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Sophienlust
– 255 –

Nona, das Flüchtlingskind

Kann sie sich auf ihre neuen Eltern verlassen?

Aliza Korten

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-595-6

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»Diese Fahrt hätten wir uns ersparen können, Isi.« Alexander von Schoen­ecker war ein bisschen ärgerlich.

Denise von Schoenecker sah ihren Mann lächelnd an und meinte ruhig: »Es ist nicht zu ändern. Wir wollen es hinnehmen, wie es nun einmal ist. Für die kleine Nona ist es wahrscheinlich ein Glück, dass sie Aufnahme in einer Familie gefunden hat.«

»Man hätte uns wenigstens anrufen können. Nun sind wir nach Frankfurt kutschiert und erfahren hier, dass der Heimplatz für das Kind aus Bangla­desch nicht mehr benötigt wird.«

»Die Organisation solcher Transporte ist schwierig, Alexander. Wir sollten nicht an uns denken, sondern an die armen Kinder. Sophienlust ist für Kinder gedacht, die sich in Not befinden. Unsere kleine Nona, von der wir nur ein Foto haben, leidet jetzt keine Not mehr. Sie wird vergessen, was hinter ihr liegt, und sie wird hoffentlich den Weg in eine unbeschwerte, geborgene Kindheit antreten.«

»Natürlich hast du recht, Isi«, erwiderte Alexander. »Aber ich denke auch an Nick, Henrik und die Kinder in Sophienlust. Sie haben sich auf Nona gefreut und wollten sie festlich empfangen. Schwester Regine hat das Zimmer vorbereitet, das Bett überzogen, und die gute Magda erwartet das neue Kind gewiss mit einer besonders leckeren Torte oder einer anderen Spezialität aus ihrer Küche. Es wird eine große Enttäuschung geben, wenn wir ohne Nona heimkehren.«

»Wir müssen es den Kindern erklären. Ich gebe zu, dass ich selbst enttäuscht bin, Alexander. Aber es hat keinen Sinn, wenn wir uns deswegen die Köpfe zerbrechen. Auf jeden Fall werde ich dem Roten Kreuz mitteilen, dass wir weiterhin gern bereit sind, ein Flüchtlingskind bei uns aufzunehmen.«

»Fahren wir noch in die Stadt? Möchtest du dir etwas kaufen? Dann hätte diese Tour zum Frankfurter Flughafen wenigstens noch einen Sinn.«

Denise von Schoenecker schüttelte den Kopf. »Lass uns dort im Restaurant eine Tasse Kaffee trinken und dann so schnell wie möglich nach Sophienlust zurückfahren, Alexander. Wenn wir allzu lange ausbleiben, sorgen sie sich vielleicht um uns.«

»Wir könnten anrufen.«

»Per Telefon möchte ich unsere enttäuschende Nachricht nicht bekannt geben, Alexander. Es liegt mir daran, es den Kindern persönlich zu sagen.«

»Ja, das ist sicherlich besser. Daran habe ich nicht gedacht.«

Durch die Menge der Flugreisenden bahnten sich die beiden ihren Weg. Im Restaurant fanden sie einen freien Tisch und erhielten Gelegenheit, einige der kleinen Ankömmlinge aus dem fernen Asien wenigstens zu sehen. Unmittelbar neben ihnen saß ein Ehepaar. Eifrig und besorgt bemühte sich die junge Frau, einen scheuen Jungen von etwa vier Jahren mit Kakao und Kuchen zu füttern. Am Fenster bemerkte das Ehepaar von Schoenecker eine Familie, die offenbar zwei Kinder aufgenommen hatte. Die beiden Mädchen hielten einander fest bei den Händen. Möglicherweise waren es Schwestern, die auf diese Weise auch weiterhin beisammenbleiben konnten.

»Es ist erfreulich, dass so viele Familien spontan bereit sind, sich dieser verlassenen Kinder anzunehmen«, stellte Denise fest. »Unser Bett in Sophienlust wird bald genug belegt werden. Es gibt ja auch hier in Deutschland Notfälle. Ich hoffe, dass das Schicksal es mit der kleinen Nona gut gemeint hat.«

Der bestellte Kaffee wurde gebracht.

»Ich finde es jetzt ganz gemütlich, dass wir zwei allein hier sitzen und plaudern können«, meinte Denise heiter. »Der Anlass ist ja nicht unerfreulich. Unsere Hilfe wird nicht gebraucht. Das ist alles. Wann kommen wir beide schon einmal dazu, in aller Ruhe in einem Restaurant Kaffee zu trinken?«

»Dir gelingt es wirklich immer, die Dinge von ihrer besten Seite zu betrachten«, meinte Alexander. »Ich schäme mich, dass ich so missmutig war. Wir sollten uns eigentlich etwas Anspruchsvolleres leisten als nur Kaffee. Sekt, zum Beispiel.« Alexander lachte, weil er das nicht ernst meinte.

»Bei uns genügt der Kaffee vollkommen«, erklärte Denise vergnügt. »Wenn ich dich so anschaue, muss ich zugeben, dass du der am besten aussehendste Mann in diesem Lokal bist. Ich würde mich sofort in dich verlieben, wenn das nicht bereits geschehen wäre.«

Alexander legte seine Hand über die Hand seiner geliebten Frau. »Ich kann mir das Leben ohne dich nicht mehr vorstellen, Isi. Du hast mir das zurückgegeben, was ich verloren hatte. Du wurdest für Sascha und Andrea eine gute Mutter, du hast uns Henrik geschenkt. Und in deinem prächtigen Nick fand ich einen weiteren Sohn.«

»Nick liebt dich, als wärst du sein leiblicher Vater, Alexander. Du weißt, dass er noch nicht geboren war, als Dietmar starb. Ich habe nicht mehr an das Glück glauben können in den harten Jahren nach seinem Tod. Dann kam die unerwartete Erbschaft. Mir erscheint der Wandel bis auf den heutigen Tag wie ein Wunder. Nick erhielt Sophienlust, und mir fiel die Aufgabe zu, das schöne Haus in eine Zufluchtsstätte für in Not geratene Kinder umzuwandeln.«

»Schade, dass Sophie von Wellentin nicht mehr erleben konnte, was aus Sophienlust geworden ist. Obwohl sie dich kaum kannte, muss sie geahnt haben, welche Fähigkeiten in dir verborgen waren. Ich verdanke dem Testament von Nicks Urgroßmutter die Begegnung mit dir. Die Vorstellung, dass uns das Schicksal unser Glück hätte neiden und verwehren können, ist schrecklich.«

Denise nickte ihrem Mann zu. »Mich verbindet mit Sophie von Wellentin eine Art Seelenfreundschaft, obgleich ich sie nur ein einziges Mal sah. Aber ich habe ihr Bild im Biedermeierzimmer, und mit ihm halte ich immer wieder Zwiesprache. Ich bin überzeugt, dass der gute Geist dieser Frau über dem Hause waltet.«

»Das Haus der glücklichen Kinder, wie Nick sagt. Ich möchte hinzufügen, dass unser Gutshaus in Schoeneich die Heimstatt einer außergewöhnlich glücklichen Familie geworden ist, seit du bei uns Einzug gehalten hast.«

So hielten sie ein wenig Rückschau und erinnerten sich an jene Zeit, in der Nick erst fünf Jahre alt gewesen war.

Damals war ihm das große Erbe von seiner Urgroßmutter zugefallen, und Denise und Alexander hatten einander kennengelernt. Die Nachbarschaft der beiden Güter hatte es mit sich gebracht, dass sie einander begegnet waren. Jetzt war Nick ein lang aufgeschossener Gymnasiast, und selbst der kleine Henrik ging bereits in Wildmoos zur Schule. Die Jahre waren wie im Fluge vergangen. Doch es kam dem Ehepaar so vor, als seien nur die Kinder größer geworden. Sie selbst waren jung geblieben im ständigen Umgang mit der Jugend – und in der Gewissheit ihrer großen erfüllten Liebe.

»Wir sollten aufbrechen«, mahnte Alexander schließlich. »Ich könnte zwar noch lange so nett mit dir dasitzen, weil hier die absolute Garantie gegeben ist, dass dich ein Ruf aus Sophienlust nicht erreichen kann, aber ich meine, wir müssen zurück.«

Er zahlte und führte seine Frau zum Ausgang. Mancher Blick folgte dem Paar. Besonders Denise erregte eine gewisse Aufmerksamkeit. Sie war gertenschlank und hatte herrliches dunkles Haar. Mit Recht war Alexander stolz auf seine schöne Frau, an der die Jahre spurlos vorüberzugehen schienen.

Wenig später setzten sie sich ins Auto und traten die Heimfahrt an. Unterwegs besprachen sie, wie sie die enttäuschten Kinder in Sophienlust ein wenig entschädigen könnten.

Dass Nick, der sich stark für die Belange des Heims einsetzte, besonders heftig reagieren würde, wussten sie. Nick war felsenfest davon überzeugt, dass es für jedes Kind das höchste Glück sei, nach Sophienlust zu kommen. Wahrscheinlich würde er Denise und Alexander sogar Vorwürfe machen, weil sie nicht um Nona gekämpft hatten.

*

Nona konnte die blonde Frau, die nun ihre Mutter sein wollte, immer nur ansehen. Im Flüchtlingslager des Roten Kreuzes in Bangladesch hatte sie bereits ein wenig Deutsch gelernt, sodass sie sich mit ihren neuen Eltern einigermaßen verständigen konnte.

Jane Wilden war ihrerseits ganz vernarrt in das Kind, das so exotisch aussah und sich vertrauensvoll von ihr in die Arme nehmen ließ. In letzter Minute war es ihr und ihrem Mann gelungen, eines der Flüchtlingskinder zu bekommen. Eigentlich war für Nona bereits ein Platz in einem Heim zur Verfügung gestellt worden. Doch das Rote Kreuz hatte der Bewerbung des Ehepaares nachträglich stattgegeben, weil die Unterbringung der Kinder in Familien erklärtes Ziel dieser Aktion war.

Jane hatte alle Widerstände zu überwinden gewusst, einschließlich der Bedenken ihres Mannes. Durch Veröffentlichungen in der Presse, sowie in Funk und Fernsehen war sie auf den Transport der Flüchtlingskinder und deren Schicksal aufmerksam geworden und hatte ihre weitreichende Publicity sowie ihre Beziehungen spielen lassen. Jedermann war bereit gewesen, der bekannten Schauspielerin entgegenzukommen. Bereits in Frankfurt auf dem Flughafen war fotografiert worden. Jane Wilden mit Nona im Arm, Jane Wilden im Gespräch mit Nona und so weiter. Der Kontrast der blonden Schönheit gegen den geheimnisvollen Hauch eines fernen Erdteils, der Nona umgab, war außerordentlich wirkungsvoll.

Von Frankfurt aus waren sie nach Hamburg geflogen. In der anspruchsvollen Villa hatte ein perfekt eingerichtetes Kinderzimmer auf Nona gewartet, sowie Gesine, ein Mädchen von sechsundzwanzig Jahren, das eigens zur Betreuung des neuen Töchterchens der Familie eingestellt worden war.

Gesine badete Nona nun jeden Tag und kleidete sie mit den hübschen Sachen, die Jane sogleich für Nona gekauft hatte. Das Kind sagte nicht viel, weil es die Sprache noch nicht fließend beherrschte, und weil es sicherlich Schwierigkeiten hatte, sich in der veränderten Welt zurechtzufinden. Dennoch war zu erkennen, dass Nona sich glücklich fühlte. Behutsam betastete sie das neue Spielzeug und ließ sich von Gesine zeigen, was sie mit diesen Wunderdingen anfangen könnte.

Eine hellblonde Puppe liebte Nona besonders. »Sieht aus wie Mutti«, erklärte sie mit leuchtenden Augen.

Jane Wilden nahm als selbstverständlich hin, dass Nona sie innig liebte. Sie hatte nichts anderes erwartet. Bisher war in ihrem Leben stets alles so verlaufen, wie sie es sich gewünscht hatte. Noch nie hatte ihr das Schicksal etwas verwehrt. Sie hatte eine beachtliche Karriere als Schauspielerin gemacht und trat jetzt auf vielen deutschen Bühnen auf. Außerdem erhielt sie immer wieder attraktive Rollen im Fernsehen. Was sie bisher auch in die Hand genommen hatte, war ihr gelungen. Ihre große künstlerische Begabung und ihr Fleiß hatten ihr natürlich geholfen, doch in erster Linie war ihr immer wieder das Glück hold gewesen. Im Laufe der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt und konnte sich Enttäuschung oder Misserfolg kaum vorstellen.

Als Jane Dirk Parker kennengelernt hatte, war es bei beiden Liebe auf den ersten Blick gewesen. Trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Berufe hatten sie gefühlt, dass sie zusammengehörten. Dirk war Anwalt in Hamburg und hätte sich im Grunde niemals träumen lassen, dass seine Frau Schauspielerin sein könnte. Seine Freunde hatten ihn seinerzeit sogar von einer Ehe mit Jane Wilden gewarnt. Das könne nicht gut ausgehen, hatten sie gemeint.

Heute lächelten Jane und Dirk, wenn sie sich an solche Prophezeiungen erinnerten, denn auch Janes Freunde waren damals besorgt gewesen.

Jane hatte ihren Namen beibehalten. Nur auf amtlichen Dokumenten unterzeichnete sie mit Jane Parker. Obwohl sie anfangs versprochen hatte, sich allmählich aus ihrem Beruf zurückzuziehen, konnte sie kein einziges Angebot für eine gute Rolle ausschlagen. Nein, sie konnte es einfach nicht.

Hier lag das einzige Problem in ihrer glücklichen Ehe. Jane war für Dirks Geschmack viel zu viel unterwegs.

Es störte ihn, dass er sie mit ihrem Publikum teilen sollte. Doch er mochte seiner Frau auch keine Vorschriften machen. Musste er nicht akzeptieren, dass eine Künstlerin mit besonderen Maßen zu messen war?

Es war an einem warmen Sommerabend, als Dirk und Jane auf der Terrasse saßen, nachdem Jane Nona eine gute Nacht gewünscht und ihr ein Lied vorgesungen hatte.

»Nona ist sehr intelligent, Dirk«, sagte Jane. »Sie spricht jetzt schon recht gut Deutsch. Gesine berichtet, dass sie sich bereits mühelos mit ihr verständigen kann. Wir haben Glück gehabt. Man weiß ja wirklich nicht, woher die Kinder stammen. Das wird man auch nie herausfinden. Wenn Gesine sie nach ihrer Mutter zu fragen versucht, so schweigt Nona. Mag sein, sie hat alles, was hinter ihr liegt, vergessen. Sie war immerhin ein halbes Jahr im Flüchtlingslager des Roten Kreuzes. Wahrscheinlich vergessen Kinder rasch.«

Dirk Parker nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Die Kleine hat sich inzwischen in meinem Herzen eingenistet«, gestand er mit gutmütigem Lächeln. »Du weißt, dass ich anfangs gegen diesen Plan war. Aber nun habe ich unsere Nona richtig gern und möchte sie nicht wieder hergeben. Ich verspreche mir sogar einiges von ihr.«

»Wie meinst du das?« Janes tiefblaue Augen waren voll auf Dirk gerichtet. Ihre Frage klang ein wenig aggressiv.

»Du verstehst mich, Liebste«, erwiderte Dirk freundlich. »Ich hoffe, dass du dich in deiner Tätigkeit nach und nach auf Hamburg beschränken, vielleicht sogar allmählich mit der Schauspielerei Schluss machen wirst. Dass ich auf die Bühne und auf das Fernsehen etwas eifersüchtig bin, darfst du mir nicht verübeln. Ursprünglich wolltest du …«

»Ich habe dir nie etwas fest versprochen«, unterbrach Jane ihn sofort. »Es ist mir einfach unmöglich, nur das gute Hausmütterchen zu spielen. Möchtest du, dass ich die Köchin und die beiden Mädchen entlasse? Soll ich Kuchen backen und Wäsche waschen?«

Dirk Parker lachte, doch es klang ein wenig gezwungen. »Natürlich nicht, Jane. Dazu bist du wohl nicht geboren. Aber ich habe gedacht, dass die Erziehung von Nona eine lohnende Aufgabe für dich wäre.«

»Das fordert mir nicht genug ab, Dirk. Ich brauche meine Arbeit auf der Bühne und vor der Kamera. Wie sehr ich davon abhängig bin, habe ich früher nicht gewusst. Du darfst mir deswegen nicht böse sein. Schließlich würdest du deine Anwaltspraxis mir zuliebe auch nicht schließen. Möglicherweise ist unsere Ehe gerade deshalb so glücklich geworden, weil wir beide einen Beruf haben, der uns ausfüllt.«

Dirk unterdrückte einen Seufzer. Erst am Abend zuvor war Jane in Hamburg aufgetreten. Auf ihrem Schreibtisch lag das Angebot einer Rolle in einer Fernseh-Produktion, die in München gedreht werden sollte. Noch hatte Jane sich nicht entschieden, weil sie damit für längere Zeit nach München gehen musste. Doch er wusste, dass Jane der Verlockung nicht widerstehen würde. Am Ende würde sie also reisen …

»Ich liebe dich«, sagte er leise und warm. »Vielleicht bin ich ein Egoist, dass ich dich mehr für mich haben möchte. Nun ist obendrein noch Nona im Haus, die sicherlich traurig sein würde, würdest du zum Beispiel nach München gehen.«

Janes Wangen färbten sich etwas stärker. Auch sie hatte eben an die Fernseh-Produktion in München gedacht.