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Maximilian Reich

Reisemuffel
an Bord

Ein Stubenhocker fliegt
um die Welt

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

Die Rechte für die Fotografien im Innenteil und auf dem Buchumschlag liegen beim Autor.

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Lektorat: Nadine Lipp, Berlin

Für

Barbara
Michael
Sophie
Valentin

Inhalt

Prolog

1Deutschland

2Transsibirische Eisenbahn

3Spanien

4Brasilien

5USA

6Katar

7Südkorea

8Argentinien

9Jakobsweg

10Indien

11Thailand

12Brasilien (schon wieder)

13Tansania

Epilog

Um eins gleich klarzustellen: Dies ist kein klassisches Reisebuch! Wer erfahren möchte, wo die Hotspots von Santorin liegen, oder mehr über die Sehenswürdigkeiten von Marrakesch lesen möchte, kann das Buch jetzt in den Müll werfen. Denn so was wird er hier nicht finden. Ich hasse reisen. Sie können sich ja gerne in die engen Flugzeugreihen quetschen und Ihren Magen mit orientalischen Gewürzen malträtieren – ich verzichte jedenfalls. Der Urlaub, den ich mir verdient habe, findet auf meinem Sofa vor dem Fernseher statt. Gott lebt in Frankreich? Da kann ich nur sagen: selbst schuld.

Das Leben in meiner Wohlfühlzone war schön – bis der Reiseredakteur einer kleinen Zeitschrift Vater wurde. Der Arsch. Seitdem schickt der Chefredakteur mich an seiner Stelle durch die Welt. In Pamplona spießen mich beinahe Stiere auf, in Thailand verprügeln mich Kung-Fu-Kämpfer, und in Brasilien bedroht das Drogenkartell mein Leben. Falls ich es noch nicht erwähnt habe: Ich hasse reisen.

Und noch was: Wie heißt es so schön, die Handlung basiert auf wahren Begebenheiten. Einiges ist also wahr. Leider. Manches habe ich allerdings dazugedichtet, weil das Leben ohne Hilfe halt doch nicht die schönsten Geschichten schreibt. So sind auch alle Personen und Einrichtungen frei erfunden. Ähnlichkeiten wären reiner Zufall. Deshalb ist das Buch als Fiktion zu betrachten.

Prolog

Eine Krankenschwester steht an der Rezeption der Ambulanzstation und füllt ein Formular aus. Sie hat die blonden Locken eines Erzengels und den schlanken Körper einer Zirkus-Akrobatin, an den sich ihr taillierter Schwesternkittel schmiegt wie ein notgeiler Rentner beim Tanztee. Sie ist wirklich wunderschön. Bloß schade, dass sie so ein Arschloch ist.

»Señor, nehmen Sie wieder Platz und warten Sie, bis ich Sie aufrufe«, bellt sie mich auf Spanisch an. Aber so lasse ich nicht mit mir reden. »Ich tun. Seit Stunde. Nicht zufrieden. Haben Schmerzen.« Verdammt. Es ist wirklich schwer, jemanden anzublaffen, wenn man bloß ein Semester Spanisch hatte und die Lektionen Titel trugen wie: »Sabine und Paco besuchen den Gemüsemarkt!«

Ich wünschte, die Krankenschwester würde mir eine faulige Tomate in die Einkaufstüte packen, dann könnte ich ihr jetzt ordentlich die Meinung geigen. So muss ich mich leider auf meinen Grundwortschatz beschränken. »Man nur sagen kann: Spanien ist eine …« Mist. Was heißt auf Spanisch »Service-Wüste«?

Die Schwester blickt mich erwartungsvoll an.

Servicio Wüsto?

Argh, es ist zum Haareraufen. Ich bin gefangen in einem Sprachkäfig und komme nicht hinaus. »Wann Doktor hier?«, rufe ich und stemme die Fäuste in die Hüfte: »Grrrrr!«

»Er kommt, wenn er kommt«, entgegnet die Schwester unbeeindruckt und widmet sich wieder ihrem Formular. Selbst ich verstehe, dass eine weitere Diskussion zwecklos wäre.

»Sehr Hilfe. Vielen Dank«, zetere ich und humple zurück in den Wartebereich. Ein brennender Schmerz schießt mir ins linke Bein, als ich auf einen Stuhl sinke. Vorsichtig kremple ich mein dreckiges Hosenbein hoch. Eine Fleischwunde klafft über meinem Knie. Außerdem sind meine Handflächen aufgeschürft, und nun drückt auch noch etwas gegen meinen Po. Na toll. Wenn ich jetzt auch noch Hämorrhoiden bekomme, erschieß ich mich. Mit der linken Hand taste ich an mein Gesäß und ziehe ein schwarzes Moleskine-Büchlein heraus, das ich immer bei mir trage. In der Aufregung habe ich das komplett vergessen. Ich hatte es in einem kleinen Schreibwarenladen gekauft, einen Tag nachdem ich den Auftrag bekam für meine erste Reisekolumne. Es sollte mir später am Schreibtisch beim Verfassen meiner Artikel helfen, die Erlebnisse auf meinen Reisen wieder in Erinnerung zu rufen. Ich weiß noch, wie damals alle zu mir sagten: »Reisen sind eine Bereicherung fürs Leben.«

»Reisen sind die beste Art der Fortbildung.«

»Reisen sind wie eine Droge, von der man immer mehr will.«

Nun hocke ich hier in Pamplona in einem Krankenhaus. Mein Knie blutet, und ich finde, Reisen sind vor allem eins: scheiße.

»Señor … Klopf…bikler!?«

Ein älterer Herr in einem weißen Arztkittel steht in der Tür zum Wartezimmer und blickt auf das Klemmbrett in seiner Hand. Na endlich.

»Klopfbichler«, korrigiere ich ihn. »Das bin ich.« Schwerfällig richte ich mich auf und folge dem Arzt über einen schmalen Flur mit Neonröhren an der Decke in ein kleines Untersuchungszimmer. Er deutet auf eine Liege an der Wand. »Nehmen Sie bitte Platz.«

Unter meinem Po rutscht der Hygienebezug auf der Liege, als ich mich daraufsetze, und meine Beine baumeln in der Luft wie bei einem dreijährigen Kind auf der Schüssel. Der Arzt macht einen Vermerk auf seinem Klemmbrett und dreht sich schließlich zu mir um. »So, Herr Klopfbikler …«

»Klopfbichler.«

»… dann erzählen Sie mal, was passiert ist.«

1

Deutschland

Angefangen hat alles an einem Dienstagmittag gegen zwölf Uhr. Mein Mitbewohner Thorben steht plötzlich in meinem Schlafzimmer und hält eine Einkaufstüte hoch, wie Conan der Barbar einen abgeschlagenen Schädel. »Daniel, so geht das nicht.«

Verschlafen reibe ich mir die Augen. »Hm?«

»Du musst aufhören, die Rewe-Bestellungen zu mir in die Praxis liefern zu lassen.«

»Wo liegt das Problem?«, frage ich und richte meinen Oberkörper mühsam auf, um ihn gegen die Kopfstütze des Boxspringbetts zu lehnen. Es steigert die eigene Autorität bei einer Debatte ungemein, wenn man dabei nicht in der Embryonalstellung liegt. »Wenn du in der Mittagspause nach Hause kommst, kannst du die Einkäufe doch mitbringen. Dann muss ich nicht extra aufstehen und dem Lieferanten die Tür aufmachen.«

»Das Problem ist, dass ich Heilpraktiker bin und in meinem Wartezimmer fast ausschließlich Veganer sitzen. Die waren nicht sehr erfreut, als der Lieferant mit deinen Weißwürsten in meiner Praxis aufkreuzte.«

Ich muss schmunzeln bei der Vorstellung, wie ein wütender Mob von Ökos mit Akupunkturnadeln auf den armen Supermarkt-Angestellten einsticht und kreischt: »Mörder!«

»Schön, wenn wenigstens du dich darüber amüsieren kannst.« Thorben schüttet den Inhalt der Tüte auf meinem Bett aus.

Maultaschen, Weißwürste, Minuten-Steaks und Spezi-Dosen purzeln über meine Decke.

»Und das, worum ich dich gebeten habe, Chiasamen für meine Frühstücks-Bowl, hast du nicht einmal mitbestellt.«

Oh, oh. Verlegen lächle ich Thorben an. »Witzige Geschichte …«

»Ich kann da überhaupt nicht drüber lachen.«

Ich mache ein betroffenes Gesicht. »Tut mir leid. Okay?«

»Nee, nicht okay, Daniel. Wir hatten einen Deal. Ich halte die Wohnung sauber und du erledigst dafür die Einkäufe.«

»Na ja, hab ich ja in gewisser Weise auch.«

»Nein! Du bestellst bloß Essen, das dir schmeckt. Wenn ich noch einmal Weißwürste zum Frühstück essen muss, springe ich vom Balkon.«

»Als du noch in Düsseldorf gewohnt hast, hast du dich doch immer gefreut, wenn du zu Besuch kamst und es Weißwürste gab.«

»Die sind ja auch lecker.« Thorben brüllt nun beinahe. »Aber mittlerweile wohne ich hier und ich will sie nicht jeden Morgen bis zum Rest meines Lebens essen!«

»Na, bald musst du das ja sowieso nicht mehr!«, brülle ich nun zurück. »Ich bin sicher, Maike füttert dich jeden Morgen mit Superfood.«

Am Abend zuvor hatte Thorben mir offenbart, dass er und seine Freundin zusammenziehen wollen und eine Wohnung suchen. Eine Botschaft, die ich immer noch nicht verdaut habe. Ich verliere nicht nur meinen besten Freund, sondern muss auch noch zusehen, wie ich in Zukunft die Miete ohne seinen Anteil stemme. Der Gedanke an einen neuen Mitbewohner drückt auf meinen Brustkorb, als parke ein Lieferwagen darauf. Ich hasse fremde Menschen.

Im bumsvollen Bus legen sie ihren Rucksack auf den Nebenplatz und gucken zu, wie die anderen Fahrgäste stehen müssen. Sie wählen die AfD in den Bundestag, bleiben auf der Rolltreppe auf der linken Seite stehen und arbeiten für die GEZ. Auf keinen Fall möchte ich, dass so ein AfD-wählender Rolltreppenverstopfer in meiner Badewanne liegt.

Das Klingeln meines Handys unterbricht unseren Streit. Mit einem ärgerlichen Grunzen verlässt Thorben mein Zimmer, und ich schiebe mich über die Matratze, um nach meinem Telefon auf dem Boden zu greifen.

Am anderen Ende der Leitung ist der Chefredakteur einer kleinen Lifestyle-Zeitschrift, für die ich als freier Autor schreibe. Ich steige aus dem Bett, um besser telefonieren zu können.

»Hi, Arthur«, sage ich. »Was gibt’s?«

»Hast du die Neuigkeiten schon gehört? Jakob ist Vater geworden.«

Jakob arbeitet für dieselbe Zeitschrift wie ich und betreut dort das Reise-Ressort. Als ich Jakob das letzte Mal gesehen habe, war er gerade von einer Floßfahrt durch Borneo zurückgekehrt. Sein Gesicht war eingefallen vom Durchfall, und seinen Arm schmückten so viele Mückenstiche, dass man meinen konnte, eine blinde Fußballmannschaft hätte drauf in Brailleschrift unterschrieben. Oder wie Jakob meinte: »Der geilste Trip ever.« Ich konnte mir diesen Ausspruch nur damit erklären, dass eine der Mücken ihn mit einer Hirnhauterkrankung infiziert hatte. Aber Jakob ist auch keiner von denen, die wie ich ein iPhone mit 64 Gigabyte besitzen, sondern das Land Rover Explore Outdoor-Handy mit GPS Signalverstärkung. Das arme Baby, denke ich. Bestimmt muss es seine Nahrung erst im Wald selbst erlegen.

»Ah«, sage ich. »Schön für ihn.«

»Jedenfalls habe ich gerade mit ihm telefoniert, und er meinte, dass er jetzt erst mal gerne mehr Zeit mit seiner Familie verbringen möchte.«

RUMS. Krachend fällt im Flur die Wohnungstür ins Schloss.

»HALT, WARTE«, rufe ich Thorben hinterher. Aber mein Mitbewohner hört mich nicht mehr. Mist. Ich hätte den Streit gerne beigelegt, bevor er wieder zurück in die Arbeit geht. Na ja, sei’s drum. Glücklicherweise neigen esoterische Physiotherapeuten nicht dazu, besonders nachtragend zu sein.

»Hallo?«

»Sorry, Arthur. Was hast du gesagt?«

»Jakob will mehr Zeit mit seiner Familie verbringen.«

»Kann ich verstehen.«

»Das ist gut. Ich möchte nämlich, dass du seine Reisekolumne übernimmst.«

»Was? Nein, auf keinen Fall«, widerspreche ich energisch, wobei sich meine Stimme überschlägt. Wie immer, wenn ich aufgeregt bin. Thorben behauptet, ich klinge dann wie eine Disney-Fee, der man auf den Flügel getreten ist. Die einzige Person, die vermutlich genauso ungerne ins Ausland reist wie ich, ist Amanda Knox. Im Gegensatz zu der Amerikanerin musste man mich dafür allerdings nicht erst wegen Mordes unschuldig in ein italienisches Gefängnis stecken. Eine Urlaubsreise ist für mich wie ein Analbleaching. Ich habe keinen Schimmer, warum das so viele Menschen machen. Hier in München habe ich doch alles, was ich brauche. Ich kenne die Speisen, die ich zu mir nehme, und wenn ich ausnahmsweise mal das Haus verlasse, muss ich niemanden mit Händen und Füßen nach dem Weg fragen. Wenn New York so toll ist – wieso kommen dann so viele Amerikaner jedes Jahr nach München? Ein TUI-Urlaub ist auch bloß wie ein Victoria’s-Secret-Model. Beides sieht im Katalog besser aus als in der Realität. In England ist das Essen schlecht. In Spanien sind zu viele Touristen, Skandinavien ist zu teuer, und in Griechenland kriegt man schneller Sonnenbrand, als man »Hautmelanom« sagen kann. Ich weiß das, ich bin nämlich schon durch alle Länder-Themenbereiche im Europapark Rust bei Ringsheim gelaufen.

»Ich hasse reisen!«

»Ich weiß«, sagt Arthur, »genau deshalb habe ich ja an dich gedacht.«

Weil ich als Journalist per se neugierig bin, bohre ich wortgewandt nach: »Häää?«

»Na, das könnte der Gag an den Geschichten sein. Ein Reisemuffel auf Tour. Das ist mal was anderes als die klassischen Travel-Berichte, die man sonst überall liest.«

»Kann Jakob den Knirps nicht einfach mitnehmen?«

»Nein, bestimmt nicht.«

»Und wenn ich die Reisegeschichten von zu Hause aus schreibe? Mit Google Street View kann man heutzutage doch jede Stadt der Welt vorm Computer besichtigen.«

Arthur schnauft. »Daniel, jetzt stell dich nicht so an. Du bekommst die ganze Welt zu sehen.«

»Und obendrein eine Thrombose auf dem Hinflug.«

»Du sammelst neue Erfahrungen.«

»Zum Beispiel, wie gegrillte Kakerlaken schmecken.«

»Du lernst neue Sprachen.«

»Mhm, ja, ›Hilfe, mich hat ein Skorpion gestochen‹ auf Suaheli.«

»Du würdest mehr Geld verdienen.«

»Und …« Ich stocke. »Ach so?«

»Natürlich.«

»Wie viel bekäme ich denn?«

»1500 Euro pro Artikel.«

Uff. Bisher kümmere ich mich um die Seite mit den Produktneuheiten sowie einen Psychotest am Ende des Heftes. Dafür erhalte ich insgesamt gerade mal 800 Euro. Weil die Zeitschrift alle zwei Wochen erscheint, komme ich damit am Ende des Monats auf 1600 Euro. Gerade genug, um über die Runden zu kommen. Mit dem zusätzlichen Geld könnte ich Thorbens Mietausfall auffangen und müsste keinen neuen Mitbewohner in meine Wohnung lassen.

»Ich will 2000 Euro«, sage ich schließlich.

Arthur stößt einen Pfiff aus. »In Ordnung. Damit sind dann aber auch sämtliche Spesen abgedeckt. Hotels und Flugtickets natürlich ausgenommen.«

»1900 Euro ohne Spesen.«

»Abgemacht.«

Ich seufze: »Na schön, dann mach ich’s.«

»Klasse! Danke, Daniel.« Arthur legt auf und ich lasse mich rücklings auf die Matratze fallen. Reisejournalist. Ausgerechnet ich. Warum passieren die schlimmen Dinge immer nur den guten Menschen?

2

Transsibirische Eisenbahn

In den nächsten Tagen baumelt die erste Reise wie ein Damoklesschwert über meinem Kopf. Jedes Mal, wenn mein Laptop mit einem lauten »Bing« eine neue E-Mail ankündigt, setzt mein Herz aus. Es ist ein bisschen wie mit dem Sterben: Ich weiß, dass es früher oder später passieren wird. Ich hoffe allerdings, dass es erst später sein wird. Sehr viel später. Beides gerne erst, wenn ich hundert Jahre alt bin. Aber leider erwischt es mich bereits am darauffolgenden Freitag. Ich meine den Auftrag für meine erste Reise. Nicht den Tod. Falls es da einen Unterschied gibt. Ich habe mich gerade im Bademantel auf einen Stuhl in unserer WG-Küche plumpsen lassen, um meine E-Mails zu checken. Zwei neue Nachrichten blinken auf. Die erste Nachricht ist eine Spam-Mail von einer Ägypterin, die ein Darlehen von 10 000 Euro benötigt, um an ihr Millionen-Erbe zu kommen. Die zweite Nachricht kommt von Arthur und hat den Betreff: »Auftrag«. Mit nervösen Fingern greife ich nach meiner Packung Gauloises auf der Küchenspüle und zünde mir eine Zigarette an. Ich gucke mich in der Küche um, finde aber keinen Aschenbecher. Bestimmt hat Thorben ihn in die Spülmaschine gesteckt, die gerade eifrig rattert.

Mein Blick fällt auf den Zen-Garten auf dem Fensterbrett. Ein Mitbringsel aus Japan, das Thorben und seine Freundin Maike von ihrer Rucksack-Tour durch Südostasien im letzten Sommer mitgebracht haben. Im Gegensatz zu mir verreisen die beiden nämlich für ihr Leben gern. In Thorbens Zimmer hängt eine Weltkarte aus Kork. Über jedem Land, wo die beiden schon waren, haftet ein Polaroid-Selfie. Sowohl Asien als auch Mittel- und Südamerika sind bereits übersät von grinsenden Thorben-und-Mareike-Grimassen. Es sieht aus wie eine Informationskarte der Weltgesundheitsorganisation, in welchen Teilen der Erde das Thorben-und-Maike-Virus vorkommt.

Ich asche in den Zen-Garten und öffne die E-Mail. Der Text ist denkbar knapp: »Machen! (s.u.)« steht da lediglich. Ich scrolle nach unten und finde die weitergeleitete Presseeinladung eines Reiseveranstalters:

Sehr geehrter Herr Arthur von Düben,

wir laden Sie – oder eine Ihrer Kolleginnen oder Kollegen – herzlich zu einer unvergesslichen sechzehntägigen Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn ein. Reisen Sie mit uns 8000 Kilometer von der verbotenen Stadt in China über die Wüste Gobi und weiter durch die atemberaubenden Landschaften der Mongolei bis nach Sibirien, und bestaunen Sie die goldenen Dächer Moskaus.

Haben wir Ihr Interesse geweckt? Dann freuen wir uns auf eine Bestätigung Ihrer Teilnahme.

Mit abenteuerlichen Grüßen

Ihr Reiseunternehmen Seeberger Adventures

Mein Magen fühlt sich an, als wäre ein schwerer Koffer daraufgeplumpst. Ich ziehe nervös an meiner Zigarette und lese die Einladung ein zweites Mal. Bei jedem Satz habe ich das Gefühl, jemand packt noch mehr in den Koffer, der auf meinen Magen drückt. Es war noch nie eine gute Idee, wenn Deutsche nach Russland gegangen sind. Steht in Sibirien nicht ein Straflager? Bestimmt nicht weil’s dort so schön ist. Unweigerlich flimmern Bilder des schroffen Star-Wars-Planeten Tatooine vor meinen Augen auf. Bloß ohne den fetten Jabba, dafür mit den Pussy-Riot-Aktivistinnen, die dort ihre Strafe verbüßen.

Und wo fängt die Reise an? Natürlich ausgerechnet in Peking. Von allen Ländern auf der Welt gibt es wohl keins, das sich von meiner Wohlfühlzone stärker unterscheidet als China. Sind die Schnitzel dort nicht aus Hundefleisch? Ich brauche unbedingt mehr Informationen über meine anstehenden Reiseziele. Ich drücke meinen Zigarettenstummel in die Harmoniewüste auf dem Tisch und tippe als Erstes »Sibirien« in meiner Google-Suchleiste ein. Auf Wikipedia lese ich, dass die Gegend neun Monate im Jahr von einer Schneedecke überzogen ist und die Winter bis zu minus 72 Grad kalt werden können. Kein Wunder, dass die Gegend dringend Werbung braucht und deshalb Journalisten einlädt. Ich zünde mir eine neue Zigarette an und studiere als Nächstes die Webseite des Auswärtigen Amts. Über China lese ich folgenden Warnhinweis: »Die Einfuhr oder der Besitz schon relativ geringer Mengen von Drogen kann zu hohen Freiheitsstrafen oder sogar zur Todesstrafe führen.«

Ich habe nur einmal in meinem Leben an einem Joint gezogen. Das war auf der Schulabschlussfahrt in der Toskana, und anschließend habe ich meiner Sozialkundelehrerin Frau Helmhein-Buschhuber auf den Rock gekotzt. Seitdem lasse ich die Finger von Drogen. Aber was ist, wenn mir ein Schmuggler das Zeug unterschiebt? Im Fernsehen habe ich mal einen Beitrag gesehen über einen Engländer, der am Flughafen in China mit 400 Gramm Heroin erwischt wurde. Der Mann war Familienvater und hatte stets beteuert, er wüsste nicht, wie die Drogen in sein Gepäck gekommen waren. Aber die chinesische Regierung hat ihm nicht geglaubt und ihn vor den Augen einer Schulklasse erschossen. Als abschreckendes Beispiel für die Kinder. Das ist schon was anderes als bei uns in Deutschland, wo Polizeimeister Habelmann und Polizeiobermeisterin Waldfercher damals zu mir in die 3b kamen und ein pädagogisches Puppentheater zu dem Thema aufgeführt haben. Und am Ende gab’s Schokoladentaler für alle, was ich persönlich ja besser finde.

Ich beschließe also, lediglich ein Handgepäck zu packen, da ich dies mit an Bord nehmen und besser im Auge behalten kann. Das bedeutet, dass ich mich auf das Notwendigste beschränken muss. Aber wenn ich zwischen dem Leben und ein paar zusätzlichen Unterhosen wählen muss, dann wähle ich das Leben.

Ich nehme einen tiefen Zug aus meiner Zigarette, um mich zu beruhigen. Vielleicht ist es besser, wenn ich nicht allzu viel über die Destinationen nachlese. Damit mache ich mich nur verrückt und absagen kann ich sowieso nicht. Ich brauche das Geld. Also schreibe ich dem Reiseveranstalter:

Sehr geehrtes Presseteam Seeberger,

mein Chefredakteur Arthur von Düben war so freundlich, mir Ihre großzügige Einladung weiterzuleiten. Sehr gerne werde ich die Reise an seiner Stelle antreten. Bitte schicken Sie mir die notwendigen Reiseunterlagen an diese E-Mail-Adresse.

Mit freundlichen Grüßen

Daniel Klopfbichler

Als ich fertig bin, drücke ich meine Zigarette in den Zen-Garten und tippe auf »Senden.« Anschließend gehe ich in den Keller. Irgendwo im Holzverschlag muss noch ein Trolley stehen, den ich mal als Abo-Prämie von der TV Spielfilm bekommen habe. Ich kämpfe mich vorbei an modrigen Umzugskisten und einem alten Lattenrost, den ich schon vor drei Jahren zum Sperrmüll hätte bringen sollen, und finde ihn schließlich hinten im Eck des Abteils, eingegraben unter den Brettern eines alten Billy-Regals. Ich buddle den Koffer aus und bringe ihn nach oben ins Badezimmer, wo ich ihn zunächst mit einem feuchten Lappen von allen Spinnweben befreie. Anschließend inspiziere ich gründlich seine Fächer. Es könnte schließlich sein, dass ein Nachbar sich Zugang zu unserem Abteil verschafft und meinen Koffer als Drogenversteck benutzt hat. Ich finde nichts Verdächtiges.

Knapp vier Wochen später sitzen mein gepackter Koffer und ich neben Thorben in einem silbernen VW Polo vor dem Münchner Flughafen. Missmutig blicke ich auf das gläserne Terminalgebäude. »Ich will da nicht hin«, maule ich wie ein Kind vor dem ersten Schultag nach den Sommerferien.

»Jetzt stell dich nicht so an. Das wird bestimmt super«, antwortet Thorben und klopft mir aufmunternd auf die Schulter. Das Gleiche hat meine Mutter auch immer vor dem ersten Schultag zu mir gesagt. Und es wurde nie super.

»Ich muss zu einer zweitägigen Fortbildung über Craniomandibuläre Dysfunktionen«, sagt Thorben.

»Wäre mir lieber, als sechzehn Tage durch die Arschritze der Welt zu tuckern.«

»Aber bloß, weil du nicht weißt, was Craniomandibuläre Dysfunktionen sind.«

»Hm.«

Eine Weile schweigen wir.

»Also dann …«, seufze ich und öffne die Beifahrertür. »Danke fürs Fahren.«

»Wart noch kurz.« Thorben greift nach hinten und holt ein Nackenkissen von der Rückbank hervor. »Maike und ich haben dir noch ein Geschenk besorgt für deine Reise.«

Das Nackenkissen ist grün und in der Mitte ist der Kopf des Ogers Shrek aufgemalt. »Wow. Das ist … ja lieb«, stammle ich. »Aber ich befürchte, das passt gar nicht mehr in meinen Trolley.«

»Das ist ja auch nicht fürs Gepäck, sondern für den Nacken«, sagt Thorben und legt mir das Ungetüm um den Hals. Ich mustere mich im Rückspiegel. Ich sehe aus, als hätte Shrek mich im Schwitzkasten.

»Und nach dem Flug kannst du ihn einfach mit der Schlaufe hier außen an deinen Koffer binden.« Er deutet auf eine Schnur auf der Rückseite des Kissens.

»Super«, seufze ich und steige aus dem Wagen. Ich winke Thorben noch hinterher, als er losfährt. Aber schon steckt er im Stau fest, weil vor dem Münchner Flughafen so viele Autos halten. Und einem Wagen zehn Minuten lang zuzuwinken, der direkt vor einem steht, ist irgendwie auch blöd. Also schnappe ich meinen Trolley und betrete das Terminal.

Bei der Sicherheitskontrolle hieve ich meinen Trolley auf das Beförderungsband. Ein stämmiger Sicherheitsbeamter kontrolliert meine Bordkarte.

»Haben Sie einen Laptop oder ein Tablet dabei?«

Ich schüttle den Kopf, was mit einem Oger-Nackenkissen um den Hals gar nicht so leicht ist.

»Flüssigkeiten?«

Ich nicke mit dem Kopf. »Cola.«

»Bitte mal rausholen.«

Artig ziehe ich den Reißverschluss meines Koffers auf und präsentiere eine Rewe-Tüte mit meinem Reiseproviant. Der Sicherheitsbeamte wirft einen Blick hinein und findet eine Packung Corny-Riegel, zwei Äpfel und eine Coca-Cola. Er fischt die Dose heraus. »Die muss hierbleiben. Keine Flüssigkeiten über hundert Milliliter.«

»Oh.«

»Haben Sie noch mehr dabei?«

Widerwillig schiebe ich zwei Pullis beiseite und zum Vorschein kommen fünf weitere Dosen. Wer weiß schon, wann ich in China und Russland das nächste Mal einen Schluck Cola bekomme? Verlegen lächle ich den Beamten an.

»Die können Sie nicht mitnehmen!«, sagt er.

»Und was mach ich jetzt damit?«

»Was weiß ich«, sagt der der Mann. »Jedenfalls kommen die nicht an Bord.«

»Warum nicht?«, frage ich empört nach.

»Sicherheitsbestimmung.«

»Seit wann ist denn eine Cola eine Bedrohung?«

»Seit 2006. Sie fliegen wohl nicht oft, was?«

Ich schnaufe verächtlich.

»Also, was ist nun«, fragt der Polizist ungeduldig. »Wegschmeißen oder trinken?« Wegschmeißen? Ich habe die Dosen doch gerade erst am Flughafen zu völlig überzogenen Preisen gekauft. Und nun soll ich sie wegkippen, ohne einmal daran genippt zu haben? Kommt nicht infrage. »Ich trinke«, sage ich mit bestimmter Stimme. Wie eine sture Oma, deren Geburtshaus von einem Waldbrand bedroht wird und die dem Feuerwehrmann vom Evakuierungstrupp an der Haustür mitteilt: Ich bleibe.

»Na, wie Sie meinen. Dann machen Sie bitte Platz für die Herrschaften hinter Ihnen.«

Schnaubend trete ich aus der Schlange und setze mich auf eine Bank am Rand der Terminalhalle. Ich ziehe die Lasche der ersten Dose hoch. Es zischt. Ich blicke auf die Uhr. In dreißig Minuten beginnt das Boarding. Zügig kippe ich den Inhalt der ersten Dose hinunter. Die zweite fließt direkt hinterher. Nach fünf Minuten habe ich drei Dosen der klebrigen Limonade geleert.

Als ich die vierte Dose ansetze, protestiert mein Magen wie ein bockiges Kleinkind. Gallenflüssigkeit fließt in meine Speiseröhre. Wenn ich noch einen Schluck trinke, übergebe ich mich. Schweren Herzens schmeiße ich die restlichen Dosen in den Mülleimer und schreite durch den Körperscanner. Anschließend sammle ich eilig meine Habseligkeiten wieder ein und mache mich auf die Suche nach einer Toilette. Ich kann den Würgereflex gerade noch unterdrücken. Fast hätte ich in die grauen Sammelbehälter der Gepäckkontrolle gekotzt. Ich brauche dringend eine Toilette. Panisch renne ich durch die Terminal-Halle, vorbei an den Gates, wo fröhliche Familien ihrem Urlaub entgegenfiebern und Geschäftsmänner auf ihren Businessflug warten, und stürme in den Sanitärbereich. Ich schaffe es gerade noch, den Klodeckel aufzuklappen. Kaum hängt mein Kopf über der Schüssel, schießt die Cola auch schon aus meinem Magen wie aus einem Feuerlöscher. Erschöpft rapple ich mich wieder auf und wische mir den Mund ab.

Als ich an meinem Gate ankomme, wird gerade mein Flug nach Peking zum Boarding aufgerufen. Mit geröteten Augen und dem Geschmack vom Weihnachtsbraten des letzten Jahres auf der Zunge steige ich ins Flugzeug.

Ich hasse Flugzeuge. Der Gedanke, mein Leben in die Hände des Schicksals zu legen, führt bei mir zu Kurzatmigkeit. Aus diesem Grund habe ich auf einen Flug bei einer namhaften europäischen Fluggesellschaft bestanden. »Made in Taiwan« ist schon kein Gütesiegel für Taschenrechner. Wie sollen die ein vernünftiges Flugzeug bauen?

Doch auch wenn ich die Gefahr eines Absturzes dadurch verringert habe, besteht immer noch die Möglichkeit einer Flugzeugentführung. Ich nehme meinen Platz am Gang ein und blicke mich um. Neben mir sitzen eine junge Mutter mit asiatischen Wurzeln und ihr Sohn von vielleicht sechs Jahren. Flugzeugentführungen sind wie Bordellbesuche: Da nimmst du deine Kinder nicht mit. Von ihnen geht wohl keine Gefahr aus. Eine ältere Dame zu meiner Linken in der Mittelreihe zupft sich gerade ihren Thrombose-Strumpf zurecht. Wer die Absicht hat, sich in die Luft zu sprengen, macht sich wohl keinen Kopf über ein Blutgerinnsel in den Waden. Die kann ich also ebenfalls von der Liste streichen. Dahinter sitzt ein junges Pärchen im Partner-Outfit. Beide tragen einen dunkelroten Hoodie, auf dem in fetten Buchstaben »Stanford« steht. Das Mädchen wickelt ein Sandwich aus einer Alufolie und reicht es ihrem Freund. Während er in das Brot beißt, legt sie ihren Kopf auf seine Schultern. Liebevoll streichelt er mit der freien Hand über ihren Unterarm. Die beiden sind auch keine Bedrohung. Höchstens für meinen Magen. Das kitschige Getue löst einen neuen Brechreiz in mir aus.

In der Reihe hinter mir sitzt ein Teenager mit Pluderhose und Rastahaaren. Auf seinem Schoß liegt das Buch Darm mit Charme. Ich stelle mir vor, wie Mohammed Atta am 11. September 2001 im Flugzeug sitzt. Sein Komplize Abdulaziz al-Omari hockt in der Reihe dahinter. Kurz nach dem Start beugt er sich nach vorn: »Stürmen wir jetzt das Cockpit?«

Mohammed Atta macht eine abweisende Handbewegung, als wolle er eine Fliege verscheuchen. »Gleich! Lass mich bloß noch das Kapitel fertig lesen.«

»Wo bist du denn gerade?«

»Beim Schließmuskel.«

Al-Omari: »Uh, das ist super. Vor allem die Stelle, wo …«

Mohammed Atta steckt sich beide Zeigefinger in die Ohren. »Aaaahhh, Spoiler!«

Nein, von dem Bücherwurm hinter mir geht wohl auch keine Gefahr aus. Selbstmordattentäter lesen keine Bücher.

Kaum hat das Flugzeug abgehoben und der Kapitän die Anschnall-Zeichen ausgeschaltet, steht das halbe Flugzeug auf und bildet vor dem Klo eine lange Schlange. Offenbar steht das Pinkeln über den Wolken bei vielen Menschen auf der Bucket List. Gleich unter »Hundeschlitten fahren in Lappland« und »Beim Berlin-Marathon mitlaufen«. Oder warum haben die nicht vor dreißig Minuten am Flughafen das stille Örtchen aufgesucht? Mit strahlenden Gesichtern kommen sie aus der Kabine zurück. Die Blase auf 10 000 Metern Höhe entleeren: Check!

Eine überschminkte Frau steht in einer Parfümwolke neben meinem Sitzplatz in der Pipischlange. Ihre Handtasche baumelt direkt vor meiner Nase. Das Kind neben mir klappt den Tisch auf und zu. Auf und zu. Auf und … wer hat eigentlich behauptet, fliegen sei die schönste Art des Reisens? Ich ziehe den Klemmverschluss an den Armen meines Oger-Kissens zusammen und schließe die Augen. In meinem Kopf summe ich die Melodie: »So wake me up when it᾽s all over …«

Leider wache ich bereits über Polen wieder auf. Dass wir gerade über Polen fliegen, weiß ich, weil mein Vordermann seine Rückenlehne nach hinten geklappt hat und der kleine Bildschirm mit der Reiseroute in der Rückseite seines Sitzes nun unmittelbar vor meiner Brust flimmert. Der Stuhl drückt schmerzhaft gegen meine Knie. Eine braun gebrannte Glatze umrandet von einem grauen Haarkranz ragt über die Lehne hinaus.

Ich räuspere mich. »Entschuldigen Sie?«

Der graue Haarkranz ignoriert mich.

»Könnten Sie Ihren Sitz freundlicherweise wieder etwas hochklappen?«

Immer noch keine Regung.

»Ich habe wirklich nicht viel Platz hier hinten und …«

Der Haarkranz steckt sich Kopfhörer in die Ohren.

»Äh, hallo?« Na, der hat Nerven. Wütend drücke ich mein Knie von hinten in seinen Sitz. Mögen ihn die Rückenschmerzen zum Kapitulieren zwingen.

Ich drücke. Und drücke. Ohne Erfolg. Arschloch! Wütend fixiere ich seinen Hinterkopf, während die Stewardess den Getränkewagen anrollt und der Haarkranz einen Tomatensaft bestellt. Als die Dame einen Saftkarton hervorholt und seinen Becher füllt, unterbricht er: »Haben Sie keinen von Granini?«

»Bedaure.«

Der Haarkranz beugt sich zur Seite, um besser auf den Getränkewagen schauen zu können. »Zeigen Sie mal, was Sie sonst noch dahaben.«

Brav rattert die Stewardess ihr Angebot herunter: »Nun, wir haben Apfelsaft, Orangensaft, Cola, Sprite, Bier, Wein …«

Der Haarkranz schüttelt verärgert den Haarkranz. »Geben Sie mir einfach ein Wasser.« Die Stewardess reicht ihm ein volles Glas und wendet sich anschließend an mich: »Und Sie, mein Herr?«

Ich habe noch nie Tomatensaft getrunken. Die dickflüssige Konsistenz schreckt mich ab. Aber heute mache ich eine Ausnahme. Denn wenn ich den Haarkranz schon nicht dazu bringen kann, seine Rückenlehne wieder aufzustellen, so soll wenigstens die Stewardess erfahren, dass ich sympathischer bin als mein Vordermann.

»Ich nehme gerne ein Glas Tomatensaft. Mir ist egal, von welcher Marke«, antworte ich daher mit einem Zwinkern. Sie reicht mir einen vollen Becher und eine Serviette und lächelt mich an. Na also.

»Sonst noch einen Wunsch?«

»Nein danke.« Ich nehme einen Schluck von der roten No-Name-Pampe. Das Zeug schmeckt widerlich. Egal. In your face, Motherfucker.

Nach zehn Stunden setzt unsere Maschine auf dem Rollfeld von Peking auf. Meine Kniegelenke knirschen, als ich sie endlich ausstrecken kann. Mit meinem Trolley im Schlepptau humple ich über die Gangway hinaus zur Passkontrolle, wo eine zierliche Chinesin mit strengem Dutt meinen Pass entgegennimmt. »Guten Abend«, sage ich freundlich.

Die Beamtin beachtet mich gar nicht. Ohne eine Gesichtsregung zieht sie meinen Ausweis durch den Scanner und knallt anschließend ihren Stempel hinein. Wortlos reicht sie mir meine Papiere zurück. Na, herzlich willkommen in China.

Hinter dem Grenzhäuschen wartet bereits der nächste Polizist und schickt mich zu einer kleinen Gruppe von Touristen, die sich wie die Salzburger Domspatzen nebeneinander aufgestellt haben. Das Gepäck steht in ein paar Metern Entfernung auf dem Fußboden. Unter ihnen erkenne ich auch den Haarkranz aus dem Flugzeug wieder. Zum ersten Mal sehe ich ihn nun von vorne. Er gehört zu einem hageren Mann mit braun gebranntem Gesicht und buschigen Augenbrauen, die so aussehen, als würde er sie permanent hochziehen. Wie ein Besserwisser, dem man gerade erzählt hat, vegane Ernährung sei gesünder.

Ein weiterer Polizist kommt auf uns zu. An einer Leine führt er einen Schäferhund, der sich nun daranmacht, an unserem Gepäck zu schnüffeln.

Eine dicke Frau im weißen Sommerkleid mit roten Blümchen kichert. »Hihi, hoffentlich greift er nicht mein Köfferchen an, wenn er meine Aspirin-Tabletten riecht.«

»Drogenhunde greifen nicht an«, erklärt der Haarkranz neben ihr.

»Nein?«, fragt die dicke Dame.

»Nein! Sie machen nur ruhig Sitz, wenn sie was erschnüffelt haben.«

»Das ist ja interessant«, staunt die Dame, während der Köter weiter seine Nase gegen unsere Koffer drückt.

»Man will die angespannte Situation nicht noch durch einen tobenden Hund weiter aufheizen. Wer weiß, wozu ein nervöser Drogendealer fähig ist. «

Genau in diesem Moment setzt sich der Köter ruhig vor meinen Trolley. Schlagartig verstummt die Gruppe. Bloß meine innere Stimme kreischt hysterisch: Oh Gott! Drogen! In meinem Gepäck! Ich bin erledigt! Jemand muss mir das zugesteckt haben. Mein Puls tritt aufs Gaspedal. Mein Mund ist wüstentrocken. Wie ist das möglich? Ich hatte meinen Koffer doch immer bei mir.

»Doll«, staunt die dicke Dame. »Woher wussten Sie das?«

»Wenn man viel reist, bekommt man allerhand zu sehen.«

»Reisen Sie denn häufig?«

»94. In so vielen Ländern war ich schon«, sagt der Haarkranz mit geschwollener Brust.

»Wie aufregend. Sie haben sicher viel zu erzählen …«

Unfassbar. Ich stehe kurz davor, vor ein Erschießungskommando gezerrt zu werden, und die beiden turteln. Irgendjemand muss unseren Außenminister informieren und die Bild-Zeitung, damit sie Druck auf die chinesische Regierung ausüben, damit ich ausgeliefert und nicht hingerichtet werde.

»Please open your bag.« Der Grenzpolizist deutet auf meinen Trolley. Mit zittrigen Fingern ziehe ich den Reißverschluss auf. Sofort durchwühlen die behandschuhten Hände des Beamten meine Klamotten. Vielleicht hätte ich die Boxershorts mit dem Duffy-Duck-Motiv doch nicht mitnehmen sollen, denke ich nun, wo der halbe Flughafen einen Blick darauf werfen kann. Drogen finden sie aber keine. Als Nächstes wirft der Polizist einen Blick in meine Provianttüte und zieht einen Apfel heraus. »NO APPLES!«, belehrt er mich und wedelt mit dem Obst vor meiner Nase. Neben mir raunt der Haarkranz seiner Bewunderin zu: »Die Einfuhr von Äpfeln ist in China verboten.«

»An apple a day keeps not the police away, hihi«, kichert die Dame. Den Rest des Gesprächs übertönt das laute Krachen des Felsbrockens, der mir von der Seele fällt. Aber ganz sorglos fühle ich mich immer noch nicht. Auch wenn ich für das Schmuggeln von Obst wohl nicht hingerichtet werde, bin ich dennoch unsicher, welche Folgen das für mich haben wird. Thorben hat mir mal erzählt, dass man in Singapur ausgepeitscht wird, wenn man einen Kaugummi auf die Straße spuckt. In Sachen Lebensmittel scheint mit den Asiaten nicht gut Kirschen essen zu sein. Aber ich habe Glück. Der Grenzpolizist schmeißt den Apfel in einen Mülleimer und gibt der verräterischen Töle ein Leckerli aus seiner Hosentasche. »Okay, you can go«, sagt er und trottet mit Kommissar Rex davon.

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Rasch greife ich meinen Trolley und stürme zum Ausgang. Hinter mir schließt sich die Schiebetür des Flughafens und ich stehe auf der Straße. Freiheit.

Die Freiheit sieht ein bisschen aus wie das alte Arbeitszimmer meines Großvaters. Alles ist in einen grauen Nebel gehüllt. Bei meinem Opa war es Pfeifenqualm, und hier ist es der Smog, der die Stadt erstickt. Peking stinkt.

Der nächste Tag beginnt bereits um sechs Uhr. Als ich mit strubbeligen Haaren müde in die Lobby schlurfe, empfängt mich dort ein viel zu gut gelaunter Herr mit brauner Dauerwelle. »Herr Klopfbichler?«

»Ja?«

Der Mann streckt mir seine Hand entgegen. »Ich bin Horst Seeberger, vom Reiseunternehmen Seeberger Adventures. Wir haben geschrieben. Sie erinnern sich?«