1.png

Katharina Weck
Der Chemoritter am Küchentisch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Wo nicht anders vermerkt, sind die verwendeten Bibelstellen gekennzeichnet mit (LUT) entnommen aus: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, und gekennzeichnet mit (Neues Leben) aus: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2009 und 2017 SCM, R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.

© 2019 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Agentur 3Kreativ, Essen, unter Verwendung eines Bildes

von © Shutterstock/Followtheflow

Lektorat: Anja Lerz, Duisburg

DTP: Breklumer Print-Service, www.breklumer-print-service.com

Verwendete Schrift: Scala, Scala Sans

Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG

ISBN 978-3-7615-6663-3 E-Book

www.neukirchener-verlage.de

Für meine Eltern Klaudia & Wolfgang

Für meine Mama, weil sie mich gelehrt hat, die Dinge so zu packen wie sie kommen und das Lachen dabei nicht zu verlieren.

Für meinen Papa, weil er sich mit mir, damals wie heute, zu nachtschlafender Zeit an den Küchentisch setzt, um mir die Welt zu erklären.

Danke für eure bedingungslose Liebe.

Ein Krebs, der mich fast um den Verstand gebracht und paradoxerweise ruhig gemacht hat. Versöhnt mit all dem Schrecklichen der Welt, das plötzlich an unserem Tisch saß und wie selbstverständlich von unseren Speisen aß. 

Denn egal, wie laut ich schrie und trampelte, es blieb.

So nahm ich all meinen Mut zusammen und sah dem Schrecklichen ins Gesicht, schaute ihm lang und tief in die Augen und wurde still, wollte verstehen, was es bei uns, in unserem Heim, in dem Körper unseres Sohnes will.

Und da sah ich es, all das Leid, ein Leid, das ich zuvor nicht gekannt habe. Ich erschrak, wollte zurückweichen, irritiert, angsterfüllt, doch ich hielt inne, da war noch etwas. Ich sah mich, wie ich mich ärgerte, über Wäscheberge, über die Kita, über das Wetter, über das Chaos im Haus, über eine Magen-Darm-Grippe im Urlaub, sah, wie ich mehr wollte, meinen Master abschließen, forschen, einen guten Job machen, ich sah mich überfordert, sah meine Unruhe und meine Unzufriedenheit. 

Ich lehnte mich zurück und merkte, dass ich das alles gerade nicht spürte, dass ich frei war, frei von Alltagssorgen.

Ich verstand: Das war also das Schöne im Hässlichen, ich schaute mich um, sah die Sonne, hörte Vögel, nahm das Gras unter meinen Füßen wahr, ich roch das Moos, schmeckte den Tee auf meiner Zunge, merkte, wie er warm meine Kehle hinunterfloss, ich hörte die Jungs vor Freude kreischen, fühlte die warme Hand meines Mannes auf meiner Schulter, ich sah das Schöne, hier und jetzt und merkte, dass sich ein intensiver Moment der Zufriedenheit ausbreitete. Ich drehte mich um und sagte dem Schrecklichen, dass es bleiben darf, dass es anscheinend dazu gehört, aber nicht für immer!

Winter Anfang 2017

Der Nachtschreck

Ich reiße meine Augen auf, es ist mitten in der Nacht, mein Körper ist müde und schwer, da höre ich es wieder: Jemand schreit im Nebenzimmer. Ich brauche einige Sekunden, um klar zu werden, dann stürze ich in das Zimmer von Phileas, unserem fünfjährigen Sohn. Er sitzt aufrecht im Bett und schlägt um sich, er schreit, scheint gar nicht richtig da zu sein.

Ich versuche, beruhigend auf ihn einzureden und ihn in den Arm zu nehmen, vergebens, er schreit weiter, völlig außer sich, mit verschwitzten Haaren und geballten Fäusten schlägt er um sich. Verzweiflung breitet sich in mir aus, was ist nur mit ihm los? Warum kann ich ihn nicht beruhigen, ihn nicht halten?

Seit drei Wochen geht das schon so, immer wieder wird er nachts schreiend wach, flucht, schlägt blind um sich. Ich bleibe auf der Bettkante sitzen, er wird ruhiger, hält sich sein Knie, fängt an zu wimmern, sinkt dann erschöpft in sein Kissen, um im nächsten Moment einzuschlafen.

Ich versuche, ruhig zu atmen. Liegt es daran, dass ich seit Januar wieder arbeite? Ist das seine Art zu sagen: „Mama bleib zu Hause, ich mag nicht, wenn ich aufwache und du schon aus dem Haus bist!“? Oder ist es der „Nachtschreck“, „Pavor nocturnus“, von dem ich gelesen habe? Ein Phänomen, das auftritt, weil das kindliche Gehirn den Übergang vom Tief- in den Traumschlaf noch nicht gelernt hat; während der Körper des Kindes wach ist, schläft das Bewusstsein noch. Ja, wahrscheinlich ist es das und der Nachtschreck kommt bei unserem Sohn einfach besonders oft!

Ich gehe wieder rüber in mein Bett, es ist noch warm, mein Wecker ist auf 5.30 Uhr gestellt, ich sollte schlafen, kann es aber nicht. Mein Bauch meldet sich, er flüstert, hier stimmt etwas nicht.

Morgen habe ich ein wichtiges Hilfeplangespräch, die betroffene Pflegefamilie braucht eine wache Sozialpädagogin, ich muss schlafen, wälze mich hin und her, versuche mein Bauchgefühl zum Schweigen zu bringen. Mir geht ein Lied von Sefora Nelson durch den Kopf: „Lege deine Ängste nieder, die Gedanken in der Nacht, Frieden gebe ich dir wieder, Frieden hab´ ich dir gebracht.“1 Dann endlich schlafe ich ein.