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Über dieses Buch:

Asheville, North Carolina. Voller Freude stoßen vier Freundinnen mit Champagner auf ihre glänzenden Zukunftspläne an: Liz, die die Welt verändern will, Tess, die zukünftige Nobelpreisträgerin, Lovey, die von allen bewunderte Schönheitskönigin, und Grace, die immer Rat und Antwort weiß. Mit leuchtenden Augen schwören sie einander, die Erfüllung ihrer Träume in einem reihum wandernden Tagebuch festzuhalten … Doch 30 Jahre später hat das Leben die drei Frauen auseinandergetrieben wie Blätter auf einem Fluss. Nach einem Schicksalsschlag wünscht sich Grace darum mehr denn je, ihre Freundinnen endlich wiederzusehen. Bald schon müssen die Frauen allerdings feststellen, dass keine von ihnen in dem Tagebuch wirklich ehrlich war – aber können sich ihre Hoffnungen und Träume vielleicht auch jetzt noch erfüllen, nach all dieser Zeit?

Über die Autorin:

Penelope J. Stokes unterrichtete zwölf Jahre lang an einem College Literatur und kreatives Schreiben, bevor sie 1985 ihre Lehrtätigkeit beendete, um sich vollends dem Schreiben zu widmen. Für ihre Romane wurde sie vielfach ausgezeichnet und eroberte die Herzen ihrer Leser mit dem Bestseller »Eine Flaschenpost voller Träume« im Sturm. Ihr Roman »Die Töchter von Asheville Hall« ist eine Hommage an ihre Heimat inmitten der wunderschönen Blue Ridge Mountains in North Carolina.

Mehr über die Autorin erfahren Sie auf ihrer englischsprachigen Website: lifebeyondbooks.wordpress.com/

Penelope J. Stokes veröffentlichte bei dotbooks ihre Romane:

»Einen Flaschenpost voller Träume«

»Das Geheimnis von Noble House«

»Die Töchter von Asheville Hall«

»Das bernsteinfarbene Foto«

»Das Lied unseres Sommers«

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eBook-Neuausgabe Dezember 2020

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2004 unter dem Originaltitel »Circle of Grace« bei Doubleday, New York.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2004 by Penelope J. Stokes

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2006 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Published by Arrangement with Penelope J. Stokes

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von Adobe Stock/bernardbodo

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-259-2

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Penelope J. Stokes

Die Frauen, die wir waren

Roman

Aus dem Amerikanischen von Heidi Lichtblau

dotbooks.

Prolog
DAS VERSPRECHEN

Asheville, North Carolina
Vor dreißig Jahren

In einer schummrigen Ecke des Restaurants Kelso saßen vier junge Frauen um einen großen, runden Tisch, auf dem noch die Reste des Dinners, halb gefüllte Kaffeetassen und eine Reihe leerer Weinflaschen herumstanden. An einer der Flaschen lehnten aufgeschlagene Pappmappen mit Diplomen darin, und über die Lehne eines leeren Stuhls waren nachlässig schwarze Talare geworfen worden. Mit dem fröhlichen Gelächter und der angeregten Unterhaltung am Tisch zogen sie manch wütenden Blick von den Gästen um sie herum auf sich.

»Meine Damen«, unterbrach der Kellner sie mit einem milden Lächeln. »Verzeihen Sie die Unterbrechung!« Er zauberte eine Flasche günstigen Champagners und einen versilberten Sektkübel hinter seinem Rücken hervor. »Mit den besten Empfehlungen vom Geschäftsführer, und unseren Glückwunsch!«

Der Korken knallte, drei der Frauen jubelten, und der Kellner entfernte sich.

Eine langbeinige, braun gebrannte Blondine in einem geblümten Sommerkleid stand auf. »Ein Toast!«, sagte sie und erhob das Glas.

»Hör mal, Lovey, meinst du nicht, du hattest genug?«

Die Blondine blickte an ihrer Nase hinunter. »Jetzt sei keine Spaßbremse, Grace! Ich weiß schon, normalerweise trinkst du nichts, aber nun hast du fast vier Jahre lang mit uns dreien zusammengewohnt. Da sollte man meinen, du wüsstest inzwischen, dass man auch mal auf den Putz hauen darf« Sie warf den anderen beiden einen Blick zu. »Liz? Tess? Sagt doch auch mal was!«

Liz und Tess wechselten einen Blick. »Das hier ist unsere Abschlussfeier«, erklärte Tess.

»Japp«, stimmte Liz ihr – lauter – zu. »Und angesichts der Weltlage können wir uns genauso gut amüsieren, solange das noch geht. Kennedy ist tot. King ist tot. Nixon sitzt im Weißen Haus. Wer weiß, ob wir nicht vor unserem nächsten Wiedersehen schon alle hopsgegangen sind!«

»Nach diesen erhebenden Worten ...«, Lovey zog eine Grimasse in Liz' Richtung, »... könnten wir da vielleicht die Politik mal beiseite lassen, nur für diesen Abend? Wie sieht's denn nun mit unserem Toast aus?«

Mit einem Achselzucken und einem halbherzigen Lächeln gab Grace nach. »Na gut, na gut.« Sie beäugte die Champagnerflasche. »Ein klein wenig vielleicht.«

Sie standen auf und erhoben die Gläser. »Auf uns alle!«, verkündete Lovey, und ihre Hand zitterte leicht, als sie die schäumende Flöte hob. »Als Erstes auf Liz Chandler, eine Frau, die dazu ausersehen ist, die Welt zu verändern!«

Liz grinste und nickte. »Zum Besseren, hoffe ich. Eine Veränderung ist jedenfalls nötig.«

Lovey wandte sich an Tess. »Und auf Tess Riley, künftige Nobelpreisträgerin für Literatur!«

Tess lachte. »Na ja, ein mickriger, kleiner Pulitzer täte es vielleicht auch schon!«

Liz richtete ihre Champagnerflöte auf Tess. »Vergiss uns nicht, wenn du berühmt bist!«

»Und zu guter Letzt auf Grace Benedict«, fuhr Lovey fort. »Die von uns, die immer die Wahrheit spricht. Die, die uns dazu bringt, ehrlich zu bleiben. Du hast uns den Weg gezeigt – auch wenn wir ihn nicht eingeschlagen haben.«

»Moment, wir sind noch nicht fertig«, unterbrach Liz sie. »Auf Amanda Love. Schönheitskönigin. Cheerleader. Diejenige, die wohl am ehesten ...«

»Lass den Quatsch, Liz!« Lovey zog den Kopf ein.

»Und die beste Freundin, die man nur haben kann«, beendete Liz den Satz.

Lovey lächelte. »Danke.« Ihr Glas funkelte im Kerzenlicht. »Auf uns. Auf unsere Freundschaft. Auf die Zukunft!«

Sie stießen miteinander an, tranken einander zu und setzten sich wieder. Tess griff in ihre Handtasche und zog ein kleines, viereckiges Päckchen heraus, das in goldenes Papier eingewickelt war. »Ich habe ein Geschenk für uns alle.«

»Wir haben doch gesagt: Keine Geschenke!«, protestierten die anderen im Chor.

»Das ist was anderes.« Tess übergab Grace das Geschenk. »Du hast die Ehre!«

»Sicher?« Grace blickte in die Runde.

»Mach's auf«, beharrte Lovey.

Grace zog das Band von den Ecken herunter und schlitzte das Papier hinten vorsichtig auf.

Liz verdrehte die Augen. »Um Himmels willen, Grace. Wir heben das Papier doch nicht für die Nachwelt auf!«

»Wer weiß.« Grace zog eine Grimasse und sprach in melodramatischem Ton: »Dies könnte ein historisches Ereignis sein. Als Andenken an unseren letzten Abend könnte dieses Papier eines Tages viel wert sein. Na, bei einer Auktion könnte es ...«

»Mach's einfach auf

Endlich hatte sie das Päckchen ausgewickelt, öffnete die Schachtel und hielt das Geschenk hoch, sodass alle es sehen konnten. Es war ein kleines, in Leder gebundenes Buch, dunkelgrün, mit einer Strichzeichnung in Gold darauf – eine kleine Parkbank, flankiert von einem Laternenpfahl und einem sprudelnden Brunnen. »Ein Tagebuch.«

»Ein Wandertagebuch«, verbesserte Tess sie. »Jetzt, wo wir mit dem College fertig sind, werden wir ja alle getrennte Wege gehen. Da habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, wie wir miteinander in Kontakt bleiben. Jede schreibt hier rein, was in ihrem Leben gerade so los ist, versteht ihr, und dann schicken wir es reihum, sodass alle anderen auch lesen können, was man geschrieben hat. Es wird zu einer laufenden Aufzeichnung unseres Lebens und hält uns in Verbindung.«

Als hätte Tess das ausgesprochen, was sie alle dachten, senkte sich Schweigen über die Gruppe. Fast vier Jahre lang hatten sie zusammengelebt, ihre Tragödien und Siege miteinander geteilt. Sie hatten gestritten und sich versöhnt, Nächte durchgearbeitet, gegenseitig die Zeugnisse gelesen, gegenseitig die Freunde beurteilt. Gemeinsam hatten sie sich von unsicheren Teenagern zu unabhängigen jungen Frauen entwickelt.

Vier goldene Jahre. Und nun waren sie vorbei.

»Ich möchte, dass wir uns versprechen, dass wir alle in das Tagebuch schreiben und es dann weiterschicken«, sagte Tess. »Versprecht, dass wir den Kontakt nicht abreißen lassen.«

»Und versprecht«, fügte Grace hinzu, »dass wir immer ehrlich zueinander sind, egal was passiert. Und immer beste Freundinnen bleiben.«

Lovey füllte die Gläser aus der letzten Flasche nach, die der Kellner gebracht hatte. »Eine Freundschaft wie unsere erlebt man nur einmal im Leben«, erklärte sie. »So etwas bleibt!«

Erneut stießen sie aufeinander an, auf das Band, das sie zusammenhielt.

Und diesmal nippte Grace nicht nur an dem goldenen Schaum. Sie leerte das Champagnerglas bis auf den letzten Tropfen.

Teil I
GRACE

Was auch immer die Wahrheit sein mag,
Sie weilt nicht in Träumen,
In Erdichtungen eines sehnsüchtigen Herzens
Oder brennenden Fabeln eines fiebernden Geistes.

Was war, ist ein Dunst auf den Bergen.
Was hätte sein können, wirbelt gerade so eben
Außer unserer Reichweite herum,
Trugbild im Dunst.

Was ist
Und was noch kommt,
Mag unsere Seelen verwunden,
Aber an der großen Illusion festzuhalten,
Vernichtet uns
Über jegliche Hoffnung auf Heilung hinaus.

Kapitel 1
Beharrliche Erinnerung

Gegenwart

Grace Benedict war zweiundfünfzig Jahre alt, und noch immer hasste sie Arztbesuche. Vermied sie um jeden Preis. Aber diesmal hatte sie keine andere Wahl. Vor zwei Wochen war bei einer längst fälligen Mammografie an ihrer rechten Brust ein verdächtiger Knoten entdeckt worden. Wahrscheinlich harmlos, hatte der Arzt ihr versichert. Vermutlich bloß eine Zyste, wie sie Frauen andauernd bekamen. Nach einer Biopsie und zahllosen weiterer Tests hatte man sie gebeten, zur Besprechung der Ergebnisse noch einmal zu kommen.

Nein, darüber könne man sich nicht am Telefon unterhalten, hatte die Krankenschwester erklärt. Es sei besser, sie komme herein und spreche mit dem Arzt persönlich. Sie vereinbarten einen Termin in ihrer Mittagspause, und es wurde ihr versprochen, dass es nicht über eine halbe Stunde dauere.

»Mrs Benedict, nehmen Sie doch Platz«, sagte die junge Frau hinter der verglasten Theke. »Der Doktor wird gleich da sein.«

Nicht Mrs, dachte Grace. Aber sie sparte es sich, die Sprechstundenhilfe zu korrigieren. Stattdessen verließ sie die Theke und setzte sich auf einen beschädigten Plastikstuhl in einer Ecke des Wartezimmers. Zu ihrer Rechten beherbergte ein sprudelndes Aquarium mit einer Rückwand in knalligem Blauton mehrere farbenfrohe Tropenfische. Grace nahm sich eine veraltete, abgegriffene Ausgabe der U.S. News vom Beistelltisch und versuchte, das jammernde Kind ein paar Stühle weiter zu ignorieren. WAHLERGEBNISSE NOCH IMMER ANGEZWEIFELT, verkündete das Titelblatt. Darunter Bilder von George W. Bush und Al Gore und wiederum darunter in kleinen Lettern: Was ist in Florida schiefgelaufen?

Grace warf die alte Zeitschrift zurück auf den Tisch, doch ihr Blick blieb weiterhin auf den Worten haften: Was ist schief gelaufen?

Sie sann über die Frage nach – eine Frage, die sie seit fast drei Jahrzehnten verfolgte. Und es gab nur eine Antwort, die überhaupt keine Antwort war: alles.

Vor dreißig Jahren hätte sie sich die Zukunft, die sie erwartete, nie vorzustellen vermocht. Eine Zukunft voller Fehler, Leid und …

Nun, lieber nicht darüber nachdenken.

Sie setzte sich um und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie die erschöpfte, junge Mutter vergeblich versuchte, ihre Tochter zu trösten. Das kleine Mädchen, das vielleicht fünf oder sechs Jahre alt war, rollte sich auf dem Schoß ihrer Mutter zusammen und wimmerte. »Es wird alles gut«, beruhigte die Mutter sie und strich ihr eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. »Der Doktor gibt dir eine Medizin, und dann ist alles wieder gut.«

Grace biss sich auf die Lippen und wandte den Blick ab. Wenn es doch solch ein Medikament nur gäbe, das »alles wieder in Ordnung bringt«. Aber keine Wundermedizin konnte ein Leben reparieren, und selbst wenn solch ein Zaubertrank existiert hätte, so hätte sie es sich nicht leisten können.

Eine Krankenschwester, die einen rosa, mit Beatrix-Potter-Häschen bedruckten Kittel trug, erschien mit einem Klemmbrett in der Tür und blickte sich im Wartezimmer um. »Mrs Bennett?«

»Benedict«, berichtigte sie Grace und wandte sich an die junge Mutter. »Außer Sie heißen Bennett?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Whitlock«, sagte sie.

Grace erhob sich und wandte sich an die Krankenschwester. »Ich schätze, dann meinen Sie wohl mich. Grace Benedict.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Wie der Verräter.«

»Was auch immer.« Die Krankenschwester blickte sie ausdruckslos an und zuckte mit den Schultern. »Kommen Sie bitte mit.«

Grace folgte ihr in den Untersuchungsraum 3. »Nehmen Sie Platz«, sagte die Krankenschwester. »Der Doktor kommt …«

»Ich weiß. Der Doktor kommt gleich zu mir.«

Der zweite Versuch eines Scherzes ging genauso daneben wie der erste. Die Krankenschwester schob das Klemmbrett in einen Plastikhalter an der Wand und zog die Tür zu.

Fast im selben Augenblick, in dem die Tür zuschnappte, war ein leises Klopfen zu hören. Der Türknauf drehte sich, und ein Mann trat ein. Er war klein und dunkelhäutig, mit dichtem, kurz geschorenem schwarzem Haar und tief liegenden Augen. Auf die Tasche seines weißen Laborkittels war in Rot der Name Sangi gestickt. Grace war ihm noch nie begegnet, aber in der Klinik arbeiteten eine Menge Ärzte, und es war nicht ungewöhnlich, jedes Mal an einen anderen zu geraten.

»Guten Tag, Mrs Benedict«, begrüßte er sie kurz und bündig. »Ich bin Dr. Butahali Sangi.« Er blätterte ihre Unterlagen durch. »Wir haben Ihre Testergebnisse.«

»Grace. Bitte nennen Sie mich Grace.«

Er lächelte. »Na, dann: Grace. Bitte setzen Sie sich doch auf den Tisch.«

Grace tat wie geheißen und stemmte sich auf den hohen Untersuchungstisch. Das Schutzpapier raschelte unter ihren Oberschenkeln.

Dr. Sangi setzte sich auf einen Stuhl und rollte darauf zu ihr. Einen Augenblick oder zwei schwieg er, konzentrierte sich stattdessen auf die Lektüre der Aufzeichnungen vor ihm. Schließlich hob er den Blick – seine großen, dunklen, glänzenden Augen erinnerten Grace an ein verletzliches kleines Waldlebewesen.

»Sie haben vor kurzem eine Mammografie machen lassen, richtig? Am 15. Februar?«

Grace nickte. »Ja.« Etwas in ihrem Magen flatterte, ein eingesperrter Vogel, der an die Käfiggitter schlug. »Stimmt etwas nicht?«

Eine ganze Minute starrte Sangi sie an. »Es fällt einem nicht leicht, jemandem so etwas zu sagen.« Er schüttelte den Kopf.

Sie atmete schwer aus. »Der Knoten. Das war nicht bloß eine Zyste.«

Der Arzt legte ihre Karteikarte beiseite und berührte ihr Handgelenk mit kantigen braunen Fingern. »Gibt es nicht vielleicht jemanden, den ich anrufen sollte? Einen Ehemann? Einen Freund?«

Die Berührung war kurz, sanft, doch Grace kam es vor, als hätte sie einen Stromschlag erhalten. »Niemanden.« Sie holte Luft und hob den Kopf. »Sagen Sie es mir einfach freiheraus, Doktor. Alles!«

»Wie Sie wünschen.« Er rollte ein Stück von ihr weg, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, nahm die Unterlagen und las: »Sie haben das, was wir für einen metastasierenden Tumor im Stadium IV mit Infiltration der Brustwand und Zwischenrippenmuskulatur halten. Des Weiteren vermuten wir einen Lymphknotenbefall, wissen das mit Sicherheit allerdings erst nach einem chirurgischen Eingriff.«

Instinktiv hielt Grace sich die Hand schützend an die Brust. Sie blickte auf ihre Finger, die ihre Brust umfassten, und ein Bild kam ihr in den Sinn – ein dunkler und bedrohlicher Tintenfisch, der in ihr steckte und dessen Tintententakel ausgriffen und auf ihre inneren Organe zuglitten. Sie erschauerte.

Dr. Sangi wartete, bis sie sich wieder gefangen hatte.

»Stadium IV«, sagte sie schließlich. »Und wie viele Stadien gibt es?«

»Vier.«

»Und die Behandlungsmöglichkeiten?«

»Ich war bereits so frei, mich mit einem Spezialisten darüber abzusprechen. Freilich können wir versuchen, den Hauptanteil des Tumors zu entfernen«, erklärte er. »Dass man die Krebszellen allesamt erfolgreich entfernen kann, ist in diesem Stadium allerdings unwahrscheinlich. Es gibt zusätzliche Möglichkeiten. Intensive Chemotherapie. Bestrahlung vielleicht. Knochenmark- oder Stammzellentransplantation.«

Der Tintenfisch verstärkte seinen Griff, und einen Augenblick war es Grace, als wären ihre Lungen kollabiert. »Aber Sie können mich heilen«, sagte sie, als sie wieder atmen konnte.

»In Fällen wie dem Ihren sprechen wir nicht von Heilung.« Sangi seufzte. »Wir sprechen von Eindämmung. Von gewonnener Zeit.«

»Wie viel Zeit?«

»Sie wollten, dass ich geradeheraus bin«, meinte Dr. Sangi. Grace nickte, und er fuhr fort. »Bestenfalls ein Jahr. Vielleicht zwei. Vielleicht auch weniger. Bis nicht weitere Tests stattgefunden haben, lässt sich das nicht mit Sicherheit sagen.« In einer Geste der Kapitulation drehte er die Handflächen nach oben. Grace bemerkte, dass seine Handteller trotz seiner braunen Handrücken blassrosa waren. Einen Augenblick kam es ihr vor, als hätte sie einen Blick von einem intimen Körperteil erhascht, und sie errötete vor Verlegenheit.

»Und was würde dieses Jahr – sofern ich eines hätte – mit sich bringen?«

»Mit Sicherheit radikale Chemotherapie. Wenn wir den Tumor ein bisschen schrumpfen lassen könnten, dann operative Eingriffe. Danach zusätzliche Chemo. Wie auch die anderen bereits erwähnten Möglichkeiten.«

Eine Brustamputation, Monate der Chemo und Bestrahlung, rein ins Krankenhaus und wieder raus, übersetzte Grace. Das hatte sie bereits miterlebt. Die Symptome kannte sie nur zu gut. »Ständige Übelkeit. Haarausfall. Ausgelaugtheit. Und keinerlei Garantien.«

»Ich fürchte, da haben Sie Recht.« Sangi nickte.

»Und wenn ich mich gegen eine Behandlung entscheide?« Der Arzt machte ein verdutztes Gesicht. »Wie bitte?«

»Wenn ich hier rausmarschiere und mich nicht behandeln lasse – keine Operation, keine Chemo, keine Bestrahlung. Wie lange hätte ich dann noch?«

In seinem Blick glomm Verständnis auf, so etwas wie Respekt. »Das lässt sich unmöglich genau sagen. Ein paar Monate, vielleicht auch weniger.«

»Ein paar Monate ohne Schmerzen, ohne in eine Voodoopuppe verwandelt zu werden, zerschnitten, durchbohrt und mit Medikamenten vollgepumpt.«

Der Arzt nickte. »Bis gegen Ende zu verliefe das Ganze wahrscheinlich relativ schmerzfrei. Als Arzt könnte ich das natürlich nicht empfehlen …«

»Natürlich nicht.« Grace glitt vom Untersuchungstisch hinunter und legte Dr. Sangi eine Hand auf die Schulter. »Vielen Dank für Ihre Offenheit, Doktor. Ich weiß das mehr zu schätzen, als Sie ahnen.«

»Gern geschehen.« Nun lächelte er und ließ gleichmäßig weiße Zähne gegen dunkle Haut sehen.

»Ich brauche ein wenig Zeit, um nachzudenken«, meinte Grace. »Ich rufe Sie an.«

»Bitte bald«, warnte sie der Arzt. »Wir haben keine Zeit zu verlieren!«

***

Irgendwie schaffte Grace es, den Rest des Tages hinter sich zu bringen – die zurückgegebenen Bücher durchzugehen, sie wieder einzuräumen, neu eingetroffene Bücher zu katalogisieren – ganz mechanisch. In der Bücherei wusste niemand, dass sie das Mittagessen für einen Klinikbesuch hatte ausfallen lassen. Keiner hatte eine Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Grace Benedict, die treue schablonenhafte Figur, die unauffällige Bibliothekarin, die – wie eine Erscheinung – still durch die Bibliotheksmagazine glitt.

Doch bei ihrer Heimfahrt um Viertel nach fünf ging Grace unentwegt Dr. Sangis Frage durch den Kopf: »Gibt es nicht jemanden, den ich anrufen sollte?«

Seltsamerweise empfand sie angesichts der Nachricht des nahen Todes kein Gefühl des drohenden Verlusts. In diesem Punkt trieb sie über dem Schauplatz wie der Patient, der zwischen dieser Welt und der nächsten schwebt und alles mit nüchternem Blick betrachtet. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich völlig klarsichtig, Kraft schien in sie zu strömen, eine Flut von Adrenalin in die Adern und von Endorphinen ins Gehirn. Sie wusste mit Bestimmtheit, dass sie sich den von Dr. Sangi beschriebenen »Verfahren« nicht unterwerfen würde.

Was sie jedoch empfand, das war ein überwältigendes Gefühl der Einsamkeit.

Nein, es gab niemanden, den man anrufen konnte. Keinen einzigen Freund oder Geliebten, keinen Ehemann, kein Kind, keinen Elternteil, niemanden, der ihr in diesem kritischen Augenblick beistehen konnte.

Wie hatte es in ihrem Leben so weit kommen können?

Noch während sie die Frage im Geiste formulierte, kannte Grace die Antwort schon. Die ferne Erinnerung an den Widerhall einer zugeschlagenen Tür, eines Riegels, der vorgeschoben wurde – die hohlen Klänge in einem Gewölbe, das abgesperrt wurde, nachdem die Räuber bereits wieder verschwunden waren. Wie absurd, mit einer solchen Hartnäckigkeit eine leere Seele zu bewachen. Und doch kannte sie keine andere Möglichkeit zu überleben, sich die Angriffe des unumgänglichen Schmerzes des Lebens vom Leib zu halten.

Das war nicht immer so gewesen. Einst hatte sie Freundinnen gehabt, war verliebt gewesen, hatte versonnene Träume über die Art von Leben gehegt, das andere Leute zu führen schienen. Sie hatte vertraut, hatte gelacht, hatte ihr Herz geöffnet. Aber das war schon lange her.

Es lag schon über zwanzig Jahre zurück, dass Grace Benedict verliebt gewesen war, und da hatten die Flammen der Leidenschaft keine Wärme und keinen Trost gebracht, sondern eine verheerende Feuersbrunst, die sie völlig vernarbt und voller Angst zurückließ, noch einmal jemandem so nahe zu kommen, dass sie sich ein zweites Mal verbrennen könnte. Bei einigen wenigen Gelegenheiten in der Vergangenheit hatte sie jemanden Nettes kennen gelernt und beschlossen, es noch einmal zu versuchen, bloß um dann nach der ersten Verabredung oder dem ersten Kuss einen Rückzieher zu machen.

Aber sie hatte eine beste Freundin gehabt. Evelyn Jetterly.

Sie hatten sich in der Bücherei kennen gelernt, einander gemocht und angefangen, sich auf einen Kaffee zu treffen oder um sich über Bücher zu unterhalten. Allmählich reifte ihre intellektuelle Freundschaft zu etwas Persönlicherem, zu der Art von Freundschaft und Zusammengehörigkeitsgefühl, die Grace seit dem College nicht mehr erlebt hatte. Fast zehn Jahre lang lachten sie zusammen, weinten sie zusammen, erzählten einander alles – fast. Die beiden waren sich näher als Schwestern, und Grace war glücklich.

Bis auch Jet aus ihrem Leben gerissen wurde.

Noch immer konnte Grace die zerbrechlichen Knochen von Jets Hand in der ihren spüren, ihr ausgemergeltes Gesicht mit den großen, trockenen Augen und den aufgesprungenen Lippen vor sich sehen. In Jets Fall war es Gebärmutterhalskrebs, und es ging alles so schnell, dass ihnen beiden keine Zeit blieb, sich darauf einzustellen. Jet war einfach … fort.

Vergeblich versuchte Grace, das Bild der sterbenden Jet zu verdrängen. Sie wollte ihre Freundin nicht so in Erinnerung behalten, doch der Anblick ging ihr nicht aus dem Sinn. Nun war sie an der Reihe, und es würde niemanden geben, der bei ihrem Tod an ihrem Bett saß und ihr die Hand hielt.

Wie lange war es her, fragte sie sich, dass sie jemandem an einem Esstisch gegenübergesessen hatte? Monate? Jahre? Manchmal teilte sie sich mit der Teilzeit-Bibliotheksassistentin Marge auf der von Bäumen beschatteten Picknickfläche neben der Bücherei ein mitgebrachtes Mittagessen. Aber das konnte man ja kaum als gesellschaftliches Leben bezeichnen. Marge sprach pausenlos über das Wetter, ihren Wunsch, mit dem Rauchen aufzuhören, oder über ihre gegenwärtige Diät oder ihre Teenagerkinder, und dabei ließ sie Grace fast nie zu Wort kommen. Nicht, dass das was ausmachte. Grace gab sowieso nie etwas über ihr Privatleben preis, und Marge schien die Einseitigkeit ihrer Unterhaltungen gar nicht aufzufallen – oder zu kümmern.

Während sie die Jahre seit Jets Tod Revue passieren ließ, konnte sich Grace nur mit Mühe Rechenschaft darüber ablegen, wie sie diese Zeit verbracht hatte. Sie arbeitete, unternahm Fahrten in die Berge, sah fern, las vier oder fünf Bücher in der Woche. An Wochenenden ging sie auf kostengünstige Kinomatineen und saß allein im dunklen Kinosaal, aß Wal-Mart-Popcorn, das sie in einer Plastiktüte von zu Hause mitgebracht hatte. Manchmal machte sie einen Schaufensterbummel im Einkaufszentrum. Trank im Schnellrestaurant einen Kaffee. Plauderte mit Leuten, die sie vom Sehen her kannte, aber nicht mit Namen.

Nun hatte ihr Dr. Sangi die Frage gestellt, und Grace hatte der Antwort ins Auge sehen müssen. Es gab niemanden, den man anrufen konnte. Tags darauf konnte sie von der Erdoberfläche verschwunden sein, und niemand würde wissen, dass sie fehlte, bis jemand bei der Stadt anrief und sich darüber beschwerte, dass die Bücherei in seinem Stadtteil seit einer Woche nicht mehr aufgemacht hatte.

***

Grace bog in die Einfahrt neben ihrem Haus ein, stieg aus dem Auto und ging zum Postholen über den knirschenden Kies. Der Spätnachmittagshimmel war von einem prächtigen Blau, und in der Ferne jenseits der Hausdächer konnte sie die von der Sonne beschienenen Berggipfel sehen. Grau, grün und lila, sie ragten auf wie …

Wie Brüste, warf ihr Hirn ohne Vorwarnung ein. Wie feste, junge, gesunde, krebsfreie Brüste.

Grace wandte den Blick von den Bergen ab und leerte den Briefkasten aus. Rechnungen. Andauernd Rechnungen. Eine weitere Benachrichtigung von Carolina Power. Ein Kontoauszug, von dem sie, ohne einen Blick darauf zu werfen, wusste, dass er nicht genug Guthaben aufweisen würde, um ihre Schulden zu decken. Und eine Kreditkarte. Eine brandneue Visa Card mit ihrem Namen darauf.

Wann hatte sie die denn beantragt? Sie konnte sich gar nicht erinnern und konnte nicht fassen, dass man jemandem, der im Jahr weniger als 25 000 Dollar verdiente – jeder Cent davon ging für Miete, Essen, Autoreparaturen und anderes Lebensnotwendige drauf– tatsächlich eine Kreditkarte ausstellte.

Seit Jahren hatte sie von einem Lohnscheck zum nächsten gelebt, immer mit dem heißen Atem der Armut im Nacken, immer in Sorge, das Geld könne nicht bis zum Monatsende reichen. Ganz selten einmal, wenn sie ein bisschen etwas zusätzlich im Geldbeutel hatte, blieb sie am Straßenrand stehen und gab einem Wohnsitzlosen, der die Tage unter den Brücken und die Nächte in den örtlichen Obdachlosenheimen verbrachte, ein oder zwei Dollar.

Sie hatte Verständnis und gab ihnen nicht die Schuld für ihre Notlage. Es würde lediglich einen Monat dauern – allerhöchstens zwei – und jemand wie Grace säße selbst auf der Straße. Eine Entlassung. Ein Stellenabbau. Eine Krankheit …

Sie schüttelte den Kopf und verdrängte die unwillkommene Realität aus ihrem Kopf. Sie sagte sich immer, dass es nichts brachte, sich mit den »Was-wäre-wenns« zu beschäftigen. Und nun hatte sich das größte »Was-wäre-wenn« von allen eingestellt – nicht nur als Besuch, sondern um sich in ihrem schäbigen, beengten Haus längerfristig niederzulassen.

Ungläubig starrte sie auf die Visa Card, steckte sie in den Umschlag zurück und stieg die zwei ramponierten Betonstufen zur Haustür hinauf.

Es war ein warmer Tag gewesen, doch drinnen im Haus war es dunkel und klamm. Grace schaltete ein paar Lampen an, ging dann in die Küche, warf die Post auf den Küchentisch und öffnete den Kühlschrank. Ein halber Laib Weizenbrot, ein paar Eier, ein Rest Milch, schon fast eine Woche über dem Haltbarkeitsdatum. Eine Tüte mit Salatblättern, die an den Rändern braun und schleimig waren. Sie öffnete einen Hängeschrank und nahm eine Dose mit Broccolicremesuppe heraus – eine Billigmarke. Tränen sprangen ihr in die Augen, und sie donnerte die Dose auf die Küchenarbeitsfläche. Lächerlich. Vor weniger als sechs Stunden hatte man bei ihr Krebs diagnostiziert, und hier war sie und weinte, weil sie sich keine echte Suppe leisten konnte!

»Verdammt!«, murmelte sie in die Leere hinein. »Einmal nur wünschte ich, da wünschte ich mir …«

Was wünschte sie sich? Dass bei ihr alles schön sein könnte. Ein Haus mit frisch gestrichenen Wänden und einer Tapetenbordüre. Möbelstücke, die nicht durchhingen oder angeschlagen waren. Ein echtes Dinner in einem exklusiven Restaurant, mit Blumen auf dem Tisch, Kerzen und weißem Leinen.

Grace füllte die Suppe in einen Topf, fügte etwas Milch hinzu, da sie trotz des Verfallsdatums noch gut roch, und steckte zwei Brotscheiben in den Toaster. Als das karge Mahl fertig war, trug sie es zum Küchentisch und nahm sich die Post vor. Rechnungen kamen – ungeöffnet – auf einen Haufen. Mit denen würde sie sich später beschäftigen. Den Kontoauszug legte sie beiseite, um ihn nach dem Abendessen durchzugehen. Die übliche Mischung aus Katalogen und Reklamezetteln wanderte geradewegs in den Abfalleimer. Und dort, im Stapel zuunterst, lag ein gefütterter brauner Umschlag.

Grace schob den Suppenteller zur Seite und nahm den Umschlag. Der Absender stammte aus Arlington, Virginia. Die Handschrift kam ihr vage vertraut vor, doch es war so lange her. Über ein Jahr, dachte sie. Oder waren es zwei?

Sie wischte das Messer an einer Papierserviette ab, schlitzte den Umschlag auf und zog den Inhalt hervor. Ein kleines, gebundenes Buch, abgegriffen und verblichen, der Buchrücken gebrochen, die Ecken geknickt. Auf der Vorderseite, in grünes Leder gestanzt, das kaum sichtbare Bild einer Parkszene – eine Bank, ein Brunnen, ein Laternenpfahl. Das Wandertagebuch war wieder bei ihr angelangt.

***

Grace löffelte ihre lauwarme Suppe aus; dann saß sie da, das Tagebuch in den Händen, während draußen vor dem Küchenfenster die Dunkelheit einbrach. Sie blickte in die Scheibe, und ihr Spiegelbild starrte zurück. Eine gewöhnlich aussehende Frau mittleren Alters mit grau meliertem, schlecht geschnittenem Haar, von deren Augen- und Mundwinkeln Falten der Erschöpfung ausgingen. Wer war diese Frau? Nicht die Person, die sie ihrer Vorstellung nach hätte werden sollen. Bestimmt nicht das Mädchen, das sie einst gewesen war – sich in allem so sicher, so voller Hoffnung und Träume.

»Versprecht, dass wir den Kontakt nicht abreißen lassen«, hörte sie Tess Rileys Stimme in ihrer Erinnerung widerhallen. Und ihre eigene mädchenhafte Antwort, voller Gefühl und Entschlossenheit: »Und versprecht, dass wir immer ehrlich zueinander sind, egal was passiert.«

So viel zu den guten Absichten.

Bittere Tränen brannten ihr in den Augen, und sie schob das Buch beiseite. Sie wollte nicht lesen, was darin stand, wollte nicht die Erinnerungen daran, wie das Leben hätte sein können. Wollte das Gefühl der Wärme und Zugehörigkeit nicht wiederaufleben lassen, diese Empfindungen, die sie nie wieder haben würde.

Doch die Erinnerungen waren hartnäckig. Selbst ohne die Worte zu lesen oder den Blick auf die vertraute Handschrift zu richten, die die Seiten füllte, rief das Tagebuch sie zurück. Zurück zu der Person, die sie vor dreißig Jahre gewesen war. Zurück zu den Freundinnen, denen sie Treue versprochen hatte.

Und so nahm Grace Benedict, während sich die Nacht über die Berge senkte und die Lampe über dem Küchentisch eine gelbe Lichtlache auf die Seiten ergoss, das Tagebuch in die Hand und ließ sich erinnern.

Kapitel 2
Die Frage des Pilatus

Herbstsemester
Erstsemester

»Was ist Wahrheit?«, intonierte Professorin Alberta Wall mit eindringlicher, ernster Stimme. »Das ist die Frage, die sich uns stellt, eine Frage, an der Philosophen und Theologen seit Jahrtausenden herumrätseln.«

Mit gerunzelter Stirn blickte sie sich im Seminarraum um, und ihre Augen blinzelten hinter einer runden Nickelbrille hervor. »So.« Sie schob die Brille mit einem knochigen Finger wieder die Nase hoch. »Sie werden diese Frage beantworten – oder es zumindest versuchen. Aber keine Bange, Sie werden auf Ihrer verzweifelten Suche nach stichhaltigen Gedanken nicht allein sein. Wir machen das Ganze in Teamarbeit.«

Grace blickte sich verstohlen im Raum um. Teamarbeit. Toll. Keines der Mädchen aus ihrem Studentenwohnheim und auch sonst keiner, mit dem sie sich abgab, befand sich in Dr. Walls Einführungskurs Philosophie. Grace kannte ein paar der Studenten vom Namen her und hatte mit ihnen über die exzentrischen Angewohnheiten der Professorin gelacht und gescherzt – wie, die Tafel mit der Handfläche zu löschen und sich dann an der Nase zu reiben. Aber wen würde sich Grace für eine Gruppenarbeit auswählen? Eigentlich kannte sie für eine solche Entscheidung niemanden von ihnen gut genug.

Im Grunde hatte Grace ja überhaupt nicht auf die University of North Carolina in Asheville gehen wollen. Sie kam aus einer Kleinstadt, und ein kleiner Campus hätte ihr mehr behagt. Sie wäre vollauf zufrieden damit gewesen, zu Hause zu wohnen und zum örtlichen College zu pendeln. Doch ihre Mutter hatte darauf beharrt.

»Die Collegezeit ist die Erfahrung deines Lebens«, hatte Mama zum hundertsten Mal wiederholt. »Die Universität wird dir gut tun. Das wird eine wunderbare Zeit für dich, glaub mir. Zu studieren, zu lernen, mit anderen Mädchen deines Alters in einem Studentenwohnheim zu wohnen. Ein Collegecampus ist … ich weiß nicht. Faszinierend!«

Wenn Mama davon sprach, war ihr Ton wehmütig, euphorisch. Grace hörte aus ihrer Stimme das Echo einer nostalgischen Sehnsucht, den Widerhall längst ausgeträumter Träume und unerfüllter Wünsche. Und Grace fragte sich, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, ob ihrer Mutter der Sinn wohl nach Höherem gestanden hatte, als verheiratet auf dem Land zu wohnen und ein Kind großzuziehen.

Aber sie hatte nicht nachgefragt.

Grace hatte ihrer Mutter nie besonders nahe gestanden. Praktisch von Geburt an war sie ein Papakind gewesen. Mama wirkte immer unnahbar und distanziert, eine Insel, in der Ferne kaum sichtbar. Daddy dagegen war der Boden, auf dem sie schritt, die Sonne, die sie wärmte. Er hatte ein bezauberndes Lächeln, ein freundliches und kontaktfreudiges Wesen, und mit seiner Schlagfertigkeit brachte er alle zum Lachen. Er hatte ein rundes, jungenhaftes Gesicht, schütter werdendes sandfarbenes Haar und ein Kinngrübchen, und wenn Grace versuchte, ihn unvoreingenommen zu betrachten, dann erinnerte er sie an einen jungen Golden Retriever. Doch selbst da war er total unwiderstehlich. Hinreißend, clownhaft, ein bisschen unbeholfen und absolut liebenswert.

Seltsamerweise schien nur ihre Mutter immun gegen den Charme ihres Vaters zu sein. Wo Daddy locker, ungezwungen und unkompliziert war, da gab Mama sich zugeknöpft und kühl, als befürchte sie, die kleinste Leichtfertigkeit würde ihr sicheres Ende bedeuten. Daddy zog sich seine Energie aus anderen, wie eine direkte Transfusion, während Mama sich in ihre Bücher zurückzog und die Gesellschaft von Daddys begeisterten Freunden mit grimmiger Resignation ertrug.

Wann immer sich Grace als Kind ihren zukünftigen Mann vorgestellt hatte, so hatte er Daddy geglichen. Die Reserviertheit ihrer Mutter konnte sie beim besten Willen nicht verstehen, und wenn Mama von dem »großen Abenteuer« sprach, aufs College zu gehen, dann hatte Grace den vagen Verdacht, ihre Mama würde am liebsten in die akademische Welt flüchten und sie nie wieder verlassen.

Vielleicht hätte Mama allein das Abenteuer des akademischen Umfeldes ja schon zufrieden gestellt. Doch Grace reichte es nicht. Sie mochte ihren Unterricht, zumindest größtenteils, mochte die Mädchen aus ihrem Wohnheim. Sie blieben lange auf, unterhielten sich, lachten und taten so, als würden sie lernen, aber noch gab es niemanden, mit dem Grace sich richtig angefreundet hatte. Das würde wohl noch seine Zeit brauchen.

Das Hauptproblem war, dass Grace' Freundinnen in der Highschool überwiegend Mädchen waren, mit denen sie seit Kindergartenzeiten zusammen aufgewachsen war. Sie hatte nicht das Gefühl, sie müsse sich ihnen beweisen, um akzeptiert zu werden. Sie hatte gewusst, wo sie hineinpasste. Nun, im College, musste sie ganz von vorn anfangen, und das war nicht so leicht, wie Mama sie glauben gemacht hatte.

Grace zwang sich gedanklich zurück in die Gegenwart. Die Professorin sprach wieder.

»Na gut«, sagte sie. »Wie viele von Ihnen haben je Aristoteles gelesen? Platon? Kierkegaard? Sartre?«

Niemand rührte sich. Die Professorin räusperte sich. »Wie ich vermutet habe. Okay, schrauben wir das Ganze mal ein wenig runter. Wie viele von Ihnen haben je die Bibel gelesen?«

Fast alle hoben die Hand, aber die meisten Studenten blickten verlegen und befangen drein, als hätten sie Angst, die Professorin könne sie darum bitten, auf der Stelle eine Predigt zu halten.

»Tja, nun. Eine faszinierende Sammlung von Mythen.« Dr. Wall zuckte mit einer Augenbraue.

Grace riss den Kopf hoch. Sonderlich gläubig war sie zwar nicht, aber sie war im glaubensstarken Süden geboren und aufgewachsen, und sie hatte noch nie – nie – gehört, dass jemand auf das Buch der Bücher als eine »Sammlung von Mythen« hinwies. Vor Gericht schwor man auf die Bibel, schwor auf sie auf der Straße, zitierte sie im Wahlkampf, schrieb Hochzeitsdaten und Namen der Kinder vorn hinein. Manche staubten sie sogar ab und nahmen sie sonntags mit in die Kirche. Nur selten hielt sich jemand an ihre Lehren, doch wenn jemand ihre Autorität in Frage stellte, so behielt er seine Ketzereien für sich.

Und niemand im Süden bezeichnete sie als »Mythos«.

Dr. Alberta Wall stammte ganz eindeutig nicht aus dem Süden.

Wenn sonst jemand ihren Fauxpas bemerkte, so äußerte doch niemand etwas dazu, und sie fuhr fort.

»Vielleicht wird Ihnen diese Geschichte bedeutsamer vorkommen als Aristoteles oder Platon.« Sie nahm ein abgegriffenes schwarzes Buch vom Tisch und blätterte darin. »Sagt jemandem von Ihnen der Name Pontius Pilatus etwas?«

Ein paar Hände schnellten in die Höhe, und ein pickliger Junge aus der zweiten Reihe antwortete. »Er war der, äh, Kommandant oder Richter, oder so was – der, der Jesus verurteilt hat.« Der Junge zog den Kopf ein. »Glaube ich.«

»Richtig. Es heißt, als Jesus vor Gericht stand, habe sein Richter Pontius Pilatus eine recht bedeutsame Frage gestellt. Pilatus fragte ihn: ›Was ist Wahrheit?‹«

Sie klappte das Buch zu und knallte es auf den Tisch. Alle rissen den Kopf hoch, und hinten lachte jemand nervös auf. »Was ist Wahrheit?«, wiederholte die Professorin, verengte die Augen und blickte in die Runde. »Pilatus stellte die Frage, aber Jesus gab keine Antwort. Und noch immer hallt die Frage aus Jahrhunderten philosophischer Debatten wider.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern und betonte jedes Wort einzeln: »Was – ist – Wahrheit?«

Sie hielt eine getippte Liste hoch, ging zur Wand und befestigte sie dann mit Reißnägeln am schwarzen Brett neben der Tür. »Das ist Ihre Aufgabe bis nächsten Dienstag.« Sie hatte ihnen noch immer den Rücken zugekehrt. »Ich habe Sie in Vierergruppen eingeteilt – und nein, Mr Jacobs, Sie kommen nicht mit Miss Summers in eine Gruppe.«

Alle kicherten. Die Nachricht über die angehende Romanze zwischen Cal Jacobs und Evelyn Summers hatte auf dem Campus rasch die Runde gemacht. Grace hatte sogar gesehen, wie sie in der Hinterreihe miteinander rummachten, als Dr. Wall sich umwandte und etwas an die Tafel schrieb. Offensichtlich hatte Dr. Wall das auch mitbekommen – oder sie hatte einen ›Maulwurf‹ in der Klasse.

»Ehrlich gesagt, habe ich Sie absichtlich so gruppiert, dass Sie sich höchstwahrscheinlich nicht kennen«, fuhr sie fort und drehte sich wieder den Studenten zu. »Philosophie entsteht durch Meinungsverschiedenheit, nicht durch Übereinstimmung. In den nächsten Tagen werden Sie mit anderen zusammen in Gruppen eine Antwort auf Pilatus' Frage erarbeiten. Ab kommenden Dienstag wird hier dann jede Gruppe ein zehnminütiges Referat darüber halten.«

Jemand aus der hinteren Ecke des Klassenzimmers winkte mit der Hand. »Sie wollen, dass wir eine Frage beantworten, die Jesus nicht beantworten konnte?«

»Genau.« Dr. Wall lächelte spitzbübisch. »So schwer sollte es nicht sein – schließlich sind Sie zu viert, und er war allein.« In der ersten Reihe blickte ein dümmlich wirkendes Mädchen mit gerunzelter Stirn in ihr Notizbuch. »Nächsten Dienstag sollte doch aber die Semesterzwischenprüfung stattfinden.«

Professor Wall verschränkte die Arme, und auf ihrem Gesicht erschien wieder dasselbe listige Lächeln. »Das ist Ihre Zwischenprüfung! Und macht fünfundzwanzig Prozent Ihrer Note aus. Klemmen Sie sich also wirklich dahinter!« Inmitten ungläubigen Gemurmels packte sie ihre Aktentasche, stopfte die Bibel hinein und marschierte zur Tür hinaus.

***

Grace saß an einem rechteckigen Tisch im Konferenzraum der Bibliothek, die Hände im Schoß und den Blick auf die verkratzte Oberfläche des Holztisches geheftet. Jemand hatte Pete liebt Ginger in den Lack geritzt.

Um den Tisch herum saßen drei weitere Studentinnen von Dr. Wall. Ihrem Aussehen nach zu urteilen waren alle eindeutige Gingers – Mädchen, die zu Vandalismus als Liebeserklärung inspirieren konnten.

»Okay«, sagte eine von ihnen – eine gertenschlanke Bilderbuch-Blondine. »Dann legen wir besser mal los. Um vier Uhr habe ich Cheerleader-Training.«

Grace hatte immer den heimlichen Verdacht gehegt, dass naturblondes Haar Hirnzellen gestattete, sich durch Osmose zu verflüchtigen. Die Theorie erklärte vieles. Nun hatte sie nachprüfbares Beweismaterial.

»Ich finde, wir sollten einander erst mal kennen lernen«, meldete sich ein zweites Mädchen zu Wort. »Ich heiße Tess Riley. Ich habe vor, als Hauptfach Literatur und als Nebenfach Kreatives Schreiben zu studieren.«

Tess war attraktiv, bemerkte Grace, allerdings nicht auf diese blonde Sexbombenart. Sie hatte volles, rotbraunes Haar und braune Augen, und sie trug Jeans und ein blaues UNCA-Sweatshirt, das so neu war, dass es entlang der Ärmel immer noch Falten zeigte.

»Liz Chandler«, stellte die Dritte sich vor. »Ich möchte Politologie und Psychologie studieren.«

Liz, angetan mit einer schwarzen Hose und einem schwarzen Rollkragenpulli, hatte kurzes, dunkles Haar und hinter einer Drahtbrille unerhört blaue Augen. Sie erinnerte Grace an einen Beatnik aus den fünfziger Jahren, der eigentlich mit Jack Kerouac draußen auf dem Pacific Coast Highway mit dem Motorrad hätte unterwegs sein sollen.

Alle Augen richteten sich auf Grace, und sie stellte sich vor: »Ich heiße Grace Benedict. Hab mich beim Hauptfach noch nicht entschieden …« Sie warf Tess einen Blick zu. »Aber zur Schriftstellerin eigne ich mich nicht, und als Lehrerin sehe ich mich auch nicht so ganz. Vermutlich werde ich bei Bibliothekswissenschaften landen.«

Die Blondine verdrehte die Augen. »Okay, wenn wir genug von diesem Teepartygeplauder hatten, können wir das hier dann hinter uns bringen?«

Tess warf Grace einen Blick zu, grinste und zwinkerte. Wärme durchströmte Grace, und sie erwiderte das Lächeln. »Findest du nicht, du solltest dich selbst auch vorstellen?«, fragte Tess die Blondine.

Das Mädchen schien es zunächst gar nicht fassen zu können, dass es auf dem Campus auch nur eine Menschenseele geben sollte, die sie nicht kannte. Dann bröckelte die Fassade, und sie lachte selbstironisch auf. »Sorry, wollte nicht als Zicke rüberkommen. Ich heiße Amanda Love. Meine Freunde nennen mich Lovey.«

Liz kicherte. »Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein!«

Halb erwartete Grace, dass Lovey beleidigt sein würde, doch stattdessen giggelte sie. »Leider doch. Schrecklich, oder?«

Tess schüttelte den Kopf. »Das kann ich toppen. Mein wirklicher Name ist Contessa.«

»Nein!«, prustete Liz los.

»Ja!«

»Was hat sich deine Mutter bloß dabei gedacht

»Keine Ahnung«, erwiderte Tess. »Vielleicht, dass ich, wenn ich groß werde, mal wie Lovey aussehe und die nächste Prinzessin Gracia werde.« Sie gluckste. »Ich schätze, wir haben alle mit unseren kleinen Enttäuschungen zu leben.«

Alle lachten. Brüllten, bis ihnen der Bauch wehtat und die Bibliothekarin in der Tür erschien und sie im herablassenden Flüsterton bat, doch bitte leiser zu sein.

Tess wischte sich die Augen. »Grace, du musst uns schwören, nicht diese Art von Bibliothekarin zu werden!« Grace setzte ihre überheblichste Miene auf und lächelte sauertöpfisch. »Das ist genetisch, fürchte ich«, äffte sie perfekt die hauchige Stimme der Bibliothekarin nach. »Bei der Geburt diagnostiziert. Wir haben es alle, und wenn nicht, bekommen wir in den höheren Fachsemestern Injektionen damit.«

Die Mädchen brachen in Gelächter aus, in das sie sofort mit einfiel. Und in ihrem Gelächter lag das Versprechen, dass sie etwas von ihrem Daddy in sich hatte und dass sich das College doch als großes Abenteuer erweisen könnte.

***

Wenn schon sonst nichts, so brachte die einwöchige Diskussion um Pilatus' Frage doch zumindest die Meinungsvielfalt in ihrer kleinen Gruppe zum Vorschein. Allmählich betrachtete Grace sie als die vier Himmelsrichtungen auf dem Kompass.

Tess war der Norden, den Kopf in der Stratosphäre, oben, in der dünnen Luft der Kreativität und Metapher. »Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit Schönheit«, zitierte sie Keats, »so viel wisst ihr auf Erden, und dies Wissen reicht.«

Lovey war der Süden, realistisch und praktisch, ihre Wurzeln im roten Georgia-Ton. Es hatte sich herausgestellt, dass sie längst nicht der Hohlkopf war, für den Grace sie gehalten hatte. »Was auf Gottes grüner Erde soll das bitte heißen?«, meinte sie. »Wahrheit ist, was wirklich ist, was … nun, echt ist. Wahrheit ist, was man sehen, fühlen und kennen kann. Sie kann nicht definiert werden.«

»Aber wir müssen sie definieren«, warf Liz, die Dissidentin, ein. Grace betrachtete sie als den Westen – die Pazifistin, die Radikale, so links, wie es nur ging. »Die Wahrheit steckt in uns«, behauptete Liz, »und nicht außerhalb. Wahrheit ist, was wir mit unserem Leben machen, um auf die Welt positiv einzuwirken. Sie ist für jeden anders. So was wie die absolute Wahrheit gibt es nicht.«

Und Grace selbst – auf dem Kompass im Osten, auf der politischen Skala rechts – pflichtete ihnen bei: »Was war das noch mal für ein Zitat, von wegen, die Wahrheit zu kennen, und dann macht die Wahrheit uns frei?«

Liz murmelte etwas vor sich hin, und Grace meinte, die Worte abergläubisches Geschwätz