Mit diesem Buch bezeige ich dem Barnard College meine Dankbarkeit anläßlich seines fünfundsiebzigjährigen Bestehens

Für meinen Freund Rolf Tietgens

Es war ein Morgen Anfang Januar um halb vier Uhr früh, als Chester MacFarland in seiner Koje auf der San Gimignano von einem beunruhigenden Kratzgeräusch geweckt wurde. Er setzte sich auf und sah durch das Bullauge eine grell erleuchtete Wand an sich vorüberziehen. Sein erster Gedanke war, daß sie gerade ein anderes Schiff schrammten, daher krabbelte er rasch aus dem Bett und spähte, immer noch im Halbschlaf und über die Koje seiner Frau gebeugt, hinaus. Die Wand war mit Graffitti, Krakeleien und Zahlen vollgemalt und entpuppte sich jetzt als nackter Fels. NIKO 1957, las er. W. MUSSOLINI. Und dann ein sehr amerikanisches PETE60.

Der Wecker schrillte los, Chester packte ihn und warf dabei die Scotchflasche um, die neben dem Bett auf dem Boden stand. Er drückte den Knopf, der das Klingeln beendete, dann griff er nach seinem Morgenmantel.

»Liebling … Was ist los?« fragte Colette verschlafen.

»Ich glaube, wir sind im Kanal von Korinth«, sagte Chester. »Oder wir rammen gleich ein anderes Schiff. Aber eigentlich sollte es doch der Kanal sein. Es ist halb vier. Kommst du mit rauf an Deck?«

»Ach … nein«, murmelte Colette und kuschelte sich tiefer in die Kissen. »Erzähl mir später davon.«

Kaum war Chester durch die Tür an Deck hinausgetreten, lief ihm der Offizier über den Weg, der am Abend gesagt hatte, sie würden den Kanal von Korinth gegen 3.30 Uhr durchqueren.

»Sìsìsìsì! Il canale, signore!« rief er Chester zu.

»Danke!« Ein Kitzel von Abenteuerlust und Erregung durchfuhr Chester, und er reckte sich gegen den kühlen Wind, die Reling fest mit beiden Händen umklammert. Außer ihm war niemand an Deck.

Die Wände des Kanals ragten vier Stockwerke empor, wenn nicht höher. Auch als Chester sich über die Reling lehnte, sah er nichts als Schwärze in beide Richtungen. Man konnte nicht erkennen, wie weit der Kanal reichte, aber er erinnerte sich an die Landkarte Griechenlands: gut ein Zentimeter war er dort lang, was Chester auf rund sechs Kilometer hochrechnete. Von Menschen erbaut, diese wichtige Schiffsverbindung. Eine beeindruckende Vorstellung. Chester betrachtete die Spuren von Bohrern und Spitzhacken, die in dem orangefarbenen Fels noch zu sehen waren – oder war es nur harter Lehm? Er hob den Blick dorthin, wo die Kanalwand gegen die Dunkelheit abbrach, und weiter hinauf zu den Sternen, die den griechischen Himmel sprenkelten. Nur noch wenige Stunden, und er würde Athen sehen. Einen Moment lang wollte er den Rest der Nacht aufbleiben, sich seinen Mantel holen und an der Reling stehen, während das Schiff in Richtung Piräus durch die Ägäis pflügte. Allerdings wäre er dann am nächsten Tag

Etwa fünf Stunden später, als die San Gimignano in Piräus angelegt hatte, kämpfte sich Chester wieder zur Reling – diesmal durch eine zeternde Menge von Passagieren und Trägern hindurch, die an Bord gekommen waren, um den Leuten mit ihrem Gepäck zu helfen. Er hatte geruhsam in der Luxuskabine gefrühstückt, weil er vorsichtshalber abwarten wollte, bis die meisten Passagiere an Land waren; doch nach der Anzahl Menschen, die an Deck und in den Korridoren herumwuselten, hatte der Landgang noch nicht begonnen. Die Stadt und der Hafen von Piräus waren ein staubiges Chaos. Chester war enttäuscht, daß er Athen nicht einmal in der Ferne erkennen konnte. Er zündete sich eine Zigarette an und musterte versonnen die geschäftigen und die reglosen Gestalten auf der breiten Mole. Gepäckträger in Blau. Einige Männer gingen in eher schäbig aussehenden Mänteln rastlos auf und ab und sahen dabei zum Schiff hinauf: sie wirkten eher wie Geldwechsler oder Taxifahrer als wie Polizisten, dachte Chester. Er ließ den Blick von rechts nach links und wieder zurück über die versammelte Menge schweifen. Nein, er konnte sich nicht vorstellen, daß hier jemand auf ihn wartete. Die Gangway war seit langem herabgelassen, und wenn sie ihn fassen wollten, wären sie dann nicht längst an Bord gekommen, statt ihn an Land abzupassen? Natürlich. Chester räusperte sich und zog an seiner Zigarette. Dann drehte er sich um und sah Colette.

»Griechenland«, sagte sie lächelnd.

»Ja, Griechenland.« Er nahm ihre Hand. Sie spreizte die

Sie nickte. »Ich hab mit Alfonso geredet. Er bringt sie hinaus.«

»Hast du ihm Trinkgeld gegeben?«

»Aber ja. Zweitausend Lire. Glaubst du, das reicht?« Sie richtete den Blick ihrer großen dunkelblauen Augen auf Chester. Die langen rotbraunen Wimpern gingen zweimal nieder. Dann prustete ein Lachen aus ihr heraus, ein Lachen voller Glück und Zuneigung. »Du sagst gar nichts? Reichen zweitausend nun oder nicht?«

»Zweitausend sind perfekt, Liebling.« Chester küßte sie rasch auf die Lippen.

Alfonso tauchte mit der Hälfte ihres Gepäcks an Deck auf, stellte es ab und verschwand, um den Rest zu holen. Chester half ihm dabei, die Sachen über die Gangway an Land zu bringen, wo sich sogleich drei oder vier Gepäckträger um den Auftrag zu streiten begannen.

»Moment! Einen Moment mal bitte«, sagte Chester. »Zuerst brauche ich Geld. Muß mir was wechseln gehen.« Er schwenkte ein Heft voller Reiseschecks und trabte in Richtung einer Wechselstube an der Einfahrt des Hafens davon. Er wechselte zwanzig Dollar ein.

»Bitte!« sagte Colette und klopfte beschützerisch auf einen Koffer, worauf die diskutierenden Gepäckträger abwartend die Arme verschränkten, einen Schritt zurücktraten und sie beifällig musterten.

Colette – diesen Namen hatte sie sich mit vierzehn Jahren selbst zugelegt, weil ihr Elizabeth nicht gefiel – war

»Das hätten wir«, sagte Chester und wedelte mit einer Handvoll Drachmenscheine. »Ruf ein Taxi, Liebes.«

Es stand ein halbes Dutzend Taxis herum, und Colette suchte eines aus, dessen Fahrer freundlich grinste. Drei Träger halfen dabei, das Taxi mit den sieben Gepäckstücken zu beladen, von denen zwei auf dem Dach verstaut wurden, und dann fuhren sie ab in Richtung Athen. Chester saß vorn und hielt Ausschau nach dem Tempel oben auf dem Parthenonhügel oder einem anderen Wahrzeichen, das sich gegen den blaßblauen Himmel abheben würde. Statt dessen sah er plötzlich ein Walkie Kar vor sich, so groß wie ganz Athen, roter Lack und Chrom, mit dem scheußlichen Billiglenker aus Gummi und dem häßlichen Sicherheitsschalensitz. Chester erschauerte. Was für ein Blödsinn, was für ein unnötiges, idiotisches Risiko er da eingegangen war! Colette hatte es ihm ja gleich gesagt. Sie war zu Recht ziemlich sauer gewesen, als sie von der Geschichte erfuhr. Das mit dem Walkie Kar war so gekommen: Als Chester sich in einer Druckerei Visitenkarten machen lassen wollte, hatte er einen Stapel Handzettel herumliegen sehen, die für ein »Walkie Kar« warben. Sie zeigten ein Bild dieses kleinen Tretautos, eine kurze Beschreibung, den Preis – $ 12.95 – und unten angehängt ein Bestellformular, das sich entlang einer gestrichelten Linie abreißen ließ. Der Drucker hatte gelacht, als Chester sich einen der Zettel näher angesehen hatte. Das Unternehmen sei in Konkurs gegangen, sagte

Der Taxifahrer wandte den Kopf über die Schulter und fragte etwas auf griechisch.

»Sorry. No capito«, erwiderte Chester. »Zum Hauptplatz, okay? Ins Zentrum.«

»Grande Bretagne?« fragte der Fahrer.

»Na ja … ich bin noch nicht sicher«, sagte Chester. Das Grande Bretagne war zweifellos das größte und beste Hotel in Athen, aber gerade deshalb hatte Chester kein gutes Gefühl bei dem Gedanken, dort abzusteigen. »Sehen wir’s uns mal an«, setzte er hinzu, obwohl er bezweifelte, daß der Fahrer ihn verstand. »Dort ist es«, sagte er zu Colette. »Das große weiße Gebäude da drüben.«

Der weiße Bau des Grande Bretagne verströmte eine förmliche, geradezu antiseptische Atmosphäre im Vergleich zu den kleineren und schmutzigeren Häusern und Geschäften, die rings um den rechteckigen Platz der Verfassung, den Syntagma-Platz, standen. Am anderen Ende erhob sich rechter Hand irgendein Regierungsgebäude, vor dem eine griechische Fahne am Mast flatterte und zwei Soldaten in Faltenröcken und weißen Strümpfen Wache standen.

»Was ist mit dem Hotel da drüben?« fragte Chester und zeigte mit dem Finger darauf. »Das King’s Palace. Sieht doch auch ganz nett aus, oder was meinst du, Liebes?«

»Ja, gut«, sagte Colette bereitwillig.

Das King’s Palace lag gegenüber dem Grande Bretagne an einer der vom Platz abzweigenden Straßen. Ein Page in roter Jacke und schwarzen Hosen trat auf den Gehweg hinaus, um ihnen mit dem Gepäck zu helfen. Die

»Haben Sie reserviert, Sir?« fragte der Empfangschef an der Rezeption.

»Nein, haben wir nicht, aber wir möchten gern ein Zimmer mit Bad und schöner Aussicht«, sagte Chester lächelnd.

»Jawohl, Sir.« Der Hotelangestellte drückte eine Klingel und reichte dem daraufhin erscheinenden Jungen in Livree einen Schlüssel. »Du zeigst ihnen die 621. Dürfte ich noch Ihre Pässe haben, Sir? Sie bekommen sie nachher zurück, wenn Sie wieder hinunterkommen.«

Chester griff nach dem Paß, den Colette aus dem roten Lederetui in ihrer Handtasche herauszog, nahm seinen eigenen aus der inneren Brusttasche und schob beide zusammen über den Tisch. Es versetzte ihm jedesmal einen kleinen Stich – eine leise Verlegenheit ganz ähnlich jener, die er bei der Aufforderung eines Arztes verspürte, die Kleidung abzulegen –, wenn er seinen Reisepaß an einer Rezeption abgab oder ihn staatlichen Beamten aushändigen mußte. Chester Crighton MacFarland, ein Meter achtzig, geboren 1922 in Sacramento, Kalifornien, keine besonderen Kennzeichen, verheiratet mit Elizabeth Talbott MacFarland. Es war alles so entblößt. Am schlimmsten fand er, daß er auf dem Foto, eher untypisch für ein Paßbild, leider ziemlich gut getroffen war; es zeigte den zurückweichenden Ansatz seines braunen Haars, den aggressiven Unterkiefer, die wohlgeformte Nase und den eigensinnig wirkenden,

Wenige Minuten später genossen sie die Bequemlichkeit eines geräumigen, warmen Zimmers mit Aussicht auf die weißen, geraniengeschmückten Balkons des Grande Bretagne und eine verkehrsreiche Straße sechs Etagen tiefer, die Chester auf seinem Stadtplan als die Venizelou-Avenue identifizierte. Es war erst zehn Uhr vormittags. Der ganze Tag lag noch vor ihnen.

In einem wesentlich billigeren und schäbigeren Hotel um die Ecke, in der Kriezotou-Straße, die manchmal auch Jan-Smuts-Straße genannt wurde, rief zur selben Zeit ein junger Amerikaner namens Rydal Keener im dritten Stock den Fahrstuhl. Der Mann war schlank und dunkelhaarig und bewegte sich langsam und bedächtig. Er erweckte einen leicht melancholischen Eindruck – eine Melancholie, die eher nach außen als nach innen gerichtet war, als sänne er nicht über eigene Probleme, sondern über jene der ganzen Welt nach. Der Blick seiner dunklen Augen schien alles abzuwägen, was er betrachtete. Er wirkte außerdem sehr gelassen und nicht im mindesten darum bekümmert, was andere von ihm dachten. Diese Nonchalance wurde ihm oft als Arroganz ausgelegt. Sie paßte nicht recht zu dem alten Mantel und den abgewetzten Schuhen, die er trug, aber er besaß eine so selbstsichere Haltung, daß seine Kleidung das letzte war, das man an ihm bemerkte, sofern man sie überhaupt registrierte.

Jeden Morgen standen die Chancen fünfzig zu fünfzig, ob der Fahrstuhl kommen würde oder nicht, und Rydal spielte deshalb immer ein kleines Spiel mit sich selbst: Kam der Fahrstuhl, würde er in der Taverna Dionysiou frühstücken, in der Straße, wo Niko stand, und kam er nicht,

Der Fahrstuhl würde so schnell nicht kommen. Er hätte ihn noch einmal rufen können, und irgendwann wäre wohl auch jemand aufgetaucht, wenn er immer weiter läutete,

Rydal sah den Fahrstuhlführer, der zugleich der Gepäckträger war, auf der Holzbank am Ausgang des Hotels sitzen, nasebohrend und zeitunglesend.

»Guten Morgen, Mihster Keener«, sagte Max, der Portier mit schwarzem Schnurrbart und einer alten grauen Uniform, der hinter der Empfangstheke stand.

»Guten Morgen, Max. Wie geht’s?« Rydal legte ihm seinen Schlüssel hin.

»Sie wollen Lotterielos kaufen?« fragte Max mit hoffnungsfrohem Grinsen und hielt dabei ein Bündel Papierlose hoch.

»Hmmm. Ob ich heute wohl Glück habe? Kommt mir nicht so vor. Nein, heute nicht«, sagte Rydal und ging hinaus.

Er wandte sich nach links und ging auf den Syntagma-Platz und das Büro von American Express zu. Dort könnte ein Brief für ihn hinterlegt sein, das war sogar höchstwahrscheinlich, denn es war bereits Mittwoch, und er hatte weder am Montag noch am Dienstag Post gehabt, obwohl er im Durchschnitt pro Woche zwei Briefe bekam. Doch er beschloß, erst am Nachmittag nach der Post zu sehen. Er kaufte sich den Londoner Daily Express vom Vortag und eine Athener Morgenzeitung, winkte Niko kurz zu, der einige Meter vom American-Express-Reisebüro in seinen Turnschuhen auf dem Gehsteig hin und her ging; da er am

»Lottolose?« rief Niko und wedelte mit einer Handvoll Lose.

Rydal schüttelte den Kopf. »Heute nicht!« rief er auf griechisch zurück. Offensichtlich war heute der Tag für Glückslose.

Er ging zum Café Brasil weiter, stieg die Stufen zur Bar im oberen Stock hinauf, wo man auch Frühstück bekam, und bestellte einen Cappuccino mit Marmeladehörnchen. Die Zeitung bot wenig aufregende Neuigkeiten. Ein kleineres Zugunglück in Italien. Der Scheidungsprozeß eines Mitglieds des britischen Unterhauses. Rydal hatte eine Schwäche für Mordgeschichten, und die aus England gefielen ihm am besten. Nach dem Kaffee rauchte er drei Papastratos, und es war kurz vor elf, als er das Café verließ. Er wollte eine Weile durch das Nationalmuseum für Archäologie schlendern und dann in irgendeinem Herrenartikelgeschäft oder in einer Lederboutique in der Stadiou-Straße ein Geschenk für seinen Freund Pan kaufen – am Samstag hatte Pan Geburtstag und gab eine Party –, wollte dann im Hotelrestaurant zu Mittag essen und den Rest des Nachmittags an seinen Gedichten arbeiten. Pan hatte davon gesprochen, daß sie am Abend ins Kino gehen könnten, aber diese Verabredung war keineswegs sicher, und Rydal war es eher egal, wenn nichts daraus wurde. Es sah stark nach Regen aus, den die Athener Zeitung auch vorhersagte. Und Rydal liebte es, bei Regenwetter in seinem Zimmer herumzusitzen und an seinen Gedichten zu arbeiten. Als er auf

Sie hatten einen Brief seiner Schwester Martha für ihn, aus Washington DC. Wieder voller leisem Tadel, wie Rydal vermutete. Doch er irrte sich. Der Brief war im Grunde fast eine Entschuldigung dafür, daß sie »im Dezember ein wenig schroff gesprochen« hatte. Sie hatte geschrieben, nicht gesprochen. Anfang Dezember war Rydals Vater gestorben, was ihm sein Bruder Kennie zwei Tage vor dem Begräbnis telegrafisch mitgeteilt hatte, für den Heimflug wäre also Zeit gewesen, er hatte ihn aber nicht angetreten. Sein Vater hatte einen Herzanfall erlitten und war innerhalb von vier Stunden gestorben. Rydal hatte vierundzwanzig Stunden unschlüssig verstreichen lassen und schließlich ein Telegramm an Kennie in Cambridge geschickt, die Nachricht habe ihn sehr betrübt und er sende ihm und dem Rest der Familie sein Beileid und alle besten Wünsche. Er sagte nicht, daß er nicht dort sein würde, doch das verstand sich von selbst, da sich auch keine Erwähnung seines Kommens fand. Kennie hatte ihm seitdem nicht mehr geschrieben, aber von Martha kam ein Brief, in dem sie meinte: »Gerade weil die Familie so klein ist, nur Du und ich und Kennie mit seiner Frau und den Kindern, finde ich, daß Du Dir ruhig die Mühe hättest machen können, beim Begräbnis dabeizusein. Immerhin war es Dein Vater. Ich kann nicht glauben, daß Du kein schlechtes Gewissen deswegen hast. Willst Du denn Deinen Groll auch dann noch hegen,

»… und den ich, wie Du weißt, schon immer als durchaus berechtigt betrachtet habe. Aber werde nicht bitter dadurch, wenn Dir das möglich ist. Du hast mir einmal erzählt, daß Dir die Zwecklosigkeit von Haß und Groll klar ist. Ich hoffe, das stimmt jetzt noch mehr als damals und daß Du in Europa Frieden findest. Irgendwie bin ich froh darüber, daß Du in Athen und nicht in Rom bist … Wann glaubst Du denn, daß Du mal wieder nach Hause kommst?

Rydal faltete den Brief zusammen und schob ihn in die Manteltasche. Dann verließ er das American-Express-Büro und schlenderte wieder durch die Arkaden. Er würde nicht mehr allzu lange in Athen bleiben. Bald würde der Richtige Tag kommen, und er würde ein Flugzeug nach Kreta nehmen, um sich den Palast von Knossos und das Museum minoischer Kultur in Heraklion anzusehen – und dann nach Hause fliegen. Dort würde er sich um eine Stelle in einer Anwaltskanzlei bemühen, wahrscheinlich in New York. Er hatte noch ungefähr achthundert Dollar in Reiseschecks und ein bißchen Bares übrig. Sein Geld hatte erfreulich gut

Rydal fand sich unter den Arkaden vor der Glastür des Café Brasil wieder, als er aus seinen Gedanken in die

Dann blieb Rydal jählings stehen. Der Mann, der mit Niko gerade sprach, hatte bemerkenswerte Ähnlichkeit mit seinem Vater. Die blauen Augen waren dieselben, die vorspringende Nase, die Farbe des Schnurrbarts. Dieser Mann war jünger, etwa vierzig, und auch massiger und mit etwas rosigerem Teint, aber die Ähnlichkeit war dennoch so erstaunlich, daß Rydal ihn am liebsten gefragt hätte, ob er mit ihm verwandt sein könne und ob er möglicherweise den Namen Keener trage. Die Keeners hatten Vettern in England, und dieser Mann mochte Engländer sein – obwohl seine Kleidung eher amerikanisch aussah. Der Mann warf jetzt den Kopf in den Nacken und lachte, ein herzliches Lachen, das bis zu Rydal hinüberscholl und ihn ebenfalls lächeln ließ. Nikos Hand fuhr bereits wieder unter seine Schwämme, doch Rydal hatte kurz etwas Weißes aufblitzen sehen; vielleicht hatte er Perlen verscherbeln wollen. Der Mann mit dem rosigen Teint im dunklen Mantel hatte Nikos Angebot abgelehnt, kaufte ihm aber einen Badeschwamm ab. Rydal verschränkte die Arme und blieb abwartend neben dem Zeitungskiosk an der Ecke stehen. Er

Er kam auf Rydal zu. Rydal ließ ihn nach wie vor nicht aus den Augen und erkannte sogar in seinem Gang die selbstsicheren Schritte seines Vaters. Der Schwamm beulte dem Mann die Manteltasche aus. In der linken Hand hielt er einen neu aussehenden Guide Bleu. Er warf Rydal einen kurzen Blick zu, sah beiseite und dann wieder hin, inzwischen war er schon auf Rydals Höhe und wandte deshalb den Kopf, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Rydal starrte zurück, und diesmal war es kein Spiel, er wartete nicht auf irgendein Zeichen, sondern er war einfach nur fasziniert, ja gefesselt von der Ähnlichkeit dieses Mannes mit seinem Vater. Endlich wandte der Mann den Blick von Rydal ab, der ihm daraufhin folgte, wenn auch etwas langsameren Schrittes. Der Mann sah über die Schulter zurück, bemerkte Rydal, beschleunigte sein Tempo, rannte sogar kurz über die Venizelou-Straße und wurde dann im unpassendsten Moment langsamer – vor einem herannahenden Auto –, als wollte er den Eindruck vermitteln, er habe keine Eile. Jetzt hatte er das Grande Bretagne passiert, dabei hätte Rydal erwartet, daß er dort wohnte. Rydal behielt ihn im Auge, doch sein Interesse ließ bereits nach. Und wenn es tatsächlich ein Cousin aus England war? Was tat das schon? Der Mann betrat das King’s Palace Hotel durch die Eingangstür an der abgeschrägten Gebäudeecke und sah sich noch einmal um – Rydal konnte nicht sagen, ob er ihn dabei bemerkte –, bevor er hineinging.

Es war dieser letzte Blick zurück, der Rydals Argwohn

Rydal ging langsam zurück zu Niko und kaufte ihm zwei Lose ab. »Wer war denn dein Freund?« fragte Rydal.

»Wen meinst du?« fragte Niko lächelnd und entblößte dabei seinen bleigefaßten Vorderzahn und die Lücke daneben.

»Den Amerikaner, der gerade einen Schwamm bei dir gekauft hat«, erklärte Rydal.

»Ach, weiß nicht. Hab ihn erstes Mal gesehen. Netter Mann. Hat mir zwanzig Drachmen extra gegeben.« Niko bewegte sich, und die Schwämme schwankten. Die großen, schmutzigweißen Turnschuhe und seine Beine, soweit sie unter dem Vorhang von Schwämmen zu sehen waren, stampften langsam auf der Stelle wie die Füße eines rastlosen Elefanten. »Warum fragst du?«

»Och, nur so«, sagte Rydal.

»Menge Moneten«, sagte Niko.

Rydal grinste. Er hatte Niko dieses Wort und noch massenhaft weitere Slangausdrücke für Geld beigebracht – ein Thema, dem Niko äußerst zugetan war. »Aber Sore hast du ihm keine unterjubeln können?«

»Unterjubeln?« fragte Niko verwirrt.

Niko kannte zwar »Sore«, aber nicht »unterjubeln«.

»Du konntest ihm keinen Schmuck verkaufen?«

»Ach so!« Niko wedelte kaum sichtbar mit der Hand unter den Schwämmen und lachte in einer plötzlichen und untypischen Verlegenheit laut auf. »Er wird es sich überlegen, hat er gesagt.«

»Worum ging’s denn?«

Rydal nickte, und das Armband verschwand sofort wieder. »Wieviel?«

»Für dich – vierhundert Dollar.«

»Uff«, sagte Rydal unwillkürlich, obwohl die Perlen das wohl durchaus wert waren. »Na, dann viel Spaß mit dem reichen Amerikaner.«

»Der wird schon wiederkommen«, sagte Niko.

Und damit hatte Niko wahrscheinlich recht, dachte Rydal. Niko hatte seit seiner Jugend als Hehler und Bote für Diebe gearbeitet, und er konnte Menschen hervorragend einschätzen. Erst jetzt wurde Rydal klar, daß etwas an dem Amerikaner mit dem rosigen Teint einen irgendwie unehrlichen Eindruck gemacht hatte, sogar während der wenigen Sekunden, die ihn Rydal im Gespräch mit Niko beobachtet hatte. Rydal konnte nicht recht sagen, woran es lag. Auf den ersten Blick wirkte der Mann wie ein fröhlicher, gesprächiger Typ, freimütig wie ein kleines Kind. Aber er hatte zweifellos etwas Verstohlenes an sich gehabt, als er auf sein Hotel zugegangen war. Der Mann würde vermutlich zurückkehren und Niko dieses Armband abkaufen, und welcher ehrliche oder auch nur einigermaßen vorsichtige Mensch kaufte schon echte Perlen von einem Straßenhändler, der Schwämme verhökert? Vielleicht war der Bursche ein Spieler, dachte Rydal. Es war ein komischer Zufall, daß der Mann ausgerechnet seinem Vater so ähnlich sah – Professor Lawrence Aldington Keener von der

Drei Tage später sah Rydal den rosigen Amerikaner wieder. Er hatte ihn in der Zwischenzeit vergessen, oder falls ihm der Mann noch einmal in den Sinn gekommen war, so hatte er gedacht, er sei inzwischen weitergereist; aber dann, eines Mittags, lief er ihm im Benaki-Museum über den Weg, mitten bei den alten Trachten. Es war eine Frau bei ihm, eine junge, recht elegante Amerikanerin, die fast zu jung war, um wie seine Gattin auszusehen. Doch daran, wie der Mann sie immer wieder ebenso zärtlich wie besorgt am Ellenbogen berührte, an seiner gutgelaunten Art, umherzugehen und mit ihr zu plaudern, während sie mit sichtlichem Vergnügen die bestickten Röcke und Blusen der Puppen in den Schaukästen betrachtete, merkte Rydal, daß sie entweder verliebt oder frisch verheiratet waren. Der Mann trug seinen Hut in der Hand, und Rydal sah jetzt auch seinen ausgeprägten Hinterkopf, genau wie bei seinem Vater, und das Haar an den Schläfen war ebenso schütter wie das seines Vaters, verebbte wie Wasser entlang der Küstenlinie. Die Stimme war tief und kräftig, ein wenig gepreßter als die seines Vaters. Er schien leicht und gern zu lachen. Dann, nach rund fünf Minuten, sah die Frau Rydal ohne Umschweife an, und Rydal blieb einen Sekundenbruchteil lang das Herz stehen, dann pochte es rascher. Rydal schlug die Augen nieder und sah von ihr weg, blickte aber statt dessen auf den Mann, der sofort, als er ihn erkannte, die Stirn runzelte und überrascht den Mund

Keine Minute später waren der Mann und die Frau verschwunden. Der Mann hatte sich bestimmt beschattet gefühlt. Rydal hatte ihn verunsichert, und am liebsten wäre er geradewegs ins King’s Palace Hotel hinübergegangen und hätte ihn in der Lobby abgepaßt, um ihm zu versichern, daß er nichts Böses im Schilde führe und keinerlei Absicht habe, ihm nachzustellen. Dann aber kam ihm das doch ein wenig übertrieben und auch irgendwie albern vor, also verwarf er den Gedanken. Er ging langsam durch das Museum und fühlte sich plötzlich allein, traurig und etwas entmutigt. Inzwischen wußte er, was ihn an der jungen Frau so fasziniert hatte, doch es beunruhigte und irritierte ihn, daß sein Herz es so lange vor seinem Verstand oder auch nur seiner Erinnerung erkannt hatte: Sie war ebenso sexy und verführerisch, besaß denselben sanften, etwas unbeholfenen Charme wie seine Cousine Agnes mit fünfzehn.

»Teufel auch«, sagte sich Rydal leise, während er einen breiten Boulevard entlangging. »Teufel auch«, zu niemand Bestimmtem und ohne dabei an jemand Speziellen zu denken.

Die Frau hatte blaue Augen gehabt, und die von Agnes waren braun. Agnes hatte dunkelbraunes, diese Frau dagegen eher rötliches Haar. Dennoch war da etwas. Was war es nur? Der Mund? Ja, ein bißchen. Vor allem aber war es ihr Blick gewesen, fand er. Er war seit damals nie wieder darauf hereingefallen, versicherte sich Rydal. Aber hatte er so einen Blick überhaupt je wiedergesehen? Nein. Also, es war

An diesem Abend, bei Pans Geburtstagsfest im Haus seiner Familie in der Nähe der Bibliothek des Hadrian, trank Rydal ein paar Gläser mehr Ouzo, als ihm guttat, und mußte wieder an den Amerikaner mit der rosigen Gesichtsfarbe denken – an seinen Vater vor zwanzig Jahren –, wie er gerade mit der wohlgerundeten jungen Frau ins Bett ging, deren rötliches Haar und blaue Augen sich ständig in Agnes’ braunes Haar und braune Augen verwandelten. Aber die weichen roten Lippen waren dieselben. Auf der Party war Rydal schlecht gelaunt. Während der letzten Stunde gab er sich große Mühe, eine bissige Bemerkung Pans Freundin gegenüber wiedergutzumachen. Am nächsten Morgen erwachte er mit einem leichten Kater und schrieb ein vierzeiliges Gedicht über »den marmornen Genius« seiner Jugendliebe.

Am Montag fuhr er zum fünften oder sechsten Mal mit dem Bus nach Delphi und verbrachte dort den Tag.

Die Erinnerung an den Amerikaner mit den rosigen Wangen und seine Frau, die einen an Sex denken ließ, nagte immer noch an ihm. Er übertrieb die Ähnlichkeit

An seinem dritten Tag in Athen hatte Chester einen beruhigenden Brief von Bob Gambardella bekommen, seinem Mann in Milwaukee. Darin stand unter anderem:

Lieber Mac,

keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten, und so stehen die Dinge hier. Sieben neue Anteilszeichner diese Woche, die Einnahmen angelegt wie üblich, abzüglich meiner Provision. Erwarte Deine Instruktionen zur bevorstehenden halbjährlichen Dividendenausschüttung bei Canadian Star …

Das bedeutete, daß Bob bislang keinen Ärger mit der Polizei bekommen hatte. Es war schon der zweite Brief von Bob, und in Paris hatte er einen von Vic bekommen, seinem Verkäufer in Dallas. Die Polizei war also weder an Vic noch an Bob herangetreten, um sie zu fragen, ob sie einen Howard Cheever oder einen William S. Haight oder, Gott bewahre, einen Chester MacFarland kannten. William S. Haight war der Name, den Chester auf die Dividendenschecks als Schatzmeister der Canadian Star Company, Inc. setzte. Sieben neue Anleger, das klang recht gut, dachte Chester, wenn man in Betracht zog, daß er Bob letzten

Die Unimex Company war eine nicht existierende Offshore-Ölgesellschaft, deren Vorkommen sich angeblich nahe der texanisch-mexikanischen Grenze befanden. Die Firma hatte ihm über eine Million Dollar aus Aktien eingebracht, die er zu acht Dollar pro Stück angeboten hatte. Chester konnte dafür die von einem beglaubigten Buchprüfer gezeichnete Geschäftsbilanz vorweisen, die bescheinigte, daß die Vermögenswerte von Unimex sich auf über sechs Millionen Dollar beliefen, und er hatte sogar schon New Yorker Aktienhändler losgeschickt, um bestimmte Ölförderplattformen im Golf von Mexiko zu inspizieren, die allerdings anderen Besitzern gehörten. Ursprünglich hatte er eine sehr kleine verlassene Plattform gekauft, aber er behauptete, viele hundert Quadratkilometer ringsherum ebenfalls zu besitzen. Die Unimex und die Canadian Star waren inzwischen Chesters wichtigste Einkommensquellen.

Nach ein paar Tagen in Griechenland war Chester allmählich leichter ums Herz. Er genoß die fremdartigen

In ihren sechs Tagen in Athen hatten Chester und Colette zweimal mit dem Guide Bleu