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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2015

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ISBN Printausgabe 978-3-499-63080-4 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-54811-4

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-54811-4

Für Mama und meine Familie

Prolog

Ich möchte Ihnen kurz meine Familie vorstellen, damit Sie wissen, mit wem Sie es auf den nächsten Seiten zu tun bekommen. Meinen Vater Christos und meine Mutter Chrissoula, die seit ihrer Geburt am Fuße des Olymps schlicht und einfach Chrissi genannt wird. Ihren Nachnamen verwendet sie am liebsten in der dritten Person. Deshalb ist die Anrede für alle, die ihre Aufmerksamkeit erregen möchten, gleich, egal ob Briefträger oder Bundespräsident: Hallo, Chrissi – wie geht es? Alles ist natürlich gut, egal wie schlecht es ihr in Wahrheit auch gehen mag, und zur Begrüßung schenkt sie allen ein warmes Lächeln. Gejammert wird über die griechische Tragödie erst hinter verschlossener Tür. Mein kleiner Bruder Iannis kann davon ein Lied singen, genauer: eine Ballade. Immerhin war er mit Anfang 30 aber doch alt genug, das Elternhaus zu verlassen und die gefährliche Welt alleine zu erkunden. Natürlich immer mit einer Tupperdose Frikadellen von Chrissi im Gepäck und einem Satz frischgebügelter Wäsche im Kofferraum. Und dann gibt es da noch meinen großen Bruder, geboren mit einer schweren Hypothek. Wie kann man seinen Sohn nur auf den Namen Charalambos taufen, wenn man ihn nördlich von Mazedonien aufziehen will? Die Folge dessen ist der Spitzname Chari, der seit seinem ersten Besuch im Kindergarten von Harburg an ihm klebt und immer wie Harry klingt. Bis heute kann in Deutschland keiner seinen Namen richtig aussprechen, außer der Verwandtschaft. Aber das ist ja immerhin ein Personenkreis von fast 100 liebenswerten Dickköpfen, die das Erbe der griechischen Demokratie verwalten. Meistens im Schlaf, wie ich mir seit der Schuldenkrise immer wieder anhören muss. Wir sind also das, was man in Forschungskreisen eine Familie mit Migrationshintergrund nennt. MH. Früher waren wir nur die griechische Familie Zervakis. Nicht mehr und nicht weniger. Als meine Eltern in den 1960er Jahren nach Deutschland kamen, hatten sie nichts, aber trotzdem immer etwas zu lachen. Der Dreisatz der Immigration lautete damals Koffer, Kühlschrank, Knoblauch – inzwischen haben die Gastarbeiter, als die sie noch immer abgestempelt werden, den Inhalt ihrer Taschen aber immerhin in eine Schrankwand aus Eichenfurnier geräumt. Die Sachen werden höchstens noch für einen Urlaub in der Heimat gepackt, dabei war Deutschland eigentlich nur als Ausflugsziel zum Überleben gedacht. Als Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Süden haben wir uns inzwischen auch an den Kühlschrank im Norden gewöhnt – ein Ouzo im Eisfach kann an dunklen Wintertagen ja auch trösten. Und was den Knoblauch angeht: Der hat sich ja nun wie Unkraut verbreitet und wird von Schuhbeck und Lafer so selbstverständlich in den Schweinebraten gesteckt, als hätte schon vor unserer Einwanderung nichts anderes auf der Speisekarte im Wirtshaus zum Spessart gestanden. Das Essen kann aber nicht wirklich die Motivation für einen stolzen Griechen wie meinen Papa gewesen sein, nach Deutschland zu kommen. Einen Teller seiner Leibspeise Stifado gegen Erbseneintopf mit Bockwurst eintauschen? Niemals! Das in der Sonne glitzernde Wasser der Ägäis freiwillig aufzugeben für einen Strandspaziergang am Steinhuder Meer im Regen klingt auch nicht nach einem verlockenden Tausch.

 

Eine Vision sieht anders aus, doch der junge Christos hatte keine andere Wahl und packte den Schwarz-Weiß-Klassiker in seinen Koffer: zwei schwarze Bundfaltenhosen, zwei weiße Hemden und zwei Fotos. Das eine war ein großes Familienfoto von seiner Hochzeit in Thessaloniki. Das andere Bild war ihm eher peinlich, trotzdem versteckte er es zwischen den Unterhemden. Christos posierte darauf zusammen mit seinen besten Schulfreunden an der Strandpromenade wie die griechische Fußballnationalmannschaft nach dem Sieg in der Europameisterschaft. Dabei hatten seine Jungs gar keinen Pokal zu präsentieren. Im Gegenteil. Im Spiel des Lebens waren sie irgendwie schon viel zu früh ausgeschieden und durften sich jetzt über den Titel der verlorenen Generation freuen. Letzte Ausfahrt Quakenbrück. Mit einem unguten Gefühl klappte er den Koffer zu, nachdem sein Chef Stefanos ihn eines Tages nach Hause geschickt hatte. Nix mehr zu tun. Dabei hatte er sich eigentlich ganz gut dabei angestellt, verrostete Bleche auszuschneiden und wieder einzusetzen. Die alten Autos aus Frankreich, Italien oder Deutschland landeten durch sein Eingreifen erst ein paar Jahre später auf dem Schrottplatz am Stadtrand von Thessaloniki. Kein Traumjob, aber doch ein Job zum Träumen. Nach Feierabend ging er in der warmen Abendsonne immer zu Fuß nach Hause. In den Olivenhainen probten die Grillen vergeblich eine neue Melodie, die sich bei genauem Zuhören nicht wirklich von der vom Vortag unterschied. Trotzdem bekam mein Papa noch Jahre später Heimweh, wenn er ein Geräusch hörte, das ihn an das ohrenbetäubende Zirpen erinnerte, beispielsweise durch den Fehlalarm am Haupttor der Fahrradfabrik in Quakenbrück oder später durch das eintönige Quietschen der aneinanderstoßenden Reifen bei Phoenix in Harburg. Bei seinem Knochenjob am Fließband war es ähnlich heiß wie im Hochsommer im griechischen Hinterland. Wenn Christos aber den üblen Geruch von verbranntem Gummi durch die Vorstellung von intensiv duftenden Kiefernwäldern und Zypressen ersetzte, waren sie am Ende der Nachtschicht wieder da, die Bilder vom Feierabend in Griechenland. Katzen und Hunde huschten über die Landstraße, wenn ein vollbeladener Orangenlaster quietschend um die Ecke bog und den Staub der Straße aufwirbelte. Mit etwas Glück fiel in einer Kurve auch Obst aus den Kisten. Die Melonen platzten zwar sofort auf, aber umso einfacher waren sie auch ohne Messer zu essen. Während Christos sich voller Vorfreude auf das Abendessen mit der Großfamilie am Straßenrand manchmal eine reife Feige pflückte, stellte er sich beim Biss in die süße Frucht vor, wie er sich eines Tages ein Auto leisten können würde. Keinen klapprigen, verrosteten Laster, sondern einen glänzenden Sportwagen.

In seinem Kopfkino lief dabei ein Film ab, den er vor ein paar Monaten im Freiluftkino im Nachbardorf gesehen hatte. Dort wurden einmal im Monat alle Stühle auf dem Dorfplatz zusammengestellt und ein amerikanischer Spielfilm mit einem laut ratternden Projektor auf eine weiße Mauer projiziert. In Christos’ Tagtraum spielte er die Hauptrolle natürlich gleich selbst und saß am Steuer eines schwarzen Buick. Das weiße Hemd leicht aufgeknöpft, in der Sonne glänzte das Kreuz an seiner Halskette. Der Arm hing lässig aus dem offenen Fenster und trommelte im Takt zur Musik von Mikis Theodorakis aus dem Autoradio. Auf dem Beifahrersitz saß Chrissi, seine Frau, mit Kopftuch und Sonnenbrille, mindestens so elegant wie Jackie Onassis. Und auf der Rückbank spielten die Kinder, die sie haben würden, mit Melonenschalen Schiffeversenken. Auf dem letzten Heimweg von der Werkstatt war der Traum vom sorglosen Leben einer griechischen Kleinfamilie aber geplatzt wie die vom Laster knallenden Melonen und Papa seinen Job los. Um überhaupt eine Familie ernähren zu können, entschied er sich, ein großes Risiko einzugehen, und lief vorsichtig über die Schmalspurschienen am Bahnhof von Thessaloniki. Anders als in Deutschland gab es hier keinen Wald von Verbotsschildern, die ihn am Überqueren der Gleise hätten hindern können. Wozu auch: Bei einer gefühlten Höchstgeschwindigkeit von maximal fünf Stundenkilometern auf der Strecke von Athen nach Thessaloniki konnte man, ohne in Panik zu geraten, vor der einfahrenden Lokomotive den Bahnsteig wechseln, notfalls noch hinfallen, einen Purzelbaum schlagen und sich anschließend die Schuhe binden. Kein Ort also, um sich vor den Zug zu werfen und das Leben zu beenden. Trotzdem zitterte Christos am ganzen Körper. Am Horizont sah er im Schneckentempo die Rücklichter des Eurocity verschwinden. Er liebte diese dunkelblauen Waggons. Vor allem die weißen Kopfbezüge aus Stoff in der ersten Klasse konnte er sich ewig anschauen, während der Zug an ihm vorbeidonnerte. Schon als Kind hatte er die Eleganz der Fahrgäste bewundert, die mit ihren sauberen weißen Hemden und frischpolierten Schuhen auf ihren braunen Koffern in der Sonne sitzend am Bahnsteig warteten. Die Freude auf das Abenteuer war den jungen Griechen anzusehen. Er beneidete sie. Die Tränen der zurückgelassenen Partner und die Verzweiflung der Angehörigen hingegen fürchtete er. Es war Zeit für die wichtigste Entscheidung seines Lebens.

 

Mit weichen Knien setzte er sich auf eine staubige Holzbank und dachte über das einfache Leben in der Heimat nach, das für ihn in den letzten Monaten von Tag zu Tag schwerer zu ertragen gewesen war. Die fehlende Perspektive hierzulande und die Entscheidung über einen Neuanfang andernorts nahmen ihm die Luft zum Atmen. Wohin sollte er nur gehen? Tickets nach Amerika oder England waren viel zu teuer. Eine Bewerbung im Hotel Europa in Genf war erst gar nicht beantwortet worden. Christos hatte mal davon geträumt, eine eigene Werkstatt in Wien zu eröffnen. Dort studierten zwei seiner Cousins Medizin und schwärmten bei ihren Heimatbesuchen von Abenteuern im Wohnheim. Vielleicht würden sie ihn ja auch mal mitnehmen auf eine Party im Schwesternwohnheim! Plötzlich würde dort der Strom ausfallen und das Licht ausgehen und dann … In diesem Moment sprang das Signal von Rot auf Grün, und der lähmende Schmerz, der ihn auf die Bank gedrückt hatte, war plötzlich weg. Christos stand auf und hatte den Impuls, den starken Griechen, die im nächsten Zug sitzen würden, einfach hinterherzulaufen. Notfalls auch barfuß, bis eine blonde Wiener Krankenschwester ihn in die Arme nahm. Er zog die Schuhe aus und versuchte, im warmen Sand einen Walzer mit seiner imaginären Pflegekraft zu tanzen. Weil die Drehung ihn immer wieder aus dem Tritt brachte, übernahm irgendwann er die Führung und hatte die Wienerin in null Komma nix in einen seiner berühmt-berüchtigten Sirtaki-Tänze verwickelt. Nur ein Traum, der ihn hin und wieder heimlich einholte. Denn vor der Hochzeit mit Chrissi war er von seinen Eltern nie gefragt worden, ob ihm die Auserwählte überhaupt gefiele. Aber die Sehnsucht nach dieser Fahrkarte wurde auch in der Realität immer größer, was für ein Ziel auch immer aufgedruckt wäre. Dortmund, Düsseldorf oder Groß Gerau. Die Orte klangen nach Hoffnung, nach Leben, nach Wohlstand. Sollten die anderen doch auf den Trauerzug warten und sich selbst bemitleiden. Für Christos war jetzt der Weg frei, sich und seiner zukünftigen Familie ein neues Leben zu ermöglichen.

 

Auch Chrissis Träume fanden ihren Ausgangspunkt oft auf einer Bank am Abendbrottisch, der liebevoll, aber karg gedeckt war: Fleisch war ein absolutes Luxusprodukt, das es höchstens dann gab, wenn der Bauer von nebenan seine Kuh schlachten musste, weil sie keine Milch mehr gab. Das typische Abendessen bestand aus Brot mit Olivenöl, Tomaten und Gurken. An guten Tagen gab es dazu auch mal Bohnen-, Linsen- oder Erbsensuppe. Das reichte zum Überleben – und um die Gedanken ihren Lauf nehmen zu lassen. Chrissi pflegte eine ganz andere Art von Fernweh als Christos, an einen Skiurlaub, eine Tennisreise oder wilde Tänze mit Fremden dachte sie nicht. (Jedenfalls gibt sie es nicht zu.)

Als ihre ältere Schwester Stavroula im Alter von zwanzig heiratete und mit ihrem Mann nach Thessaloniki zog, hatte Chrissi zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt Grund, mit dem Zug in die Großstadt zu fahren. An einem Wochenende im Sommer 1958 war es so weit. Chrissi zog ihr bestes Kleid an, setzte sich einen von der Nachbarin geliehenen Hut auf und fühlte sich mondän genug, um in ihrer Verkleidung Thessaloniki, ihrer großen Schwester und ihrem neuen Schwager einen Besuch abzustatten. Es war großartig, das Dorf für zwei Tage zu verlassen und den Lärm der Großstadt aufzusaugen. Vassili und Stavroula holten sie am Bahnhof ab, sie erkannte sie kaum. Ihre Schwester sah ganz anders aus, seit sie in die Großstadt gezogen war. Vassili kaufte ihr moderne Kleider, und Stavroula trug ihre Haare dazu so kurz wie die junge Sophia Loren. Chrissi kam aus dem Staunen nicht mehr raus. In jedem Café, das sie passierten, saßen junge Männer und Frauen, die offensichtlich keine Sorgen kannten und mit der Sonne um die Wette strahlten. Und dahinter lag das Meer, blau und still. Chrissi war wie hypnotisiert von dem Anblick. Vassili schlug vor, nachmittags schwimmen zu gehen. Chrissi wurde etwas nervös bei dem Gedanken, denn sie konnte, wie die meisten ihrer Freunde, nicht schwimmen. Im Dorf gab es weder Seen noch Flüsse, die dazu geeignet gewesen wären, es darin zu lernen. «Du kannst auch nur etwas planschen», zerstreute Vassili ihre Sorgen und ermutigte sie so, Kontakt mit dem Wasser aufzunehmen. Und so «schwamm» Chrissi im Alter von 18 Jahren zum ersten Mal im Meer. Sie war so begeistert davon, dass sie unbedingt eine Flasche Meerwasser abfüllen wollte, um es zu Hause ihren Eltern zeigen zu können. Weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten zuvor echtes, blaues Meerwasser gesehen. Als die Flasche volllief, war die Enttäuschung groß. Das Meer in der Flasche war nicht blau, sondern sah wie ganz gewöhnliches Leitungswasser aus. Sie verfluchte die Tatsache, dass sie nicht wirklich schwimmen konnte, denn weiter draußen sah das Meer noch viel blauer aus. Dort ginge es sicher besser. Sie befahl ihrem Schwager, hinauszuschwimmen, doch auch er kam nur mit einer Flasche klarem Wasser zurück an den Strand. Es war zum Verrücktwerden. Keiner würde ihr glauben, dass das Wasser im Meer blau war. Und trotzdem war die Erinnerung an diese Farbe, den Sand und das Geräusch der Brandung das schönste Mitbringsel, das sie von dieser ihrer ersten Reise hatte, und etwas, das sie in ihren Tagträumereien immer wieder heraufbeschwor. Dass sie auf Jahre hinaus nur das Steinhuder Meer zu sehen bekommen würde, konnte ja keiner ahnen, denn:

 

Monatelang hatte Christos sich mit dem Gedanken gequält und in seinem Laken hin und her gewälzt. Die lautstarken Grillen halfen weder beim Einschlafen noch bei der Frage, wie er es seinen Eltern sagen sollte. Tschüs. Ein Bericht in der Tageszeitung hatte ihn schließlich nicht mehr losgelassen, ein schwarzweißes Foto aus Deutschland hatte es ihm angetan. Es zeigte eine Fußballmannschaft von Gastarbeitern, so wurden sie in dem Artikel genannt. Kräftige Männer aus Thessaloniki, allesamt Mitte zwanzig. Ihre Trainingsjacken hatten sie halb offen stehen, damit man auch ja ihren Haarwuchs im Ausschnitt der Unterhemden sehen konnte, er glänzte in der Sonne wie das Fell einer Katze. So posierten sie auf einer Wiese vor einem mehrstöckigen Hochhaus, links neben einer großen Wäschespinne. Ein Arbeiter saß auf einem Yamaha-Motorrad, natürlich ohne Helm, wie in der Heimat. War ja ein Grieche in Deutschland, der ganz genau erkannt werden wollte. In der Bildunterschrift war die Rede von einem Monatsgehalt, das Christos’ Verdienst über Nacht verzehnfachen würde. Nach seiner Entlassung war es also Zeit für das Freilos, bevor noch mehr Zeit verging. Christos konnte es im langsamsten Bahnhof des Landes plötzlich nicht schnell genug gehen, die Stadt für immer zu verlassen. Am Schalter kaufte er sich von seinem Ersparten heimlich eine Fahrkarte für eine einfache Fahrt über Zagreb, Wien, München, Hannover bis nach Quakenbrück.

Christos’ Eltern waren alles andere als begeistert (und begleiteten ihn später nicht mal bis zum Bahnsteig), als er das erste Mal vage von seinen Reiseplänen berichtete. Maria, seine Mutter, beendete die Diskussion einfach mit ihrer berühmten Sirene. Ihr Aufschrei war eine Mischung aus purer Freude, wie sie südländische Fußballreporter bei einem Torschuss zelebrieren, und schierer Verzweiflung. Dabei war es völlig egal, ob sich eine Schlange im Gemüsegarten sonnte oder mal wieder ein Verwandter an Krebs erkrankte und verstarb. Egal, denn wie immer war Tante Eleni in der Nähe, nahm sie in den Arm wie nach Kriegsende und stimmte das gleiche Lied an.

«Komm ja nicht wieder» waren die letzten Worte von Christos’ Vater, der ihn in den folgenden Wochen immer wieder mit strengem Blick auf den nächsten vor der Haustür abfahrenden Bus aufmerksam machte und dann aufstand, um in ein Kafenion zu einer weiteren Diskussion mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft zu verschwinden, bis Maria unter Tränen das Abendessen aufgetragen hatte und er sich an den fertig gedeckten Tisch setzen konnte – um dort stumm weiterzugrollen.

 

Christos’ einzige Verbündete für die Expedition in das eiskalte Deutschland war also Chrissoula. Das Ehepaar Zervakis schwor sich in diesen Tagen: Egal wie schlimm das Leben im Norden auch wird, wir werden immer zusammenhalten. Ohne Siri, Google Maps und einer Übernachtungs-App in der Hosentasche machte sich Christos auf den Weg, ausgestattet mit 25000 Drachmen, was damals ungefähr 150 D-Mark waren. Die Scheine waren gut verstaut in seinem Kulturbeutel – im Waschlappen eingenäht. Der zusammengefaltete Zettel, auf dem der Ortsname Quakenbrück stand, war in der Schachtel mit Rasierseife versteckt. Christos’ Cousin hatte ihm den Zettel bei seinem letzten Besuch in der Heimat beim Kaffeetrinken zugeschoben. Seit er mit seiner Familie nach Bremerhaven ausgewandert war, wurde er von seinen Eltern im Heimatdorf wie ein Aussätziger behandelt, der an einer hochansteckenden, unheilbaren Viruskrankheit litt. Seine Briefumschläge mit Bargeld nahm die Familie aber auch ohne Handschuhe entgegen.

Chrissi war inzwischen Anfang zwanzig, träumte noch immer vom Meer, der Stadt – und von einem Studium. Ihre erste Ausbildungsstation sollte, drei Monate nachdem Christos in Deutschland angekommen war, stattdessen eine Fahrradfabrik in Quakenbrück werden. Die Göttin der Lebensweisheiten hatte aber auch dafür eine Erklärung, die unser weiteres Leben bestimmen sollte. «Das Leben lehrt dich mehr als die Schule.»

 

Erste Lektion: Stillgestanden. Bei dem kühlen Empfang in Deutschland blieb Chrissi auch gar nichts anderes übrig: 17 Grad und Nieselregen mitten im August. Der deutsche Sommer fühlte sich an wie die griechische Unterwelt. Trotzdem ließ sie den Kopf nicht hängen und marschierte mit geradem Rücken durch das Kasernentor, hinter dem ihre erste Unterkunft in der Bundesrepublik lag. Vorbei an einer schwarz-rot-goldenen Fahne, die am Mast hing wie ein nasser Putzlumpen. Genauso schlapp fühlte sich auch die Gruppe von 20 Griechinnen bei der Ankunft in ihrem neuen Quartier. Einen Tag lang hatten die jungen Frauen bei der Ausländerbehörde Formulare unterschrieben und sich ununterbrochen Vorträge in einem für sie ungewohnt strengen, germanischen Ton angehört. Es ging um wichtige Regeln: Wo genau Fußgänger die Straßenseite überqueren durften und bis wann sie den Neuschnee auf dem Bürgersteig zu entfernen hatten. Viel mehr allerdings hatten sie dort nicht gelernt. Von jetzt an mussten sie sich selber durchfragen, zum Beispiel bei Andreas, dem griechischen Vorarbeiter und Gastarbeiter-Veteranen. Er war mit einer Deutschen verheiratet und kümmerte sich liebevoll wie ein Streetworker um die Neuankömmlinge in der Fahrradfabrik, wenn sie in den ersten Monaten mal wieder etwas falsch verstanden hatten. Keiner sonst nahm sich damals die Zeit, ihnen diese komplizierte Sprache richtig beizubringen. Woher sollten sie wissen, warum es manchmal die Leiter und ein anderes Mal der Leiter war? Oder das Steuer und die Steuer?

 

Trotz aufwendigen Umbaus hatte sich am Innenleben der ehemaligen Bundeswehrkaserne wenig geändert. In jedem Zimmer standen fünf Stockbetten und zehn Spinte. Chrissi legte sich sofort auf die erste freie Matratze und zog die raue Bundeswehrdecke über die Beine. Wenigstens würde sie hier nicht erfrieren. Sie starrte den Lattenrost über ihrem Kopf an und war froh, nicht oben schlafen zu müssen. Sie hatte viel zu viel Angst, in der Nacht aus zwei Meter Höhe aus dem Bett zu fallen, obwohl ihre Mitbewohnerinnen schon weiche Flokatiteppiche aus ihren Koffern gezogen und auf dem Linoleumboden ausgelegt hatten, damit die kühlen Räume etwas südliches Flair bekamen. Auch die gehäkelten Tischdecken aus der Heimat waren schnell verteilt, ebenso die Götzenbilder an der Wand. Nachdem sie ihre dünnen Baumwollkleider und Röcke eingeräumt hatte, besuchte sie den Gemeinschaftswaschraum am Ende des Flurs. Die Spiegel waren für die kleinen Frauen aus Griechenland viel zu hoch gehängt worden, so immerhin blieb ihr der Anblick ihrer dunklen Augenringe erspart. Auf den Gängen und in den Zimmern roch es überall nach Putzmittel. Die Sauberkeit der Deutschen fand sie sympathisch, mit der Pünktlichkeit tat sie sich dagegen anfangs schwer. Um fünf Uhr klingelte der Wecker, damit alle geschlossen um Punkt 6 Uhr die Kaserne verlassen konnten. Pünktlich um 17 Uhr heulte die Werkssirene laut auf, und die Gastarbeiter fuhren mit dem Bus nach Hause. Die Frauen kochten am Abend für die Mittagspause vor und schnippelten Gemüse in große Aluminium-Töpfe, wie sie sonst nur in Jugendherbergen oder bei einer Freizeit auf dem Campingplatz zum Einsatz kommen. Die deutschen Kartoffeln waren knallgelb und sehr lecker, das Gemüse schmeckte dagegen eher fad. Außerdem fehlte Olivenöl im Supermarkt. Statt mit Knoblauch wurde in der Küche mit Maggi gewürzt. Beim Mittagessen rätselten die Neuankömmlinge, warum die Petersilie kraus war und nicht glatt. Die einzige Erklärung, auf die sie in diesem Sommer kamen: wahrscheinlich wegen der Kälte. Aber das war nicht die einzige mehr oder weniger deutsche Spezialität, mit der die Neuen konfrontiert werden sollten: Als Willkommensgruß gab es nämlich einen Präsentkorb mit Schokolade, Pralinen, Schinken – und Früchten. Unter anderem waren auch Bananen dabei. Chrissi war neugierig auf diese gelben Gurken, biss zum Nachtisch hinein – und spuckte alles gleich wieder aus.

«Was zum Teufel ist das? Das schmeckt ja widerlich. Wollen die mich gleich am ersten Tag vergiften?», fragte sie die anderen Frauen.

So lehnte sie in den ersten Monaten immer dankend ab, wenn ihr jemand in einer Pause diese furchtbare gelbe Frucht anbot. Zufällig beobachtete sie später ihre Arbeitskollegin Ingrid Berger dabei, wie sie die Banane, Lektion 2, schälte und genüsslich aß. Sie gab der Frucht eine zweite Chance, schälte sie nun auch – und war begeistert von ihrem süßen Geschmack. Von da an aß sie kiloweise Bananen und bekam von ihrer Vorgesetzten Ingrid den Spitznamen Äffchen verpasst.

 

Ingrid nahm sie am Ende ihres ersten Monats auch mit ins Lohnbüro und erklärte ihr, warum sie erst unterschreiben musste, bevor sie die Papiertüte mit Geld und einem Zettel darin annehmen durfte. Chrissi konnte ihr Glück, nachdem sie einen schnellen Blick in die Lohntüte geworfen hatte, kaum fassen und machte mit ihrer Freundin Maria nach Feierabend einen Umweg zu Karstadt. Dort relativierte sich die Freude etwas, als sie die Zahlen auf den Preisschildern lasen. Schließlich fanden sie aber doch etwas Hübsches in der Modeabteilung, bezahlten in bar und zogen sich zum Abendessen um. Es war endlich einmal so warm an diesem Abend, dass die Männer den Grill anwarfen und auf Bänken und Stühlen im Freien saßen. Auch Andreas war eingeladen, stellte allen seine Frau Claudia vor und war irritiert über den Aufzug von Chrissi und Maria, die mit Salatschüsseln um den Tisch gingen. «Habt ihr morgen Frühschicht, oder warum tragt ihr schon euren Schlafanzug?»

«Schlafanzug?» Chrissi und Maria schauten sich fragend in die Augen und senkten den Blick auf ihr vermeintliches Sommer-Outfit. Dann lachten sie laut los. Die preiswerten Oberteile waren tatsächlich Pyjamas. Immerhin mussten sie sich heute nicht mehr umziehen.

 

Kurz darauf revanchierte sich Ingrid und lud meine Eltern an einem Freitagabend zum Essen ein. Chrissi und Christos stellten sich extra einen Wecker, der sie daran erinnerte, pünktlich das Haus zu verlassen. Denn in Deutschland, das hatten sie ja schon gelernt, fällt die Stunde Gleitzeit bei Einladungen weg. Pünktlich um 16 Uhr öffnete Bernd Berger die Wohnungstür. Die Wohnung war sehr modern eingerichtet, statt Flokati zierte ein Perserimitat den Wohnzimmerboden. Ingrid hatte eine große Vorliebe für die Musik von Roy Black, der durch das Reihenhaus schmalzte. Und sie liebte Süßes. Es gab Sahnetorte, die mit knallroten Cocktailkirschen dekoriert war. In den starken Filterkaffee rührte sie reichlich Dosenmilch und Würfelzucker. Etwas später reichte sie noch selbstgemachten Eierlikörpuffer. Die Paare unterhielten sich so gut, wie es eben geht, wenn die Sprachbarriere höher als der gekachelte Wohnzimmertisch ist. Die Männer über Autos, die Frauen über die teuren Ado-Gardinen mit der berühmten Goldkante und die entsprechende Pflege. Chrissi fasste sich ein Herz und fragte Ingrid nach ihrer Frisur, die sich jede Woche änderte.

«Machst du Föhn auf eins, zwei oder drei?»

«Das macht Herrmann, mein Friseur. Und ich helfe mit Haarspray nach. Komm, ich zeig’s dir.»

Ingrid holte eine große goldene Dose aus dem Bad.

«Nix für meine Kopf», lehnte Chrissi ab und erinnerte sich an ein Trauma ihrer Jugend. Sie musste gerade 18 geworden sein. Für die Feier hatten sie und ihre Freundin sich besonders schöne Frisuren überlegt: einen Hochsteck-Traum à la Brigitte Bardot. Einen geeigneten Kamm konnte sie sich bei ihrem Vater im Bad ausleihen. Aber Haarspray? Fehlanzeige. Deshalb mischten sie sich einen Festiger aus Zuckerwasser mit Zitrone. Die Mischung war super, auch als Schutz vor dem Meltemi. Der Sommerwind der Ägäis hätte ihre Haarpracht dank dieser Zauberformel niemals zerstören können. Zufrieden machten sie sich barfuß auf den Weg, um die Absätze auf dem holprigen Weg zu schonen. Bevor sie ihre Schuhe wieder anziehen konnten, mussten sie aber noch den überraschenden Kampf gegen ein Bienen- und Wespengeschwader überstehen. So schnell sie auch über die Schotterpiste rannten und sich dabei die Fußsohlen in der Mittagshitze verbrannten, die Verfolger waren nicht abzuschütteln. Am Ende gaben sich Chrissi und Sofia geschlagen und ihre Haarpracht auf: Brigitte Bardot hatte sich in eine Vogelscheuche verwandelt.

Ingrid verstand nicht viel von der Geschichte, deren Ende Chrissi hauptsächlich auf Griechisch erzählte. Da sie aber so ein ansteckendes Lachen hatte, fühlten sich alle gut unterhalten. Pünktlich um 18 Uhr gab es Abendessen. Fleischrouladen mit Gemüse, Kroketten und dazu eine kleine Schüssel Jägersauce. Innerhalb einer halben Stunde war alles verspeist und abgeräumt. Bernd servierte nach dem Essen noch einen weiteren Asbach Uralt, für die Damen gab es ein Gläschen mit selbstgemachtem Eierlikör. Um halb acht hatten Chrissi und Christos alle ihnen bekannten deutschen Vokabeln in jeglicher Kombination verwendet und das Gefühl, nichts mehr erzählen zu können. Eine merkwürdige Stille trat ein. Die Ehepaare verabschiedeten sich. So konnte Ingrid noch in Ruhe den Abwasch machen, damit sie bis zur Tagesschau in der Küche fertig war. In der Nachrichtensendung begrüßte der Sprecher Karl-Heinz Köpcke routiniert und gewohnt seriös die Fernsehzuschauer mit einem «Guten Abend, meine Damen und Herren». Danach folgte ein Beitrag über Armando Rodrigues, den einmillionsten Gastarbeiter in Deutschland. Der Portugiese bekam zur Begrüßung auf dem Bahnhof von Köln-Deutz ein Moped und einen Strauß Blumen geschenkt.

 

Am Montag erzählte Chrissi ihren Kolleginnen in der Mittagspause von der wunderschönen Wohnung und dem hervorragenden Essen:

«Alles lecker. Und wir hatten Fleisch mit Maus.»

«Igitt.»

Chrissi verstand die Welt nicht mehr. Die Kolleginnen drehten sich angewidert weg und begannen zu tuscheln. Die Frauen dachten daran, dass Ingrid und Bernd sich vielleicht einen schlechten Scherz erlaubt hatten, fragten noch mal nach und lachten, nachdem die Sache einmal aufgeklärt war, laut los. Tatsächlich gab es keine Rouladen mit Maus, sondern mit Mais.

1. Kapitel Ein Fall für zwei

Über die ersten Jahre unserer Familie in Deutschland gibt es zahlreiche, einander widersprechende Versionen. Chrissi, die Göttin der Fabrik, erzählt die Mythologie der griechischen Gastarbeiter bis heute immer unterschiedlich, will aber keine dieser Varianten in einem Buch lesen. Hallo, Mama! Keine Ahnung, wie viele Fahrräder, Stifte und Schuhe tatsächlich durch ihre Hände gegangen sind. Bei der deutschen Rentenkasse ist nach der Station in Quakenbrück zumindest auch ein sozialversicherungspflichtiges Gastspiel an den Fließbändern von Geha und Pelikan in Hannover dokumentiert. Ohne den Fleiß von Chrissi hätte es in den 70er Jahren wahrscheinlich eine ganze Zeit lang überhaupt keine Schulbildung gegeben in Deutschland, wegen akuten Mangels an Füllfederhaltern für die Schüler. Mama schraubte nämlich den Pelikano mit Schönschreibfeder und Tintenpatrone zusammen und setzte am Ende die Aluminiumkappe auf das Schreibgerät aus blauem Plastik. Ich persönlich bevorzugte für meine Schulaufsätze immer das grüne Modell mit Reservetank von Geha. Der Schreibwarenhersteller war Chrissis zweiter Arbeitgeber, bevor sie in die Schuhbranche nach Hamburg wechselte. Kugelschreiber waren damals aus irgendwelchen Gründen in deutschen Klassenzimmern verboten, warum auch immer. Wahrscheinlich hatten die Hersteller von Löschpapier die Schulbehörde bestochen, aus Angst, der Absatz von rosa oder blauen Einlagen in den Heften könnte einbrechen. Apropos Rosa und Blau: Zwischen Fahrradwerk, Füllerfabrik und Schuhhersteller sind auch drei Aufenthalte meiner Mutter im Kreißsaal des Mariahilf-Krankenhauses in Harburg dokumentiert. Chrissi und Christos hatten inzwischen also drei gesunde Kinder, lebten in einer Dreizimmerwohnung im Süden Hamburgs und bekamen Jahr für Jahr neue Arbeitsverträge – und damit ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängert. Abends setzten sie sich erschöpft auf die Schonbezüge ihres ersten Sofas und verfolgten das Fernsehprogramm. Dort begegneten ihnen Jahr für Jahr die gleichen Gesichter, Kuhlenkampf, Carrell oder auch Dagmar Berghoff. Überhaupt hat meine Familie dem Medium viel zu verdanken. Danke an dieser Stelle an ARD und ZDF für euren Bildungsauftrag. Obwohl der Krimi am Freitagabend im zweiten Programm vermutlich von den Fernsehmachern am Lerchenberg nicht unbedingt für ein zehnjähriges Mädchen vorgesehen war, aber … Also vielleicht sollte ich mich an dieser Stelle lieber bei der Firma Berkemann bedanken – für die Spätschichten meiner Mutter. Chrissi fertigte Mitte der 80er in einer Fabrikhalle in Hamburg-Lokstedt diese Gesundheitslatschen. Deren schlichtes Design ist heute noch in Boutiquen im Prenzlauer Berg oder Brooklyn zu bewundern. Als die Beine Anfang der 1980er Jahre noch nicht rasiert waren, stolzierten viele Berkemann-Besitzer am liebsten von ihrem Bad im selbstausgebauten Dachgeschoss über die Fichtentreppe bis zur Terrasse aus Waschbeton. Damit beim Gang zum Wäscheständer nicht die gesamte Doppelhaussiedlung aufgeschreckt wurde, bekamen die modischen Holzsandalen von meiner Mutter noch eine Gummisohle angeklebt. Noch heute denke ich mit meinen Brüdern darüber nach, die ehemaligen Geschäftsführer von Berkemann vor das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu zerren. In Wahrheit verstieß das flotte Schuhwerk der Friedensbewegung nämlich gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Chrissoula musste die Sandalen nur einmal umdrehen, und schon entpuppten sich die feinmaschigen Gummisohlen der Pantoletten als übles Folterwerkzeug.

«Lindaaaaa?»

Mama war ohne Zweifel zu Hause. Und beim Versuch, ihren Energiehaushalt auszugleichen, hatte sie eine unliebsame Überraschung erlebt. Wie jeden Freitag.

«Mama?»

«Wo ist die Schokolade?»

«Nein, ich war es diesmal wirklich nicht …»

«Was erlaube meine Fräulein. Warte, meine kleine Teufel …»

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht klopfte sich Christos auf den Oberschenkel und gab mit enthusiastischem Klatschen vom Sofa aus seinen Segen für die Verfolgungsjagd.

«Eine Klaps auf die Po mache Kinder froh.»

In unserer kleinen Dreizimmerwohnung gab es zum Glück nicht viele Möglichkeiten, Süßigkeiten zu verstecken. Leider gab es aber auch genauso wenige Fluchtwege für den Schokoladendieb. Ein Abseilen über den Balkon war im Hochhaus jedenfalls keine Option. Wir wohnten nämlich im Erdgeschoss, und diese Art des Aus-der-Affäre-Ziehens war daher viel zu profan. Der Weg zur Haustür war meistens abgeriegelt von den Einkaufstaschen voller Gemüse, die im Flur ein provisorisches Kühllager gefunden hatten. Und wenn man einmal draußen war, kam man nur schwer wieder rein: Irgendein witziger Nachbar hatte uns Sekundenkleber in das Türschloss geschmiert und seitdem klemmte es, unser Hausmeister Wolfgang Knaller aber war seit Wochen auf Kur. Dass er die nötig hatte, verwunderte niemanden: Die ehemals vorbildlichen Musterwohnungen für sozialen Wohnungsbau waren teilweise heruntergekommen, das Niveau sank mit jedem neuen Mieter. Die Folgen waren Schmierereien im Aufzug, Scherben im Kellergeschoss und überall Zigarettenkippen auf dem Boden – Wolfgang Knaller hatte gut zu tun.

DM