Einleitung

Aus dem Schweigen entsteht alles, was lebt und dauert.

Besitzt man diese schweigende Stille in sich,

kann man dem äußeren Lärm mit Gleichmut begegnen.

Yehudi Menuhin (1916–1999)

»Reden ist Silber, Schweigen ist Gold« – eine überlieferte Lebensweisheit seit Generationen. Und einmal abgesehen davon, ob sie dem Vergleich mit der Entwicklung der Edelmetallbörsen standhält – ist diese geronnene Erfahrung unserer Vorfahren tatsächlich belastbar? Muss es nicht umgekehrt heißen: »Reden ist Gold, Schweigen aber nur Silber«? Wenn es etwa gilt, Zeugnis abzulegen, für eine Überzeugung einzutreten oder ein Handeln zu rechtfertigen. Mit Schweigen ist dies unmöglich. Da muss geredet werden, laut oder leise, eben der Gelegenheit angemessen. Sachlich und unterkühlt oder mit Emotionen, je nachdem. Wie sollte das Schweigen weiterhelfen, wenn ich den Partner von einer Entscheidung überzeugen will? Wenn die Kollegen einem bestimmten Weg folgen sollen?

Und dann bedeutet diese Redewendung auch noch: Gold und Silber sollen Gegensätze ausdrücken. Wie Schwarz und Weiß. Wie Hell und Dunkel. Wie Heiß und Kalt. Wie Feuer und Wasser. Aber ist Schweigen wirklich so einfach zu beschreiben? Gibt es nicht Schattierungen? Vermischungen? Einem Anlass entsprechend, einer Person angemessen, einem Raum angepasst?

Begeben wir uns also auf eine Spurensuche. Machen wir uns auf den Weg zu einer Erkundungsreise.

Sammeln wir Indizien, Beispiele aus dem Alltag, der Wissenschaft, der Literatur, aus vielen Bereichen. Durchaus nicht systematisch, sondern zuweilen willkürlich und zufällig. Ergebnisse wochenlanger Zeitungs- und Ferienlektüre, von Radio- und Fernsehkonsum. Nicht als fertiges Konzept, sondern als Anregung, selbst weiter auf Spurensuche zu gehen nach den »Farben des Schweigens«.

Wir werden schnell feststellen, dass das Schweigen zu unserem Alltag gehört, fast so wie Essen und Trinken, wie Ein- und Ausatmen, aber eben auch zuweilen etwas Besonderes ist.

Eine Form der Kommunikation

Es ist inzwischen eine Binsenweisheit, dass auch Schweigen eine Form menschlicher Kommunikation ist. Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawik hat es mit Kollegen auf die eingängige Formel gebracht: »Man kann nicht nicht kommunizieren.« Deshalb ist Schweigen eine ganz besondere Form der Kommunikation, eine, die Akzente setzen kann. So wie die Pause in einem Musikstück eine Spannung erzeugt, so kann Schweigen Achtung und Missachtung ausdrücken, Respekt oder Abscheu bedeuten.

Im Onlinelexikon Wikipedia finden wir diese Definition: »Schweigen ist eine Form der nonverbalen Kommunikation, bei der nicht gesprochen wird und bei der auch keine Laute erzeugt werden.« Im Allgemeinen könnten trotz des Schweigens bestimmte Informationen mitgeteilt und Bedeutungen gezeigt werden. Eine besondere Verbreitung habe das Schweigen in den Religionen und Rechtssystemen sowie in der Spiritualität. Schweigen als ein bewusster kommunikativer Akt setze die Fähigkeit zum Sprechen voraus. Und weil Schweigen nicht so eindeutig in seiner Aussage definiert werden könne, sei es deshalb oft vieldeutig.

Eine Kulturtechnik

»Man braucht zwei Jahre, um sprechen zu können, und fünfzig, um schweigen zu lernen.« Man mag ja über Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway denken, was man will – hier hat er unbestritten Recht. Sprechen lernt man als Kind, der eine schnell, die andere langsam. Wenn körperliche Gebrechen wie Taubheit oder Stummsein nicht dagegenstehen, lernt jeder Mensch sprechen.

Sprechen ist eine Kulturtechnik wie Lesen und Schreiben. Am Ende vielleicht auch das Schweigen? Als Kulturtechniken gelten – zunächst sehr archaisch verstanden – Feuer machen, die Nutzung der Landwirtschaft, die Gestaltung von Kunst. Auch so praktische Fähigkeiten wie Kalender zu entwickeln und zu verwenden oder mithilfe von Landkarten mobil zu sein, werden dieser Kategorie zugerechnet. Nach Wikipedia sind zur Ausübung einer Kulturtechnik eine oder mehrere Vo­raussetzungen nötig: »Das Beherrschen von Lesen, Schreiben und Rechnen, die Fähigkeit zur bildlichen Darstellung, analytische Fähigkeiten, die Anwendung von kulturhistorischem Wissen oder die Vernetzung verschiedener Methoden.«

Können wir das Schweigen also auch dazuzählen? Wenn wir Schweigen zu den Möglichkeiten sozialer Interaktion zählen, dann durchaus. Aus mehreren Gründen: Der wichtigste ist wohl der, dass Schweigen in der Regel eine bewusste Entscheidung ist, sich beispielsweise einer Kommunikation mit anderen zu entziehen. Einmal abgesehen von einem Schock, der einen Menschen stumm werden lässt, ist Schweigen deshalb immer gewollt. Spätere Beispiele werden das zeigen. Ein weiterer Grund: Wie wir bereits gesehen haben, ist Schweigen meistens  – besser: geradezu ausschließlich – im Kontext zu verstehen. Und Kontext heißt hier: sozialer Kontext. Natürlich kann jeder für sich allein schweigen und daraus individuellen Gewinn ziehen. Aber Schweigen in Gemeinschaft – ob in der Zweierbeziehung oder in der Gruppe – ist immer auch Teil von Kommunikation. Und wer im richtigen Augenblick zu schweigen vermag – möglicherweise durch lang anhaltendes Training eingeübt –, der kann ein Gespräch, eine Diskussion, eine Auseinandersetzung entscheidend akzentuieren und prägen. Und sei es, dass er sich auf diese Weise aus der Gemeinsamkeit verabschiedet, aus welchen Motiven auch immer.

Aber kann man Schweigen lernen? Vielleicht so wie eine Fremdsprache? Es gibt Hinweise, dass einige Momente des Schweigens am Morgen vor dem Aufstehen hilfreich sein können, um mit frischer Energie in den Tag zu starten. Ohne Rituale wie Duschen, Haare föhnen und Zähne putzen geht es nicht. In diese Reihenfolge ließe sich auch das Schweigen einfügen. Wer es denn mag. Andere ziehen vielleicht den Abend vor, um den Tag nochmals Revue passieren zu lassen und so von seinen schönen und weniger schönen Augenblicken Abschied zu nehmen. Ein jeder wird es so machen, wie es ihm guttut.

Aber das ist die einfachere Übung, weil ich alleine bin mit mir und der Welt. Schwieriger ist es, seine Emotionen im Zaum zu halten, wenn eigentlich eine lautstarke Erwiderung möglich wäre, wenn eine Entgegnung zusätzliche Dynamik entwickelt und ein klärendes Gespräch verhindert, wenn Schweigen im anderen Fall Zeichen von Charakterstärke ist.

Und wo wir gerade beim Üben des Schweigens sind – die meisten Menschen haben eine ganz besondere Erfahrung hinter sich: Als Fahrzeuglenker hatten sie einen Beifahrer (oder Beifahrerin) neben sich, der ständig »Vorsicht!«, »Nicht so schnell!« oder »Den Blinker nicht vergessen!« ausrief. Das stört, mindert die Konzentration und ist schlicht unhöflich. Das Schweigen als Beifahrer ist also eine harte Prüfung. Denn dann gilt es das, was ich aus ähnlicher Perspektive wie der Fahrer sehe, nicht zu benennen, sondern dessen Fahrweise zu vertrauen. Wer es ausprobiert, wird schnell merken, wie schwer solches Verhalten ist. Eine Alltagsübung, die allerdings dann eine Ausnahme erfahren muss, wenn tatsächlich Gefahr droht, die der Fahrer im Augenblick nicht erkennt. In diesem Fall ist es auch Selbstschutz und dann wäre Schweigen fahrlässig. Mit anderen Worten: Im Alltag das Schweigen einzuüben, macht Sinn, weil man es dann praktizieren kann, wenn es nötig und angebracht ist.

Ordnung muss sein

Wer schweigt,

scheint zuzustimmen.

Lateinisches Sprichwort

Juristische Regeln

Kaum eine wissenschaftliche Disziplin hat sich so intensiv mit dem Schweigen auseinandergesetzt wie die Rechtswissenschaft. Die Juristen haben das Schweigen sogar in verbindliche Regeln gegossen. Je nachdem können jeweils bestimmte Rechtsfolgen an das Schweigen beteiligter Personen in einem Verfahren geknüpft sein. Für den juristischen Laien ist das nicht immer einfach nachzuvollziehen. Aber es geht um Verträge, um Geschäfte, um das Erben oder die vermeintliche Ablehnung von Vorschlägen. Immer wieder spielt das Schweigen eine Rolle, hat Folgen, wird wichtig, wichtiger zuweilen als das gesprochene oder geschriebene Wort. Es kommt – wo und wie auch immer – auch hier auf den Zusammenhang an.

Schweigen im Prozess oder schon in den Ermittlungen beispielsweise bedeutet in Deutschland weder Ja noch Nein zu Vorwürfen oder Indizienketten, weder Zustimmung noch Ablehnung, sondern: gar nichts. Es ist vor allem der Gegensatz zu einer ausdrücklichen Willenserklärung. Das deutsche Recht in den unterschiedlichsten Formen geht grundsätzlich davon aus, dass schlichtes Schweigen keinen besonderen Wert besitzt. Es gilt daher als so genanntes »rechtliches Nullum« und ist deshalb ohne jegliche rechtliche Bedeutung. Durch Schweigen wird weder ein Wille artikuliert noch eine Erklärung abgegeben. Der auf Papst Bonifatius VIII. (1235–1303) zurückgehende Rechtsgrundsatz: »Wer schweigt, wo er (wider)sprechen sollte und konnte, dem wird Zustimmung unterstellt«, gilt im deutschen Recht nur ausnahmsweise in einigen Fällen des »normierten Schweigens«, »beredten Schweigens« und bei Handelsgeschäften unter Kaufleuten.

Ein Beispiel: Bei einem Unfall auf der Bundesstraße 260 in Hessen kam es wegen eines riskanten Überholmanövers zu einem Unfall, bei dem fünf Menschen starben. »Bald kamen Hinweise auf Cris G., 42, der für seine ›forsche Fahrweise‹ bekannt sei. Die Unfallstelle liege auf dem Weg von seiner Wohnung zu seinem Arbeitsplatz. Aber Cris G. schwieg. Er schweigt auch jetzt im Prozess vor dem Amtsgericht Wiesbaden. Kein Wort, das über die Feststellung seiner Personalien hinausgeht. Staatsanwalt Ulrich Schneider steht bei dem Prozess vor einer schwierigen Aufgabe« (SZ 10.9.2015). Es gibt nur Indizien und Zeugenaussagen. Das Schweigen darf der Richter Cris G. nicht belastend anrechnen.

Schweigen ist zudem im Arbeits-, im Verwaltungs- oder im Strafrecht geregelt. Auch hier sind die Einzelfälle jeweils gesondert zu bewerten. So beispielsweise das Zeugnisverweigerungsrecht, bei dem bestimmte Zeugen berechtigt sind, vor Gericht auf Befragungen hin zu schweigen. Entweder steht der Zeuge zum Beschuldigten in einer persönlichen Beziehung, ist etwa blutsverwandt, oder er steht in einem berufsbedingten Rechtsverhältnis als Anwalt, Steuerberater oder Arzt. Gehört ein Zeuge keiner der beiden Gruppen an, stehen ihm Zeugnisverweigerungsrechte nur zum Selbstschutz zu, wenn er sich etwa durch seine Aussage einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen würde. Der Zeuge ist ferner nicht verpflichtet, zu einer polizeilichen Vernehmung zu erscheinen. Das ist anders bei der Vernehmung durch den Staatsanwalt. Hier muss er erscheinen, kann jedoch von seinem Schweigerecht Gebrauch machen. Auch hier gilt, dass Zeugen entweder schweigen oder alle Fragen beantworten müssen. Eine Auswahl, wozu er spricht und wozu er schweigt, ist nicht möglich.

Zur Verschwiegenheit verpflichtet