Daphne Merkin

Mein fremdes Ich

Eine Abrechnung mit der Depression

Aus dem Englischen von Daniel Schreiber

Suhrkamp

Für Michael Porder

Beobachte fortwährend (...) Beobachte meine eigene Mutlosigkeit. Dadurch wird sie brauchbar. Hoffe ich zumindest.

Tagebucheintrag von Virginia Woolf vom 8. März 1941

All my watercolors fade to black.

Aus dem Lied »Pavement Cracks« von Annie Lennox

Prolog

Seit kurzem muss ich wieder über den Zauber nachdenken, der dem Selbstmord innewohnt – die Art und Weise, wie er »Basta!« zum Leben sagt wie eine italienische Großmutter, die den angehäuften Schutt des Alltags vor die Tür kehrt und nichts als einen sauberen, unbefleckten Boden hinterlässt. Keine Wut auf die Umstände mehr, die dich in die Knie gezwungen haben. Keine Angst mehr. Keine Notwendigkeit mehr, dich immer wieder aufs Neue durch den Tag zu schlagen, während du dich fühlst, als wäre dein Leben auf Eis gelegt worden. Keine Notwendigkeit mehr, die Müdigkeit zu spüren, die sich um deine Augen ausgebreitet hat – und auch hinter ihnen –, während du Unterhaltungen führst und hoffst, dass niemand merkt, was in dir vorgeht. Keine Qual mehr, kein dröhnender Schmerz in deinem Kopf, der sich so physisch anfühlt, aber trotzdem keine somatischen Ursachen hat, die man bekämpfen oder mit einem Pflaster, einer Salbe oder auch einem Gipsverband behandeln könnte. Und vor allem: Keine Verstellung mehr, kein Zwang, mit einer Maske auf dem Gesicht durch den Tag zu gehen: »Wie, du bist depressiv? Das hätte ich nie geahnt!«

Diese suizidal gefärbten Phasen beginnen zu Zeiten wie diesen – es ist Winter, während ich das aufschreibe, ich sitze an meinem Schreibtisch in New York City. Sie beginnen, wenn die Tage kürzer werden und die Abende früher anbrechen, wenn dem Himmel die Helligkeit fehlt und du damit aufgehört hast, dich für deine Bemühungen zu bewundern, trotz allem weiterzumachen. Sie können aber auch eintreten, wenn die Tage lang sind und das Licht über der Stadt niemals zu erlöschen scheint, sie können in den ersten Tagen des Frühjahrs eintreten oder in den prächtigsten Sommerwochen. Diese Phasen brechen an, wenn deine Stimmungslage, die schon seit Wochen, seit Monaten vielleicht, fühlbar negativer geworden ist, ihren absoluten Tiefpunkt erreicht hat. Du liegst im Schlamm und hältst es nicht mehr für nötig aufzustehen. Du bist in einem Elend gestrandet, das zu ertragen nicht einfach ist, selbst wenn die Umstände deines Lebens eigentlich nicht so schrecklich sind oder zumindest nicht offensichtlich so schrecklich, dass man in ihnen die Ursache für deine Verfassung ausmachen könnte. Und nun hat sich dieser verhängnisvolle Drang wieder in dir breitgemacht, der verspricht, deiner Verzweiflung ein Ende zu setzen. Der verspricht, Schluss zu machen mit deiner Unfähigkeit, dich zusammenzureißen – ein Ausdruck, den du nie gemocht hast, weil er von seinem forschen Ansatz her auch von einem Fitnesstrainer stammen könnte und weil er darüber hinwegtäuscht, wie schwierig deine Situation ist und wie groß die Herausforderung, dich deinem Leben und dessen Spielregeln zu unterwerfen. Trotz allem aber ein passender Ausdruck.

Du hast diese Spielregeln nie verstanden, so viel ist sicher, du hast nie verstanden, wie es möglich sein soll, dass du dich und dein Leben voranbringst, in Richtung eines langfristigen Ziels, das vor deiner Nase baumelt und die Möglichkeit birgt, auch wirklich erreicht zu werden. Da gibt es natürlich dein Schreiben, gewiss eine Art Ziel und auch der Antrieb, der dich am zuverlässigsten aufrecht hält. Kunst soll lange währen, auch wenn das Leben kurz ist, sagt ein lateinisches Sprichwort. Oder so etwas in der Art. Vita brevis, ars longa. Doch an einem Tag wie diesem, wenn alles grau und fadenscheinig wirkt, kann dir nichts Halt geben. Du fühlst dich zu zermürbt, um auch nur so zu tun, als würdest du wissen, warum du einen Fuß vor den anderen setzen solltest: Es wirkt, als wäre es nicht die Kunst, sondern das Leben, das lange währt und kein Ende zu kennen scheint. Du hörst, wie irgendwo in deiner Wohnung eine Uhr tickt, sinnlose Sekunde um sinnlose Sekunde, und das Ticken erinnert dich daran, dass dir die verstreichende Zeit die Luft abschneiden kann, wenn du von deinem inneren Weg abgekommen bist, als würde sich dein Hals in einem Schraubstock befinden. Du musst an einen deiner Aufenthalte auf einer psychiatrischen Station denken, bei dem du zusammen mit einigen anderen Patienten im sogenannten Aufenthaltsraum saßt und mitten am Tag Fernsehen geschaut hast, etwas, was du zuhause nie getan hättest und was dafür sorgte, dass du dich nur noch nutzloser fühltest, so nutzlos wie ein Kleidungsstück, das man nach der Wäsche zum Trocknen aufgehängt und dann vergessen hat.

Wie hast du deine Tage verbracht, bevor diese Trägheit in dein Leben trat und Besitz von dir ergriff? Es ist schwierig, sich in Erinnerung zu rufen, dass du einmal mit einer geradezu selbstverständlichen Betriebsamkeit einer Sache nach der anderen nachgegangen bist. Schreiben und lesen, online nach Dingen schauen, die du dir kaufen könntest, mit deiner Tochter sprechen, zusammen mit einem Freund oder einer Freundin über etwas lachen, eine Tasse Kaffee oder Tee in der Mikrowelle aufwärmen. Du warst sicherlich kein Derwisch, kein Paradebeispiel für Lebensenergie, du bist sicherlich nicht hektisch von einem Termin zum nächsten gewirbelt – auch in deiner besten Verfassung bist du jemand, der zuhause bleibt, jemand, der sich sammeln muss, um die Kräfte aufzubringen, die erforderlich sind, um nach draußen zu gehen und Leute zu treffen, egal wie offen und empfänglich du auch wirken magst –, aber irgendwann einmal hast du dieses ganze Getue, dieses Pläne- und Termine-Machen wenigstens nicht in Frage gestellt. Inzwischen kannst du nicht einmal mehr verstehen, was andere Leute antreibt, sich dort draußen in der Welt zu tummeln, ihre Besorgungen zu machen, zu Terminen zu eilen oder ihre Kinder von der Schule abzuholen. Du hast den roten Faden verloren, der die verschiedenen Facetten deines Lebens zusammengehalten hat. Nichts ergibt mehr einen Sinn, und du kannst nur noch an diesen blanken Nerv in deinem Kopf denken, an den Schmerz, der sich dort breitgemacht hat – und daran, dass du nicht nur dir, sondern auch den Menschen in deiner Umgebung Erbarmen zeigtest, würdest du diesen Schmerz auslöschen.

Unter anderen Umständen wärest du vielleicht abhängig geworden und hättest dich auf der Straße dem vernichtenden Glück von Drogen hingegeben. Stattdessen nimmst du das dir verschriebene Sortiment legaler Drogen, dessen Zusammensetzung von einem Psychopharmakologen, der es gut mit dir meint, gelegentlich neu eingestellt wird. Und du fasst deinen Schmerz in 50-Minuten-Sitzungen in Worte, gegenüber Menschen, denen du über die Jahre große Summen an Geld bezahlt hast, damit sie dir zuhören. Alles ist dir gleich, deine Tochter, deine Freunde, dein Schreiben, der Geschmack von etwas Köstlichem, dieses neue Buch oder jene Fernsehserien, die sich gerade jeder anschaut, alle die Dinge, die dich in dieser Welt verankern sollen. Selbst jene Menschen, die dich am besten kennen, verstehen das blendende Licht nicht, das sich über deine Augen gelegt hat, das Licht, das dich daran hindert, den Weg nach vorne zu sehen. Hoffnungslosigkeit wird immer so beschrieben, als wäre sie glanzlos und matt. Doch in Wahrheit birgt sie ein ganz eigenes Leuchten – ein Leuchten wie das Scheinen des Mondes, in der Farbe gesprenkelten Silbers.

1

Eine Frau steht in ihrer Küche und macht sich eine Kanne Kaffee. Sie löffelt die intensiv riechenden und überteuerten gemahlenen Bohnen aus ihrer adretten kleinen Aluminiumpackung in einen Kaffeefilter und versucht sich ins Gedächtnis zu rufen, bei welchem Esslöffel sie war – vier? sechs? drei? –, während dunkle Gedanken ungezügelt auf sie einpoltern und verschlagene Turnübungen machen: Hättest du nur nicht, hättest du doch, warum bist du, warum bist du nicht einmal, das ist hoffnungslos, es ist zu spät, es ist immer schon zu spät gewesen, lass es doch sein, geh zurück ins Bett, ist das nicht hoffnungslos, der Tag ist schon halb vorbei, nein, der Tag, der vor dir liegt, ist viel zu lang, es gibt so viel zu tun, hättest du doch nur genug zu tun, alles ist aussichtslos, das ist wirklich hoffnungslos.

Wie, fragt sie sich zum abertausendsten Mal, würde es sich anfühlen, wenn sie eine Person wäre, die den Alltag mit einer etwas fröhlicheren Einstellung angehen könnte, mit einem etwas festeren Vertrauen in den Nutzen ihrer Existenz? Jemand, die jene für den Alltag unverzichtbaren Illusionen unterhält – Illusionen, die sich darum drehen, dass Dinge Sinn ergeben und sich am Ende alles richten wird, insbesondere, wenn man sein Glück selbst in die Hand nimmt –, Illusionen, ohne die das Leben unerträglich ist? Diese Person würde sich doch mit Sicherheit auf ihren Kaffee konzentrieren, anstatt sich beim ersten Anflug von Hoffnungslosigkeit ihren Selbstmordfantasien hinzugeben, oder? Wie also wäre es, jemand zu sein, die schon geduscht, gekleidet und mehr oder weniger bereit wäre, sich dem Tag zu stellen, nicht vor Freude in die Luft springend, aber eben auch nicht lahmgelegt von ihrer Trübsal? Denn bestimmt ist dies das Schlimmste daran, jemand zu sein wie sie, die ihrem Kopf so ausgeliefert und so durchdrungen von der Lake ihres Selbsthasses ist: der Umstand, dass es keinen Ausweg aus der Tatsache gibt, so zu sein, wie sie ist. Es ist auch keine Erleichterung in Sicht, es sei denn, sie wird durch tatkräftiges oder zumindest gewissenhaftes Handeln herbeigeführt – Gesprächstherapie, medikamentöse Behandlung, bewusste Versuche, die eigenen Gedanken auf die Zukunft zu lenken oder sich die Hungernden und die Versehrten der Welt ins Gedächtnis zu rufen, oder überhaupt die vielen Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als sie selbst. Diese Interventionen können durchaus dafür sorgen, dass sie mit beiden Füßen fest auf dem Boden steht und einen Zustand der Gefasstheit erlangt. Dass sich dieser Zustand bei anderen Menschen mit einer Natürlichkeit und einer Bestimmtheit einstellt, die für sie völlig fremd sind, steht auf einem anderen Blatt.

Die Küche hat ein Fenster, das auf einen Hinterhof und auf andere Wohnhäuser, auf andere Leben schaut. Der ganze Raum ist in hellen, antidepressiven Farben gehalten – Orange und Lila und Aquamarin –, und die in die Decke eingelassenen Einbauleuchten sind angeschaltet, aber es fühlt sich trotzdem an, als würde ein Schatten auf ihn fallen. Die Frau, von der die Rede ist, hat sich große Mühe gegeben, ihre Wohnung einladend herzurichten, und Gäste reagieren immer erfreut auf die von ihr ausgewählten Farben, auf die Kunst, die an den Wänden hängt, auf den Nippes, der zu sehen ist; doch wenn der Wind der dunklen Jahreszeit in ihr Leben weht, sind all ihre Anstrengungen der Haushaltsführung vergebens. Sie hat sich auch große Mühe gegeben, ein Leben aufzubauen, das eine innige Beziehung zu ihrer Tochter und eine Reihe enger Freundschaften enthält, ein leidenschaftliches Interesse an der Kultur, die sie umgibt, sowohl in deren ernsthaften als auch frivolen Ausformungen, eine sinnvolle Arbeit als Autorin. Man schätzt sie für ihren bohrenden Blick, ihre Neugier, ihren trockenen Humor und ihre Wärme; von außen betrachtet könnte ihr Leben für andere Menschen wie ein gutes, wenn nicht sogar beneidenswertes Leben wirken. Ein bestimmter Teil von ihr weiß das, aber dieses Wissen versiegt, sobald das Heulen jenes Windes sie durchdringt und sie daran erinnert, wie sie sich eigentlich fühlt: öde, verloren und völlig hoffnungslos.

Dieses Stimmungstief kann sie plötzlich und mit großer Wucht ereilen, ohne dass sie es kommen sieht: Den einen Moment fühlt sie sich mehr oder weniger okay, den nächsten möchte sie sich am liebsten eine Kugel in den Kopf jagen. Das kann etwa an einem Montagnachmittag passieren, wenn sie von einem Zahnarzttermin zurückkehrt und ihre Wohnung leer vorfindet und schon die Staubkörnchen, die in der Luft schweben, trostlos auf sie wirken. Sie fühlt sich einsam, gefangen in einer Höhle der Trauer, eines uralten und permanenten Leidens. Und dann, auf den Flügeln dieses Gefühls, gluckst von irgendwo in ihrem Inneren das Bedürfnis hoch, sich das Leben zu nehmen. Dieses Bedürfnis ist so stark, dass sie in die Küche geht, ein Brotmesser aus dem Block nimmt, der auf der Arbeitsplatte steht, und dessen gezahnte Schneide über ihren Daumen fahren lässt. Sie stellt sich vor, wie es wäre, sich damit die Pulsadern aufzuschneiden … Aber muss man nicht erst die Badewanne mit Wasser füllen und die Pulsadern dann aufschneiden, wenn man sichergehen möchte, dass man auch wirklich stirbt, so wie das Diane Arbus gemacht hat? Um sich davon abzuhalten, darüber noch länger nachzudenken, legt sie sich ins Bett, liegt einfach nur so da und wartet darauf, bis das Bedürfnis versiegt.

Dann wiederum nimmt sich die dunkle Jahreszeit mitunter ganz gemächlich Zeit, um sich zu erkennen zu geben, sie hält sich wochen- oder sogar monatelang zurück, bis sie verkündet, dass sie unwiederbringlich da ist. Dieser bestimmte Nachmittag, auf den ich hier anspiele, legt seinen Auftritt Mitte März hin, aber er hätte sich auch genauso gut Mitte Dezember oder Mitte August ereignen können. Die Erkrankung, die sie im Bann hält, hält sich nicht respektvoll an einen Kalender, sondern kommt genau dann zum Tragen, wenn ihr danach ist. Der Frau kommt es so vor, als hätte sie sich schon immer mehr oder weniger so gefühlt. Es ist schon immer der Ruß auf den Ziegeln gewesen, der ihr besonders auffällt, die Fehler ihrer Freunde, der Liebeskummer, der sich am Horizont abzeichnet – die Traurigkeit, die wie Blut unter der Haut des Lebens pulsiert.

Depression ist ein globales Problem, sie betrifft 350 Millionen Menschen in der Welt; in den Vereinigten Staaten hatten 2012 ungefähr 16 Millionen Menschen zumindest eine schwere depressive Episode, und 2014 haben sich hier mehr als 40 000 Menschen das Leben genommen. Dennoch ist es eine Art der Traurigkeit, über die in der Öffentlichkeit niemand sprechen möchte, nicht einmal in unserer Ära der Indiskretion. Auf New Yorker Cocktailpartys kann man ausgiebig darüber reden, dass man AA-Meetings besucht oder einen Aufenthalt in einer Entzugsklinik hinter sich hat, ohne dass jemand mit der Wimper zuckt. Aber stellen Sie sich vor, in gehobener Gesellschaft zu erzählen, wirklich zu erzählen, wie Sie sich fühlen, während die Leute mit einem Weinglas in der Hand ihre Kreise ziehen und sich darauf konzentrieren, mit wem sie als Nächstes sprechen könnten – mit jemandem, versteht sich, der nicht Sie sind:

»Wie geht es Ihnen?«

»Nicht so gut. Ehrlich gesagt bin ich gerade hochdepressiv. Ich schaffe es kaum, aus dem Bett zu kommen. Ich habe keine Ahnung, was gerade in der Welt passiert, und es interessiert mich auch nicht wirklich.«

Wer will so etwas schon hören? Wer hat so etwas je hören wollen? Wer wird das irgendwann einmal tun? Trotz unserer so freimütigen Geständniskultur schottet sich die soziale Welt gegen persönliche Enthüllungen ab, die sich zu echt anfühlen, die die Oberfläche des Miteinanders zu sehr aufwirbeln. Wir leben in einer Gesellschaft, der zu viel Innerlichkeit peinlich ist, es sei denn, sie wird in den schrillen, fast schon kitschigen Tönen der 12-Schritte-Bewegung vorgebracht, die von dramatischen persönlichen Zeugenberichten lebt. Gründliche Selbstreflexion – das nüchterne und nuancierte Ringen mit den eigenen Dämonen – ist mit den großen bekümmerten Viktorianern ausgestorben, mit John Ruskin, Thomas Carlyle oder Matthew Arnold.

Auch in privaten Kreisen ist es nicht wirklich zuträglich, solch erbarmungslose Gefühle zur Schau zu stellen, egal wie warmherzig die Freunde sind, wie sehr sie auch zuhören wollen. Es wird anderen Menschen langweilig, mit Depressiven über die einseitige Wahrnehmung der Welt zu reden, an der sie so stur festhalten, egal wie bereit diese anderen Menschen zunächst auch sind, ihnen zuzuhören. Mach Yoga, raten sie, oder Vielleicht brauchst du eine Massage? Sie sagen zwar nicht Hör nur bitte auf, unentwegt darüber zu reden, aber Sie können ihren fest geschlossenen Kieferknochen ansehen, wie groß ihr Widerstand ist, sich auf Sie und Ihre Tristesse einzulassen.

Wenn die Frau schließlich wieder einmal in den finsteren Nebel der dunklen Jahreszeit verschwindet – die Dunkelheit hat sich wie immer langsam herangeschlichen, diese Invasion negativer Gedanken, die dann die Zügel in ihrem Inneren übernehmen, eine Invasion, die geräuschlos vonstattengeht, von niemandem bemerkt wird und bei niemandem die Alarmglocken läuten lässt, bei niemandem als der Frau selbst, dem Opfer dieser Invasion, doch wenn bei ihr die Alarmglocken läuten, ist es schon längst zu spät –, ist die heimtückische Arbeit dieser Jahreszeit vollbracht. Es gibt dann niemanden, der sie dort herausholen könnte.

Diese Frau hat ein Kind namens Zoë, eine lebhafte Tochter in ihren Zwanzigern, mit der sie lacht, bis ihnen die Tränen kommen, auf jene emotional inzestuöse Art, die zwischen Töchtern und Müttern herrscht. Sie macht sich Sorgen, dass sie Zoë notgedrungen in eine Fürsorgerolle gezwängt hat, sie hat immer ein Auge auf ihre Mutter werfen müssen, die sechs Monate nach der Geburt zum ersten Mal aufgrund von Depressionen in ein Krankenhaus eingewiesen wurde – und dann noch einmal kurz vor Zoës viertem Geburtstag und dann noch einmal zum Ende ihrer Teenagerjahre. Die Frau liebt ihre Tochter so sehr, wie es in ihrer Macht steht, aber sie hat oft das Gefühl, dass sie das Mädchen, würde sie es wirklich lieben, von der Anwesenheit seiner Mutter befreien müsste, die für zu viel Dunkelheit und zu wenig Sonne in seinem Leben sorgt und ohne die es sicherlich aufblühen würde.

Die Frau bin natürlich ich selbst, aber sie könnte jeder von uns sein, der an diesem Gebrechen leidet, das Frauen fast doppelt so oft heimsucht wie Männer, obwohl es seltsamerweise vor allem Männer sind, die darüber schreiben. (Männer nehmen sich auch viermal häufiger das Leben als Frauen, obwohl so viel weniger von ihnen als depressiv diagnostiziert werden und sie die psychiatrischen Stationen in weitaus kleineren Zahlen als Frauen bevölkern.) Es hat mich immer fasziniert, dass es der größeren statistischen Häufigkeit von Depressionen bei Frauen zum Trotz sogar hier die Männer sind, die einen längeren Schatten werfen, ganz so, als wäre ihre Krankheit der Beweis einer gesellschaftlichen und nicht einer persönlichen Notlage. In der männlichen Variante des Depressionsnarrativs fällt die Schwärzung der Stimmung wie die Pocken über den Mann herein, ohne jede Warnung. Natürlich gibt es Berichte, die von diesem Modell abweichen, die Bücher von Andrew Solomon oder Edward St Aubyn etwa, aber normalerweise sucht man in den von Männern geschriebenen Erfahrungsberichten vergeblich nach Anhaltspunkten für eine zum Trübsinn neigende Veranlagung. Stattdessen wird auf eine bestimmte, sich in der Depression niederschlagende Ursache außerhalb der eigenen Person verwiesen, auf die Spätfolgen eines einschneidenden Todesfalls etwa, auf den Entzug von Alkohol oder von Schlaftabletten oder auf die Diagnose einer schweren Krankheit. Im einen Moment lebst du so vor dich hin, bist ein extrem erfolgreicher Schriftsteller oder Wissenschaftler, und im nächsten denkst du ernsthaft darüber nach, dich von der Brooklyn Bridge zu stürzen. Oder es liegt umgekehrt überhaupt keine äußerliche Ursache vor: Eines Morgens wachst du wie in der Geschichte von Himmel und Huhn auf und stellst fest, dass der Himmel dabei ist, auf die Erde zu fallen.

Zum zweiten wägt der Autor dann für gewöhnlich die Implikationen eines bisher übersehenen genetischen Erbes ab und zieht die Erinnerung an einen schizophrenen Onkel oder einen suizidalen Cousin dritten Grades zur Erklärung heran. So oder so wird dem Autor erspart, seine eigene Verletzlichkeit bloßzulegen oder sich auch nur mit seinen Problemen auseinandersetzen zu müssen – in seinen Augen ist seine Depression auf Umstände zurückzuführen, die jenseits seiner eigenen psychologischen Verfassung liegen. William Styron hat sich in seinen eindringlichen, aber seltsam kontextlosen Memoiren Sturz in die Nacht für diese Erzählweise entschieden. Darin führt er seine Depression fast vollständig auf die Notwendigkeit zurück, mit dem Trinken aufzuhören. Eine ähnliche Haltung schlägt sich auch in Anatomie der Schwermut, dem Erinnerungsbuch des britischen Biologen Lewis Wolpert, nieder. Als er gegen Ende des Buches von den vielen Lesern schreibt, die ihm dafür gedankt haben, dass er seine persönlichen Erfahrungen mit Depression so offen diskutiert, hält er es für nötig, eine entscheidende Einschränkung geltend zu machen: »Trotzdem muss ich einräumen, dass ich von dem Stigma nicht ganz frei bin, denn ich selbst ziehe ja auch eine biologische Erklärung für meine Depression einer psychologischen vor.«

Männer haben mit anderen Worten eine raffinierte Möglichkeit gefunden, die Vorstellung des moralischen Scheiterns zu umgehen, die mit psychischen Krankheiten verbunden ist – genauso wie jenes Urteil, das häufig über Berichte von dieser Erkrankung gefällt wird, die zum Introspektiven tendieren: das der Nabelschau. Dies ist ihnen gelungen, indem sie darauf beharren, dass Kräfte außerhalb ihrer selbst für ihre Erkrankung verantwortlich sind oder diese vollständig auf eine genetische Veranlagung zurückzuführen sei. Das weibliche Depressionsnarrativ hingegen neigt dazu, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Die Lyrik von Anne Sexton und Sylvia Plaths Roman Die Glasglocke versinnbildlichen, wie weibliche Depressive leichter anerkennen, dass ihre Erkrankung zu ihnen gehört. Sie akzeptieren schneller, dass diese nicht nur in biologischen Fehlern begründet ist, sondern auch in einem klaffenden inneren Mangel, der mit einem schwer fassbaren Verlangen nach Ganzheit oder Wohlbefinden einhergeht. Diese Art des Schreibens über Depression ist für gewöhnlich höchst innerlich, so sehr, dass es ihr fast schon zum Nachteil gereicht: Der Welt, durch die sich die Erzählerin bewegt, wenn sie nicht depressiv ist, wird in diesen Berichten ein so kurzer Prozess gemacht, dass sie fast völlig aus dem Blickfeld gerät.

In den autobiographischen Romanen von Jean Rhys zum Beispiel schleichen sich die missgestimmten Heldinnen in einem Zustand solch innerer Malaise durch die heruntergekommeneren Stadtviertel von Paris, dass der Leser mit nichts anderem als der hermetischen Atmosphäre tiefster Hoffnungslosigkeit zurückbleibt. Das Risiko solcher Erzählungen besteht darin, dass sie letztlich jedes Aufflackern von Lebendigkeit verpuffen lassen und dabei die Geduld des Lesers und sein Mitgefühl zu strapazieren drohen. Das bringt uns wieder zu dem Unterschied zwischen den Geschlechtern zurück, dessen Gefälle impliziert, weibliche Depression sei nichts als eine rein idiosynkratische Angelegenheit, nichts als eine Ansammlung von Reaktionen der Trauer auf eine Reihe unglückseliger Ereignisse – gescheiterte Liebesbeziehungen, verhinderte Arbeitsverhältnisse, schlechte Kindheiten. Eine Angelegenheit also, die kaum als ein beispielhaftes Modell taugt, das es uns ermöglichen würde, Schlüsse zu ziehen und diese auf jemand anderen als die depressive Person, um die es sich dreht, anzuwenden.

Der Erkrankung selbst hat man im Laufe unserer Geschichte viele Namen gegeben – Acedia, Melancholie, Malaise, Grillen fangen, Geistesabwesenheit, Hyperästhesie, Trübseligkeit, Schwermut, schwarze Galle, Zyklothymia, Lebensmüdigkeit, Todessehnsucht, Weltschmerz, Lagerkoller oder Anfechtung (das ist der Begriff, den die Hutterer benutzten, um zu beschreiben, dass jemand »vom Teufel verführt« worden war) –, sie wurde als eine spirituelle Krankheit verstanden, als ein Scheitern von Willenskraft, als biochemische Funktionsstörung, als psychisches Mysterium und manchmal auch als Kombination einiger dieser Vorstellungen. (In Frankreich, wo man die unvergleichliche Fähigkeit besitzt, Dinge elegant zu verpacken, hat man anstelle einfacher Erklärungen gleich eine ganze launische Philosophie der »Abjektion« entwickelt, die etwa von psychoanalytischen Denkern wie Julia Kristeva expliziert wurde. Sowohl der Zustand der Abjektion als auch die Depression sind dieser Theorie zufolge Variationen einer unmöglichen Trauer um das mütterliche Objekt. Kristeva trifft in ihrem Buch Schwarze Sonne. Depression und Melancholie jedoch die Unterscheidung, dass es sich bei der Depression um einen Diskurs mit einer erlernten Sprache handele und nicht um eine Pathologie im engeren Sinne, die auch behandelt werden kann.) Je nach Situation erregt die Erkrankung Mitleid, Feindseligkeit, Misstrauen, Mitgefühl, Verachtung, Geringschätzung, Respekt oder eine unreflektierte Mischung aus diesen Gefühlen.

Es ist eine Sache, wenn man eine Figur ist, die zum Helden taugt, jemand, der etwas erreicht hat, jemand wie Winston Churchill zum Beispiel, der mutig Krieg gegen Hitler führte, während er seine melancholischen Episoden mit Ölmalerei und Maurerarbeiten in Schach zu halten versuchte (obwohl es so aussieht, als sei es seine Frau Clementine gewesen, die an einer schwereren Depression litt; in höherem Alter unterzog sie sich sogar einer Elektrokonvulsionstherapie – einer Behandlung, die heute als Elektroschocktherapie bekannt ist), oder jemand wie Abraham Lincoln, der mit Selbstzweifeln und Hoffnungslosigkeit rang, während er seine Vision verfolgte, die amerikanische Republik von der Sklaverei zu befreien. Es ist eine völlig andere Sache, wenn man einer von vielen Millionen Erkrankten ist, die versuchen, so gut wie möglich über die Runden zu kommen, während sie ähnliche Dämonen im Zaum halten. Wie der Maler aus Chapel Hill, der meine Artikel über Depressionen las, die im Laufe der Jahre im New Yorker und im New York Times Magazine erschienen sind, und mir einmal schrieb: »Der sprichwörtliche schwarze Hund verfolgt mich, seit ich ein Teenager war, und schläft neben meinem Bett. Er hat dafür gesorgt, dass mein Vater ins Krankenhaus kam.«

Ich habe Leserbriefe bekommen, von denen manche eloquent waren und andere so verwirrt klangen, dass man sie kaum verstehen konnte. Unter den Autoren befanden sich ein 35-jähriger Knast-Insasse, ein uralter Golfpartner von John Updike und ein »melancholischer, alter Englisch-Professor«, dessen Tochter nach einer Reihe von Aufenthalten auf geschlossenen psychiatrischen Stationen starb, als sie gerade 29 war. Es gab eine Frau, die es vorzog, unter dem Pseudonym »Lisa« in Form von Päckchen mit mir zu kommunizieren, die sie selbstbewusst per Expresspost verschickte und die einige Seiten beinhalteten, die aus einem gelben, linierten Schreibblock gerissen worden waren. Darauf hatte sie in einer kindlichen Handschrift eine Liste mit Tipps in der Art des amerikanischen Haushaltsratgebers Hints from Heloise (»Tipps von Heliose«) gekritzelt, wie man Depressionen verhindern könnte. Einige von ihnen waren Gemeinplätze, andere geradezu geheimnisumwoben (»jedes Stück Grapefruit vermeiden« oder »keine Lieder mit Text hören«). Der Ansturm der Anerkennung von anderen Leidenden ändert nicht viel an den unmittelbaren Qualen. Doch diese Anerkennung kommt von Menschen, die es geschafft haben, auf ihre höchst individuelle Art und Weise zu überleben – es liegt Trost in dem Wissen, dass man selbst in größter Dunkelheit nicht allein ist.

Seit Jahren suche ich nach einem Bericht vom Schlachtfeld der Krankheit, der meine eigenen Erfahrungen widerspiegelt, aber bisher habe ich noch keinen gefunden. Ich schreibe dieses Buch teilweise, um diese Lücke zu füllen und um zu zeigen, wie es sich im Inneren anfühlt, an klinischer Depression zu leiden – auf eine Art, die hoffentlich sowohl Depressive erreicht als auch die Freunde und Familienangehörigen, die deren Leid mit ansehen müssen. In den vergangenen beiden Jahrzehnten sind eine Reihe von Büchern erschienen, die sich mit dem Phänomen der depressiven Störung, in seiner unipolaren ebenso wie in seiner bipolaren Form, auseinandergesetzt haben – darunter Styrons Sturz in die Nacht, Susanna Kaysens Durchgeknallt und Kay Redfield Jamisons Meine ruhelose Seele. Doch ich habe den Eindruck, dass diese Bücher die depressiven Episoden von Zusammenbruch und Handlungsunfähigkeit mit unanfechtbaren Darstellungen des ansonsten hyperfunktionierenden Lebens der Autoren einklammern. (Man beachte, dass Sturz in die Nacht mit der Beschreibung einer Reise nach Paris beginnt, wo Styron ein prestigeträchtiger Literaturpreis verliehen wird, und das Buch im Englischen den Untertitel »A Memoir of Madness« trägt, Memoiren des »Wahnsinns« also.)

Diese Art von Darstellung erlaubt es dem Leser, Depression als ein seltenes, anormales Faszinosum zu verstehen und nicht als den völlig gewöhnlichen, unexotischen psychologischen Vogel, der sie häufig ist und der es so schwer macht, sich eine florierende Existenz aufzubauen. Es ist schwer zu sagen, ob die Autoren das aus einem Bedürfnis des Selbstschutzes heraus tun oder ob sie den Leser vor etwas schützen möchten, und ich bin mir nicht sicher, ob sie es selbst sagen könnten.

Was ich sagen kann, ist das: Meiner Erfahrung zufolge bleibt das Stigma, das der Depression anhaftet, sehr real. Es gibt etwas an dieser Störung, das sowohl beschämend ist als auch auf eine Weise auf den Charakter der an ihr Leidenden verweist, wie es andere Krankheiten nicht tun. So lässt sie sich etwa nicht feinsäuberlich in die Literatur über Abhängigkeit und Genesung einreihen. Die Erfahrungsberichte, die über depressive Störungen geschrieben werden, bieten dem Leser keine stellvertretenden Nervenkitzel, nicht zuletzt, weil die Symptome selten exzessiv genug sind, um jemanden abzuschrecken oder auch nur neugierig zu machen. Schon psychische Störungen zeichnen sich im Allgemeinen durch etwas aus, das nicht greifbar ist, aber Depressionen lassen sich noch viel schwieriger bestimmen oder abgrenzen. Sie übernehmen das Leben schleichend und haben keine spürbare Präsenz, vielmehr machen sie sich in Form von Abwesenheit bemerkbar – einer Abwesenheit von Appetit, Energie oder Kontaktfreudigkeit. Es gibt wenig, auf das man wirklich zeigen kann: keine obszönen Tiraden, keine plötzlichen Anfälle unkenntlichen, hyperenergetischen Verhaltens, keine magischen Glaubenssysteme, die sich um Lottonummern oder Glückskekse drehen. Ich habe den Eindruck, dass wir der Behauptung, Depression sei eine legitime psychische Krankheit, manchmal immer noch skeptisch gegenüberstehen, weil sie nicht verrückt aussieht.

Andererseits hat gerade die Undurchsichtigkeit der Depression – sie beruht nun einmal sowohl auf biologischen als auch auf psychologischen Faktoren – dafür gesorgt, dass die Krankheit zum phänomenologischen Prügelknaben in der noch immer hitzig geführten Debatte avanciert ist, ob die Entwicklung und Formung unserer jeweiligen Charaktere aufgrund unserer Natur oder der Kultur, in der wir leben, erfolgt. Depressionen sind zum Magneten für die schlimmsten Projektionen unseres puritanischen Erbes und unserer verschreibungsfreudigen Psychopharmakaära geworden, mit dem traurigen Ergebnis, dass sie zu wenig diagnostiziert und zu oft mit Medikamenten behandelt wird. Wir schwanken zwischen zwei Polen: Einerseits versuchen wir, die Depression wegzuscheuchen, indem wir sie als eine Phantomerkrankung charakterisieren, die durch Anstrengungen des Willens gelindert werden könnte (setze einfach einen Fuß vor den anderen), andererseits tun wir so, als unterliege sie der Sorge unseres Hausarztes, den man für ebenso fähig erachtet, Antidepressiva zu verabreichen, wie Grippeimpfungen zu geben.

Es ist 15 Jahre her, dass ich zum ersten Mal eingewilligt habe, an diesem Buch zu arbeiten. Ich war aufgrund eines Artikels danach gefragt worden, in dem ich für den New Yorker über meine Erfahrungen während eines Psychiatrieaufenthalts schrieb, der mir wegen meiner Depression empfohlen worden war. Ich glaube, dass ich so lange gebraucht habe, dieses Buch zu beenden, weil das Schreiben über diese Krankheit bedeutete, dass ich mit der ständigen Angst vor dem erneuten Einsetzen depressiver Episoden und zugleich mit den immer wiederkehrenden Episoden selbst kämpfen musste. Ich musste mich auch mit den Geistern meiner Kindheit herumschlagen, mit den Zweifeln, die ich gegenüber dem Wert meiner Geschichte hege, und den Zweifeln daran, ob es mir überhaupt erlaubt ist, sie zu erzählen. Das Töten von Geistern ist niemals einfach, und meine Geister sind besonders gebieterisch und ermahnen mich immer wieder, meinen Kopf gesenkt zu halten und die Saga meines Lebens für mich zu behalten. Letztlich aber liegt dem Schreiben dieses Buches die Bemühung zugrunde, so etwas wie die Oberhand über meine Erfahrungen zu gewinnen, indem ich diese genau beobachte. Ich hoffe, dass ich meine Überlebenschancen erhöhe, wenn ich mir verdeutliche, was auf dem Spiel steht: ein Leben, das ich mir langsam selbst aufbaue, keines, das von anderen Menschen für mich aufgebaut wurde. Dabei versuche ich nicht nur den unheilvollen Zauber meiner Kindheit zu durchbrechen, sondern auch meine Lebensgeschichte von dem Narrativ zu befreien, das ich früher verfolgt habe – ein Narrativ, das sich einmal angefühlt haben mag, als wäre es notwendig und wahr, inzwischen aber selbst zu einer Art Gefängnis geworden ist.

Ich versuche, meine Erfahrungen mit der Depression als die »dunkle Jahreszeit« zu begreifen, zum Teil, weil ich damit ein Zeichen der Hoffnung setzen möchte, dass diese Erkrankung nicht nur über mich gekommen ist, sondern auch wieder zu Ende gehen wird. Andererseits möchte ich dieser Krankheit, die vollkommen unästhetisch ist, einen schöneren Anstrich verleihen. Wenn diese Jahreszeit anbricht, hilft es mir nicht, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich sie schon einmal durchlebt habe, dass sie sich nicht völlig neu anfühlt, dass sie einen muffigen Geruch verströmt, der mir vertraut ist, oder dass sie mit einem Mangel von Licht und einem Übermaß an Eingeschlossensein einhergeht, die mir ebenfalls vertraut sind. Es hilft mir auch nicht, an die armen, ins Unrecht gesetzten und verlorenen Seelen dieser Welt zu denken, an die Menschen, die in Syrien gefoltert werden, im Sudan an Hunger leiden oder in Baltimore Gewalt erfahren. Vielmehr möchte ich wissen, wie ich hier jemals wieder herauskommen kann und ob es überhaupt eine andere Jahreszeit als die dunkle gibt. Sehen Sie, hier unten, wo sich das Leben so anfühlt, als fände es unter einem Deckmantel statt, der mir die Luft abschnürt, ist es mir nicht möglich, mich daran zu erinnern, dass ich mich jemals anders gefühlt habe. Ich muss mich bewusst daran erinnern, dass es Gründe gibt, an dieser Welt festzuhalten, auch wenn diese mir entfallen sind. Ich sage mir, dass mir diese Gründe schon wieder einfallen werden, solange es mir nur gelingt, weiter festzuhalten.