslawen Slobodan Grujic und Ilja Lupulesku unterliegen. Der Titel geht am Ende mit den Siegern Jörgen Persson und Erik Lindh erneut an Schweden. Das Scheitern der beiden deutschen WM-Helden ist eine herbe Enttäuschung. Zumindest der Einzug ins Halbfinale war von den meisten erwartet worden. Die Veranstaltung scheint nicht mehr zu retten, denn die letzte Chance ist nun das Einzel. Doch dort sind andere die Favoriten.

Um das junge deutsche Team vor dem Trubel in Stuttgart zu schützen, ist die Mannschaft außerhalb der Stadt einquartiert. In die Schleyerhalle fährt man nur für die Spiele oder zum Training. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist groß in diesen Tagen, die Fans reisen aus ganz Deutschland an, um das europäische Tischtennis auf dem Zenit seiner Leistungsstärke zu bewundern. Jörg Roßkopf empfindet es heute als Privileg, dass er solche Spiele in Deutschland erleben konnte – an einem Tisch vor 8.000 oder 10.000 gefesselten Zuschauern, die ihre Emotionen, positive wie negative, lautstark kundtun. Roßkopf weiß um seine damalige Stärke zuhause. Er hat in Deutschland immer gut gespielt. Vor allem die Gegner kennen das. Die immer wiederkehrende Anfeuerung: »Auf geht’s, Rossi, auf geht’s«, nervte, wie ihm einige hinter den Kulissen verrieten. Viele Spieler sind vor eigenem Publikum nervös und lassen sich zusätzlich unter Druck setzen, doch Roßkopf fühlt sich zuhause besonders motiviert. »Er hat immer viel von seinen Fans profitiert und in Deutschland oft gut gespielt«, erinnert sich Jörgen Persson.

Auch außerhalb der Heimat wird Roßkopf längst als einer der besten Tischtennisspieler der Welt geschätzt. Wegen seiner Heimstärke haben ihn gerade bei einer Europameisterschaft im eigenen Land viele auf dem Zettel. Es hat sich herumgesprochen, dass er in Deutschland nur schwer zu schlagen ist. Dennoch spricht nach der Auslosung nicht viel für ihn. Favoritensiege vorausgesetzt, wartet im Achtelfinale der Tscheche Petr Korbel, gegen den Roßkopf während seiner gesamten Karriere nie gern gespielt und nur selten gewonnen hat. Im Viertelfinale würde er auf einen weiteren Angstgegner treffen, Mikael Appelgren, und im Halbfinale auf niemand anderen als Topfavorit Jan-Ove Waldner. Schlechter hätte es kaum kommen können. Doch bevor er sich mit den Schweden messen kann, muss erst einmal Petr Korbel bezwungen werden, und das ist schwer genug.

Die ersten beiden Sätze gehen mit 10:21 und 15:21 klar verloren, und Roßkopf steht in dem Best-of-five-Match früh mit dem Rücken zur Wand. Mit einem Ausscheiden wäre die Pleite des Teams komplett, denn alle anderen deutschen Akteure haben sich schon vor der Runde der letzten sechzehn verabschiedet. Doch Jörg Roßkopfs Einstellung ist geprägt von Willen und Ehrgeiz. Auch bei einem Rückstand von 0:2-Sätzen weiß er, dass er noch lange nicht geschlagen ist – erst recht nicht in Deutschland. Was beinahe pathetisch klingt, ist ganz nüchtern die Ausgangslage. Auch seine Gegner wissen um die mentale Stärke Roßkopfs, seinen Kampfgeist und seine Beharrlichkeit. Erst muss der Matchball verwandelt werden gegen diesen Mann, vorher ist das Spiel niemals gewonnen. »Das war so ein bisschen wie dieses Zitat von Gary Lineker«, vergleicht Roßkopf heute. »22 Mann verfolgen einen Ball und am Ende gewinnen immer die Deutschen. So hat sich das für einige angefühlt, wenn sie gegen mich gespielt haben.« Und Roßkopf kämpft. Er dreht das Spiel tatsächlich und gewinnt den fünften Satz schließlich sicher mit 21:14. Das Viertelfinale ist erreicht, und nicht nur das.

Der Europameister von 1988 und 1990, Mikael Appelgren, ist raus! Stattdessen steht der englische Abwehrspieler Chen Xinhua im Viertelfinale. Das Spielsystem des gebürtigen Chinesen hat Jörg Roßkopf immer gelegen, und der klare 3:0-Sieg überrascht keinen. Anders läuft das zweite Viertelfinale zwischen Jan-Ove Waldner und dem Kroaten Zoran Primorac. In einem spannenden Spiel gelingt dem Kroaten eine kleine Sensation, denn er räumt den großen Favoriten in fünf Sätzen aus dem Weg. Keiner der großen Schweden, die seit 1982 alle Europameister gestellt haben, hat also das Halbfinale erreicht. Stattdessen finden sich dort ein Pole, ein Belgier, ein Kroate und ein Deutscher – ein Indiz für die ungeheure Dichte von Weltklassespielern in Europa in den neunziger Jahren. Den Sieger einer Europameisterschaft zu tippen, war damals ein riskantes Geschäft. Selbst ein überragendes Talent wie Jan-Ove Waldner gelang nur 1996 der Triumph bei einer EM. Das machte den Reiz der großen Turniere aus. Die Spieler kannten sich gut, wussten um ihre Stärken und Schwächen und trieben sich aufgrund des hohen Konkurrenzkampfes zu immer stärkeren Leistungen an.

Die Ausgangslage für Roßkopf ist nach dem Viertelfinale plötzlich eine ganz andere. Statt Waldner wartet Primorac und das lässt die Erwartungen steigen, denn von den vier Halbfinalisten hat noch keiner einen großen Titel geholt. Wieso also nicht Roßkopf? Womöglich hätte man seine Chancen anders eingeschätzt, hätte die Öffentlichkeit von seiner Verletzung gewusst. Eine Zerrung im Arm behindert ihn, zwischenzeitlich muss er das Training aussetzen. Doch davon haben nur die medizinische Abteilung und der Trainerstab Kenntnis. Er möchte keine Entschuldigungen für die Niederlagen in der Mannschaft und im Doppel suchen. Außerdem ist Tischtennis Kopfsache. Seine Gegner sollen nicht von seiner kleinen Schwäche wissen, schon gar nicht gegen Ende des Turniers. Er steht im Halbfinale. So eine Chance will er sich nicht nehmen lassen oder sie durch zu viel Gerede über ein eventuelles Handicap schmälern.

Das Spiel gegen Primorac verläuft ähnlich wie das Achtelfinale. Zwar gewinnt Roßkopf den ersten Satz, doch die nächsten beiden Durchgänge gehen verloren. Er ist so nah dran am Einzug ins Finale bei seiner Heim-EM, aber Primorac wirkt in dieser Phase des Spiels überlegen. Trotz des frenetischen Engagements des Publikums gelingt es dem Kroaten immer wieder, das druckvolle Spiel Roßkopfs zu kontern. Bei 14:14 scheint alles ausgeglichen, doch die nächsten drei Punkte gehen an Zoki, wie ihn die Kollegen nennen. 1:2 nach Sätzen und 14:17 bei Aufschlag Primorac. Auf den Rängen macht sich Sorge breit, der Traum vom deutschen Europameister könnte platzen. Am Ende stünden ein dritter Platz in der Mannschaft sowie im Einzel. Nach den gestiegenen Erwartungen der letzten Jahre zu wenig für eine Europameisterschaft im eigenen Land.

Doch daran denkt Roßkopf in diesem Moment nicht. Was interessieren ihn die vergangenen Tage? Das Spiel hier und jetzt zählt, und um das wird er bis zum letzten Ballwechsel kämpfen. »Primorac wusste, dass die letzten Punkte für ihn die schwersten werden würden«, sagt Roßkopf rückblickend. Getrieben von den Fans kommt er zurück, führt 20:18. Mit einer harten Rückhand, einem so typischen Schlag für ihn, holt er sich den Satz. Der Vorteil liegt nun klar auf seiner Seite, und er nutzt ihn. Zwar gestaltet Primorac das Spiel noch lange offen, doch er kann Roßkopf nicht mehr halten. Der Deutsche zieht mit 21:16 ins Finale von Stuttgart. Mit diesem Spiel ist die EM plötzlich ein riesiger Erfolg – schon jetzt. Die nicht immer idealen Leistungen der Doppelkonkurrenz und des Mannschaftswettbewerbs interessieren nur noch wenige. So schnell geht das im Sport. Siege ersticken jede Kritik.

Tischtennis hatte sich in den Jahren zuvor verändert, erlebte einen wahren Boom. Roßkopf ist der Vorreiter in Deutschland. Auf ihn projizieren sich die Erwartungen von Verband, Sponsoren und Zuschauern. Der Europameistertitel wäre für alle die Krönung der vergangenen fetten Jahre und Aussicht auf mehr. Der Aufwärtstrend soll fortgesetzt werden, obwohl einige bereits ahnen, dass es nicht einfach wird, den Hype von 1989 am Leben zu halten. Für Roßkopf ist das alles im Moment nebensächlich. Vor dem bisher größten Einzel seiner Karriere denkt er nicht an Verband, Sponsoren und Verträge. Ihn treiben sein Ehrgeiz und der Hunger auf diesen Titel.

Die Vorbereitung auf das Spiel der Spiele läuft ab wie immer, ist längst ein festes Ritual, das Roßkopf auch vor einem Finale nicht verändert. Anfahrt vom Hotel zur Halle, Beläge kleben und einspielen. »Wichtig sind die vertrauten Leute in der Nähe sowie ein bisschen Ruhe vor dem Spiel«, sagt er. Nach der letzten taktischen Absprache mit den Trainern klebt Roßkopf noch einmal seine Beläge, wärmt sich auf, um auf Betriebstemperatur zu kommen, und wirft einen kurzen Blick in die Halle. So holt er sich einen ersten Eindruck, versucht, die Stimmung aufzunehmen. Alle freuen sich auf das Traumfinale mit ihrem Star Jörg Roßkopf. Er kennt inzwischen die Situation, vor mehreren tausend Anhängern zu spielen. Doch vor einem Spiel baut er eine innere Distanz auf, will die Emotionen nicht zu nah an sich herankommen lassen. Das ist wichtig, um die Kontrolle zu behalten, vor allem in negativen Momenten. Er hat in wichtigen Spielen nie seinen Schläger vor Frust gegen den Tisch geschlagen, nie laut seiner Wut Luft gemacht. Das hätte der Gegner als Schwäche interpre tieren können. Sobald jemand merkt, dass man verängstigt ist, womöglich der Druck überhand nimmt, wird das Spiel unermesslich schwer. Roßkopf will dem Mann auf der anderen Seite in die Augen schauen und dabei seine Stärke demonstrieren. »Ich habe oft die Gegner zwischen den Ballwechseln beobachtet und nach Hinweisen auf Verunsicherung gesucht«, sagt er heute. »Ich selbst habe nie Angst vor einem Spiel gehabt.«

So ist es auch vor seinem bisher größten Duell, der Chance auf einen großen Titel im Einzel. Der Gedanke, was nach einer möglichen Niederlage passieren und in den Zeitungen stehen könnte, ist ihm während seiner Karriere nie gekommen. Er spielt nicht um gute Schlagzeilen, für die Statistik oder um große Popularität. Das alles ist eine Folge, die Siege mit sich bringen, aber nicht Triebfeder seines Spiels. Roßkopf möchte das Maximum aus seinen Möglichkeiten machen, das ist sein Ehrgeiz. Sollte ihn dennoch ein Gegner schlagen, kann Roßkopf mit gutem Gewissen die bessere Leistung des anderen anerkennen – so wie er es wenige Monate später bei den Olympischen Spielen in Barcelona erleben sollte.

Vor dem Finale von Stuttgart ist eine Niederlage keine Variante in Roßkopfs Gedanken. »Ich wusste, dass mich heute niemand schlagen würde«, erinnert sich. »Das habe ich gespürt.« Form und Selbstvertrauen stimmen, die Zuschauer stehen voll hinter ihm. Nach den schweren Aufgaben gegen Korbel und Primorac geht er zum ersten Mal mit der festen Überzeugung ins Spiel, nur als Sieger den Tisch wieder zu verlassen. Alle Krisen der letzten Tage mit Verletzung, Problemen in den Mannschaftswettbewerben und dem enttäuschenden Aus im Doppel sind vergessen.

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Als Jörg Roßkopf die Halle betritt, ist er schon im Tunnel. Was rechts und links um ihn herum geschieht, nimmt er kaum wahr. Nur das Spiel ist präsent. Sein Jugendfreund Dietmar Günther ist mit vielen anderen aus der alten Heimat nach Stuttgart gereist und sitzt auf der Tribüne. Er klatscht Roßkopf beim Einzug in die Halle sogar noch ab. »Der hat gar nichts mehr mitbekommen«, bemerkt Günther. Tatsächlich weiß Roßkopf nach dem Spiel nichts von der Aufmunterung seines Freundes. Weder bekannte Gesichter noch seine Freundin Sabine, die spätere Ehefrau, dringen zu ihm durch.

Die Euphorie der Zuschauer und das Auftreten Roßkopfs können auch an Jean-Michel Saive nicht vorbeigegangen sein. Die Atmosphäre in der Halle ist berauschend. Wie schwer muss es sein, gegen 10.000 Fans zu spielen? Der Belgier ahnt, wie hart es wird, da ist sich Roßkopf sicher. Natürlich hat er Respekt vor Saive, der auf dem Weg durchs Turnier Männer wie Kalinikos Kreanga, Jean-Philippe Gatien und im Halbfinale klar und deutlich den Polen Andrzej Grubba geschlagen hat. Doch das alles ist nicht entscheidend. »Mich kann heute keiner schlagen.« Immer wieder schießt Roßkopf dieser Gedanke durch den Kopf. Er will diesen Titel, und er wird ihn sich heute nicht mehr nehmen lassen.

Der erste Satz geht mit 21:16 an Roßkopf, den zweiten muss er mit 18:21 abgeben, fühlt sich dennoch zu stark, als dass er noch gefährdet werden könnte. Der verwandelte Satzball im dritten zum 21:13 versetzt die Halle endgültig in Ekstase. Die Welle läuft über die Ränge, es gibt kein Halten mehr. Im Rückblick wirkt es beinahe übertrieben, als Aneinanderreihung von Superlativen, doch es ist wirklich so. Was in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle abgeht, ist unglaublich. Teamcoach Zlatko Cordas und Jörg Roßkopf beratschlagen sich kurz. Ob Rossi bei dem Lärm von den Rängen noch etwas aufnimmt, lässt sich nicht sagen. In der Regel kann er die taktischen Ansprachen zwischen den Sätzen gut filtern. »Nicht alles, was die Trainer sagten, war immer umzusetzen«, erinnert er sich. »Ich konnte aber immer ganz gut einordnen, was mir hilft und was weniger.« Die Bank im Rücken ist ihm wichtig, auch wenn er nicht jede taktische Anweisung berücksichtig oder wahrnimmt. Doch er bedarf der Anfeuerung sowie der Gewissheit, jemanden zu haben, der hilft, wenn es mal nicht mehr laufen sollte. Zlatko Cordas pusht ihn, wenn es notwendig ist, bleibt ruhig, wenn es zu hektisch wird. Doch in diesem Spiel bleibt nicht mehr viel zu tun für ihn. Die Lawine ist längst ins Rollen gekommen.

Vierter Satz, 0:0. Roßkopf schlägt auf. Saive retourniert ins Netz. Die Menge brüllt vor Freude. Es ist ein Irrenhaus. Roßkopfs Körpersprache sagt alles. Zwischen den Ballwechseln tänzelt er durch die Box, ist immer in Bewegung. Auf den Rängen sitzt auch kaum noch jemand. Die meisten anderen Topspieler sitzen ebenfalls im Publikum. Viele von ihnen mussten ihre Hoffnungen auf den Titel gegen einen der beiden Finalisten begraben.

Der vierte Satz ist zuerst offen. Saive gilt nicht umsonst wie Roßkopf als großer Kämpfer. Ein EM-Finale schreibt er nicht einfach ab, nur weil zu diesem Zeitpunkt schon vieles gegen ihn spricht. Aus einem 6:6 macht Roßkopf ein 9:6. So geht es weiter. Nach dem Punkt zum 14:9 muss Saive einmal tief durchatmen, während Rossi die Faust ballt. Langsam wird es eng für den Belgier. Er kommt auf 14:11 heran, dann schlägt Roßkopf einmal mehr mit einer harten Rückhand zu. Er führt mit vier Punkten. Der nächste Ballwechsel scheint schnell an Saive zu gehen, doch Roßkopf zeigt an, der Ball habe beim Aufschlag das Netz berührt. Die Schiedsrichter haben nichts gesehen, doch der Punkt wird ohne Proteste sofort wiederholt. So ist das im Tischtennis. Auch in einem großen Finale bleibt es fair.

Bei 17:13 serviert Roßkopf. Das Publikum begleitet jeden Punktgewinn mit einem Aufschrei. 18:13, 19:13 und wieder einer dieser wahnsinnigen Rückhandbälle von Roßkopf. Matchball! Auf der Bank wird schon gejubelt, werden Fäuste nach oben gestreckt. Roßkopf schaut vor seinem letzten Aufschlag noch einmal konzentriert auf den Ball. Der Ablauf ist tausendfach geübt und automatisiert, doch noch nie zuvor hat Rossi zum Gewinn der Europameisterschaft serviert. Vorhand parallel, und Roßkopf fällt zu Boden, macht eine Rolle rückwärts und bleibt einige Sekunden am Boden liegen. Der Hallensprecher sagt die Worte: »Der Sieger der Europameisterschaften 1992 – Jörg Roßkopf.«

Ob Rossi das da auf dem Boden liegend realisiert? Klaus Schmittinger hilft ihm auf. Handshake mit Saive, dann gratulieren Zlatko Cordas und Steffen Fetzner. Was geht in Roßkopf vor? Er weiß es heute selbst nicht mehr genau. Kaum hat er den Matchball verwandelt, steht auch schon jemand mit einem Mikrofon vor ihm. Er soll ein paar Worte sagen. Sein erster Dank geht an das Publikum – natürlich. Die machen einen unglaublichen Krawall auf der Tribüne. Danach folgt der Marathon der Glückwünsche und Umarmungen. Roßkopf hat kaum Gelegenheit durchzuatmen. Das Bewusstsein, etwas Außergewöhnliches erreicht zu haben, kommt ihm erst auf dem Treppchen bei der Siegerehrung – während der Nationalhymne mit dem extrem kleinen Siegerpokal in der Hand. Im Publikum erkennt er Freunde und Bekannte aus seinem Heimatverein der DJK Blau-Weiß Münster, die mit dem Bus zum Finaltag nach Stuttgart gekommen sind. Unter ihnen ist auch Dietmar Günther, den er vor dem Spiel nicht wahrgenommen hat. Erst jetzt mit dem Pokal in der Hand fällt der Druck ab, wird der Blick wieder klar, dringt die Gewissheit durch, tatsächlich Europameister zu sein. Kein Waldner, kein Persson, kein Grubba, sondern der damals 22-jährige Jörg Roßkopf.

Erst die EM im eigenen Land ist trotz der vorherigen Erfolge der endgültige Durchbruch für Roßkopf als Spitzenspieler im Einzel. Zum einen ist der Respekt der Tischtenniselite vor dem Hessen enorm gewachsen. Jedem ist nun bewusst, wie schwer es ist, Jörg Roßkopf zu schlagen, wie groß sein Siegeswille ist, sein Ehrgeiz und seine enorm zielgerichtete Einstellung. Sein Ansehen ist so groß wie nie, und auch das deutsche Tischtennis gewinnt mit Roßkopfs Erfolgen zunehmend an Stellenwert – zum ersten Mal seit den Zeiten eines Eberhard Schöler. Zum anderen bringt der Erfolg Roßkopf die persönliche Erkenntnis, die Großen der Szene auch auf einer Bühne wie der Europameisterschaft schlagen zu können. Das ist für das Selbstbewusstsein enorm wichtig, vor allem in einem Sport, bei dem es meist nur um Nuancen, um Millimeter geht und mentale Stärke oft über Sieg und Niederlage entscheidet.

Mit dem EM-Titel ist Roßkopfs Hunger nach Erfolgen nicht etwa gestillt, sondern erst geweckt, wie er kurz nach den Europameisterschaften bei den Olympischen Spielen beweisen sollte. Der Linkshänder ist mit seinem aggressiven Offensivspiel, geprägt von starken Vorhand- wie Rückhandtopspins, einer der Vertreter einer neuen Generation europäischer Spitzenspieler. Roßkopfs Wille, seine Arbeitseinstellung und Professionalität, der kraftvolle Spielstil und die herausragende Rückhand – gern als Peitsche bezeichnet – sollten zu seinen Markenzeichen werden und ihm eine führende Rolle im Welttischtennis in den kommenden 15 Jahren garantieren.

KAPITEL 2

»Er hat nie irgendeinen

Blödsinn gemacht«

Die Jugend

»Ich war in meiner Jugend so gut wie nie verletzt, habe früh Erfolge feiern können, es ging stetig bergauf«, erzählt mir Jörg Roßkopf am Telefon. »Klar kam auch die eine oder andere Niederlage, die wehgetan hat, aber für mich war das nur Anreiz, weiterzuarbeiten.«

Dann klingelt es bei mir an der Tür, mein Hund springt auf und bellt wie ein Verrückter.

»Herr Rossi, halt die Klappe«, rufe ich und stutze. Am anderen Ende der Leitung verstummt auch Roßkopf. Nur mein Hund kläfft ungerührt weiter.

»Ich meine nicht dich«, sage ich, »mein Hund heißt Herr Rossi.«

Roßkopf lacht. »Herr Rossi sucht das Glück, verstehe«, sagt er.