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Überliste deinen Gegner

Ich glaub, es hackt!

George Milare

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2019 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Covergestaltung + Illustrationen: © George Milare

ISBN: 978-3-86196-895-5 - Taschenbuch farbig illustriert

ISBN: 978-3-86196-903-7 - Taschenbuch schwarz-weiß illustriert

ISBN: 978-3-86196-961-7 - E-Book

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

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Für meine Frau Juliette – das Rückgrat meiner Existenz.

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Inhalt

Prolog

Krieg zwischen den Köpfen

Bereit für die Schlacht

Der Kampf geht weiter

Der ultimative Sieger

Die Fehler anerkennen

Überliste deinen Gegner

Ein Schachmatt nach dem anderen

Habe ich Talent?

Bist du ein Diktator?

Der junge Schachmagier

Meine unabsichtlichen Beruhigungsmittel

Tyron gegen einen Goliath

Genieße einfach die Fahrt

Ehrlichkeit beginnt zu Hause

Belüge dich nicht selbst

Die Kraft des mächtigen Egos

Auf Rache und mehr Rache sinnen

In Kontakt mit meinen Emotionen

Der unerschrockene Glaube

Der Geist ist bereit, der Körper aber nicht

Zurück ans Zeichenbrett

Zwischen Wunsch und Traum

Du bist, was du isst

Das richtige Zeug für’s Gehirn

Wie alles begann

Epilog

*

Prolog

Es begann alles mit einer einfachen Frage: „Was soll ich tun, um ein Gewinner zu werden?“

Als ich diese Frage stellte, hatte ich keine Ahnung, wie sehr die Antwort mein Leben verändern würde. Ich wusste nur, dass ich ein Kind war mit einem unerschütterlichen Verlangen, zu gewinnen, und einer erstaunlichen Leidenschaft für ein Spiel, von dem ich nicht wirklich genug kriegen konnte.

„Du musst Schach erst richtig kennen und verstehen“, entgegnete mein Vater, der später mein Versuch-und-Irrtum-Trainer wurde. Er nahm meine Leidenschaft zur Kenntnis und tat etwas, von dem weder er noch ich geglaubt hätten, dass es mein Leben für immer verändern würde.

Statt einzugestehen, dass er keine genaue Antwort auf meine Frage hatte, krempelte er die Ärmel hoch, um mir zu helfen. Er lehrte mich wertvolle Lektionen über das Leben im Allgemeinen und angemessene Verhaltensweisen, was sich positiv auf mein Schachleben auswirkte. Über diese Erfahrungen und die daraus gelernten Lektionen berichte ich hier in Form unserer Reise, meiner und der meines Vaters. Ich sage unserer, weil nicht nur mein Vater seine Lebenszeit geopfert hat, um mir auf der Suche nach dem Wissen zu helfen, sondern weil wir beide Lektionen, die viel größer als wir selbst sind, gelernt haben.

Tatsache ist, dass ich jemand war, den man einen Lesemuffel nennen würde. Es war kristallklar, dass ich nie tagelang mit einem großen Buch in der Hand dasitzen würde, um Schach zu lernen. Mein Vater erkannte das. Er drängte mich nie, hier über meine Grenzen hinauszugehen, sondern meinen Träumen und Zielen näher zu kommen, so weit es ihm aus seiner Lebenserfahrung möglich war.

Zusammen beschäftigten wir uns mit dem Schachspiel. Als wir uns jedoch weiter in die Schachtheorie vertieften, fing es an, extrem schwer zu werden. Das Gefühl der Frustration, keine Fortschritte zu machen, überwältigte mich und ließ mich erstaunt zurück. Aber wir wischten uns den Schweiß von der Stirn und kämpften und kämpften! Wir suchten begierig nach Antworten und Erklärungen: Begannen Parallelen zu anderen Spielen und Schlussfolgerungen aus unserer Analyse zu ziehen. Nach Lust und Laune durchforsteten wir das Internet und verglichen, was andere zu berichten hatten – selten haben wir die für uns entsprechende Lösung gefunden, aber wir konnten trotzdem die vorhandenen Informationen analysieren und diese auf meinen eigenen Weg übertragen.

Dennoch stellte es sich heraus, dass der Weg zu meinem Ziel eine Dauerbaustelle war: Wir steckten harte Arbeit hinein, feierten unsere Erfolge, spürten Verzweiflung und versuchten, den Druck auf meine Psyche und mein Ego niedrig zu halten. An einem Punkt vergoss ich Tränen, leidend, ein Spiel zu verlieren; am nächsten Punkt jubelte ich, HAPPY, ein Spiel zu gewinnen. Aber selbst, nachdem wir in verschiedenen Bereichen bereits erfolgreich waren, war klar, dass unsere Reise immer noch viele Wendungen haben würde.

Jedoch kämpften wir weiter! Und bei der harten Arbeit, den vielen Versuchen und häufigen Rückschlägen lernte ich Lektionen, um Unmögliches möglich zu machen. Die wichtigste Erkenntnis dabei war, dass die Ursache meines Versagens häufig die Folge menschlichen Versagens war – etwas, das jeder kennt.

Dennoch gab es für mich kein Halten mehr. Selbstzweifel oder vor Selbstmitleid zerfließen schon gar nicht. Zug um Zug gingen wir weiter. Immer der Reihe nach. Mit absoluter Geduld, Kampfgeist und grenzenlosem Ehrgeiz.

Man lernt aus Fehlern! Dank Learning by doing begann ich, immer mehr Erfahrungen und Selbstvertrauen zu gewinnen, und änderte meine Betrachtungsweise. Ich habe den Vorträgen meines Vaters die volle Aufmerksamkeit geschenkt, folgte seinen Anweisungen und machte mir meine Notizen, bis es Zeit war, auf das nächste Level aufzusteigen.

Bald wurde mir klar, dass diese Lektionen mehr als nur Schachunterricht waren. Es waren Lektionen, die ich auch auf andere Bereiche meines Lebens anwenden konnte.

Dadurch habe ich nicht nur gelernt, fokussiert und konkurrenzfähig zu sein, ich habe ein Vertrauen aufgebaut, das mir Mut und Willenskraft gab, meine Ziele mit einem klaren, zuversichtlichen Bewusstsein zu verfolgen. Und ja, dadurch habe ich Wunder auf dem Schachbrett vollbracht. Hierbei bescheinigten mir erfahrene Spieler und Trainer mein Talent als Schachspieler. Oder wie die Leute zu meinem Vater sagen würden: „Tyron hat ein Gefühl fürs Schachspielen.“

Aber das reichte mir nicht. Ich wollte an den Kern des Ganzen kommen – mit oder ohne Profitrainer, mit oder ohne Talent (was ist das überhaupt?).

Wie werde ich ein erfolgreicher Schachkrieger?

Was musste ich vorweisen können?

*

Krieg zwischen den Köpfen

Was für ein Name!

Dachte ich, als ich das erste Mal den Namen meines Schachidols Jose Raul Capablanca hörte. Er klingt etwa wie der eines Kriegers, oder? Außer seinen Namen zu bewundern, betrachtete ich auch immer ehrfurchtsvoll seinen Spielstil.

Eines der ersten Dinge, die ich über ihn hörte, war, dass sein Vater ein Leutnant war, der in den Kampf ritt. Und als er erst vier Jahre alt war, beobachtete er, wie sein Vater Schach spielte und wie er von der militärischen Symbolik der Schachfiguren gefesselt war.

Als ich viereinhalb war, platzend vor lauter Neugier, beobachtete ich, wie mein Vater mühsam versuchte, meiner Schwester Schach beizubringen. Es war ohne Frage faszinierend und sehr beeindruckend, dass die Dame so stark ist, sogar stärker als der König. Und dann der zauberhafte Springer, der seltsame Sprungkräfte hat, um über andere Figuren hinweg zu hüpfen. Und die armen Bauern, die sich nur zu gerne für ihren König opfern, aber das Potenzial besitzen, sich umzuwandeln. Voll krass!

Dennoch, im Gegensatz zu meinen Schachidolen hatte ich keine wilden Fantasien. Ich dachte weder an Krieg noch an irgendwas Ähnliches, als ich die kleinen schwarzen und weißen Figuren ansah.

So blieb es, bis mein Vater viele Monate später, als er in Hochstimmung für seine allbekannte Schach-Predigt war, mir unmissverständlich sagte, dass Schach ein Schlachtfeld sei: Ein Krieg zwischen zwei Köpfen. „Diese Schachfiguren sind deine Armee, Biggy.“

Apropos, einer meiner vielen Spitznamen war Biggy. Mein Vater rief mich so, nachdem ich wieder zwei Zentimeter gewachsen war.

„Du bist der Oberbefehlshaber, und das Schicksal deines Heeres, deiner ganzen Armee, hängt von dir ab, Kommandeur“, sagte Paps mit ernstem Ton. Falten bildeten sich auf seiner Stirn.

Mein lieber Schwan! Der Gedanke, das Kommando zu übernehmen, begeisterte mich. „Was meinst du mit Schicksal?“, fragte ich mit kindlicher Naivität.

Paps räusperte sich. „Schicksal bedeutet hier, ob deine Armee die Schlacht gewinnt oder nicht.“

Ich zappelte auf meinem Sessel herum, dann bat ich um Klarheit: „Du meinst also, wenn ich gewinne oder verliere?“

„Genau. Und damit du gewinnst, musst du beweisen, dass du die Fähigkeit, Willenskraft und Klugheit hast, deine Armee mit allen theoretischen Kenntnissen, taktischen und strategischen Manövern, die du schon gelernt hast, zu koordinieren.“ Seine Augen durchleuchteten mich gründlich, um zu sehen, ob ich noch verstand, was er meinte.

Doch einige Wörter zogen einfach nur an mir vorbei „Okaaay“, murrte ich und verließ mich auf meine Auffassungsgabe. Zu wissen, wie man diese Art von Krieg gewinnt, war mir so wichtig und ließ mich aufgeregt zurück, sehnsüchtig nach weiteren Infos. Ich begab mich in den Schneidersitz und schenkte Paps meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit.

Paps lächelte mich an. Freute sich, ein interessiertes Publikum zu haben. Mit einem ernsteren Blick wechselte er in den Predigermodus: „Als ein pfiffiger Kommandeur musst du beweisen, dass du die Geduld hast, lange strategische Pläne auszuführen, und den Scharfsinn, die richtigen logischen Züge zur richtigen Zeit durchzuführen.“

Okay, verstanden.

„Du musst beweisen, dass du die Intelligenz besitzt, die feindliche Armee auszumanövrieren ...“

„Stopp! Nicht so schnell, Paps!“, schrie es in mir und ich musste ihn unterbrechen. „Was ist auszumanövrieren?“, fragte ich, obwohl ich hätte wetten können, dass er das schon mal erklärt hatte.

Paps unterdrückte ein Lächeln – entweder amüsiert über meine Neugier oder wegen meiner Vergesslichkeit. „Ausmanövrieren: Im Grunde überliste deine Gegner. Und damit meine ich, wie der Oberbefehlshaber – also derjenige, der für die ganze Armee verantwortlich ist. Du machst Pläne, wie du das feindliche Lager erobern willst.“

„Hmm!“

„Der feindliche Oberbefehlshaber will dich besiegen … Aber wenn du es schaffst, ihn mit deinen Plänen zu schlagen, dann hast du ihn ausmanövriert.“ Er rieb mit der Hand an seinem Schnurrbart.

„Dann ist also die Bedeutung von ausmanövrieren: einfach nur gewinnen?“

„Ja und Nein. Zum Beispiel: Wenn dein Plan ist, die Kontrolle über ein wichtiges Feld zu übernehmen, du dies erfolgreich durchführst und den Vorteil souverän verwertest, dann hast du zwar eine Schlacht gewonnen, aber der Krieg ist noch lange nicht vorbei.“

„Ich verstehe nicht, Paps“, entgegnete ich verständnislos. „Ich gewinne eine Schlacht, aber nicht den Krieg … Wie meinst du das?“

„Welche vier strategischen Vorteile hast du bisher gelernt?“

Es fühlte sich an, als würde er zwischen den Themen springen.

Meinetwegen.

Die Antwort schoss ohne Zögern aus mir heraus: „Positioneller Vorteil, materieller Vorteil, Entwicklungsvorsprung und Raumvorteil.“ Na, das waren große Worte für ein Kind (für mich jedenfalls), aber ich kannte sie schon ganz gut, denn dieselbe Frage war mir schon ein paar Mal gestellt worden und ich gab immer wieder dieselbe Antwort.

„Super!“, rief Paps lachend und stand von der Couch auf, um die Vorhänge vor den durchdringenden Sonnenstrahlen zuzuziehen.

In der Zwischenzeit träumte ich davon, ein Kommandeur zu sein, der seine Gegner sehr raffiniert ausmanövrierte.

„Du weißt, dass du niemals planlos spielen solltest!“, riss mich Paps aus meinem schönen Tagtraum.

„Ja“, entgegnete ich zustimmend.

„Gut. Du musst immer mit einem Plan spielen wie ein …“ Paps gab mir die Gelegenheit, die Erklärung zu beenden, und ich ergriff die Gelegenheit mit beiden Händen.

„… ein Maestro“, antwortete ich mit Leichtigkeit. Zuversichtlich. Zufrieden mit meinem Gedächtnis.

„Und wenn du ohne Plan spielst, spielst du wie ein …?“

„… wie ein ähm … ähm …“ Ich geriet ins Schleudern.

Mist! Das Vokabular war nie mein bester Freund gewesen. Große Worte verwirrten mich – und ich hatte das Gefühl, diese Antwort würde es beweisen.

„Amateur!“, rief Paps aufgeregt.

Ach ja. Und dieser Ausdruck war nicht gerade einer der härtesten. „Ja. Amateur.“ Da stimmte ich ihm zu.

„Ein guter Schachspieler muss ein gutes Gedächtnis haben, um sich an so einfache Wörter zu erinnern. Wenn du dich nicht daran erinnern kannst, wie willst du dich an Triangulation oder Trebuchet erinnern?“, fragte er nachdenklich.

Tra… was? Ich starrte ihn mit großen Augen an.

Innerlich zögerte ich, als er mich ansah. In diesem Moment dachte ich, wie vergesslich er mit Namen war und wie er den Nerv hatte, mich wegen meines Fauxpas herunterzuputzen. Wie oft hatte er die Namen meiner Freunde verwechselt!

Dennoch entschied ich mich, ihn nicht auf seine Schwächen hinzuweisen, und beschloss, mich zu verteidigen. „Ich kann mich nicht an die Wörter erinnern, aber ich weiß, wie ich sie anwenden kann, wenn ich sie auf dem Brett sehe.“

„Du musst dein Gedächtnis trainieren, Biggy“, erklärte er, das ignorierend, was ich gesagt hatte. „Du musst dich immer daran erinnern, indem du dir entweder Notizen aufschreibst oder diese Punkte in den Notizen hervorhebst. Okay?“

„Okay“, erwiderte ich wie ein Papagei und schaute trotzig in seine Augen.

Meine Schwester Yolly riss die Tür auf. „Wir wollten doch zum Spielplatz!“, rief sie ungeduldig.

„Ja, wir sind gleich fertig“, antwortete Paps.

„Das sagst du immer.“ Sie schloss die Tür hinter sich.

Paps nahm sein Glas Wasser, trank einen Schluck und bat mich, meinen Saft zu trinken. „So, wo waren wir?“, fragte er zerstreut und trank noch etwas.

„Ist das lustig“, dachte ich mir. Er hatte den Faden verloren. Amüsiert bemühte ich mich, nicht darauf hinzuweisen, dass das Gedächtnisproblem offensichtlich eine familiäre Angelegenheit war, dann beschloss ich doch, ihn daran zu erinnern: „Wenn ich wie ein ... ähm … ähm …“ Mist! Wie war das Wort noch mal?

Verdammt! Ich fühlte mich unbehaglich. Zügig nahm ich mein Glas Saft an den Mund und tat so, als ob ich trinken würde, und beobachtete heimlich die Reaktion meines Vaters aus den Augenwinkeln. Ich wusste, dass er es buchstäblich hasste, etwas dreimal zu erklären. Und er verabscheute es, wenn er sich wiederholen musste.

„Amateur!“, rief er mit einer entmutigten Stimme und schaute mich mit einer hochgezogenen linken Augenbraue an, als wenn sein Blick fragen würde: „Werden wir es jemals richtig hinkriegen?“

Ich versuchte vergeblich, wie er die Augenbraue hochzuziehen.

„Ich bin dein Vater, Biggy. Ich kenne dich gut. Ich kenne deine Schwächen und deine Stärken. Begriffe und Grammatik gehören nicht zu deinen Stärken.“

Ich schluckte laut. Ich hatte mich in der letzten Zeit immer wieder an meiner Schwester mit neu gelernten Ausdrücken gemessen. Und ich fand, ich war ganz gut darin.

„Niemand kann in allem gut sein“, erklärte Paps weiter.

„Doch!“ , schrie es gleich in mir.

„Aber wenn du eine Schwäche in dir bemerkst, dann nimmst du sie an und stellst du sie wie ein Schachkrieger vor dich und bekämpfst sie.“ Paps hielt inne. Der kurze Moment des Schweigens sollte sicherstellen, dass die Botschaft klar und deutlich empfangen wurde.

Na ja.

Allerdings, die ganze Geschichte mit dem Gedächtnis wäre nichts für meine sich-nichts-bieten-lassende Schwester. Sie hätte bestimmt gesagt … hmm, wie sagt sie denn immer … ach ja: „Das musst du gerade sagen.“

Ich dagegen schluckte immer alles.

„Probiere alles Mögliche aus“, fuhr Paps fort. „Wende Taktik und Manöver an, bis du diese Schwäche besiegst. Und wenn du scheiterst, versuche es erneut und rede dir ein, du wärst einen Schritt näher an dem Erfolg, weil du aus dem Scheitern was gelernt hast. Okay, Großer?“, sagte er mit einer sanftmütigen Stimme, sodass ich wusste, dass er nicht enttäuscht war.

Darauf nickte ich „Ja“ und fühlte mich wieder wie ein Held. „Ich muss auf die Toilette, Paps.“

„Dann geh mal. Danach zieh deine Jacke an und sag Yolly, dass wir zum Spielplatz gehen.“

Ein frischer Aprilwind blies mir auf dem Weg zum Spielplatz ins Gesicht und durch die halb kahlen Äste der Bäume sah ich einen Teil des grauen Himmels, der eine Unwetterwarnung anzukündigen schien. Auf dem Weg zum Spielplatz stellte ich mir vor, ich wäre ein Spitzen-Fußballer und versuchte, den Ball wie der großartige Stürmer Neymar zu dribbeln.

Die vereinzelten leichten Regentropfen ließen die Spaziergänger sich beeilen, aber die heitere Stimmung der stürmischen Kids auf der Wiese und auf dem Spielplatz wurde nicht von den dunklen Wolken beeinflusst – und meine erst recht nicht. Ein paar Fußballenthusiasten schlossen sich uns an, als wir anfingen, Fußball zu spielen. Ich spielte auf der gleichen Seite mit meinem Vater, was ziemlich unfair den anderen jüngeren Spielern gegenüber war, aber mir gegenüber sehr fair, da es meine Chancen erhöhte, ein Tor zu erzielen.

Denn wenn es etwas gab, das ich mehr liebte, als zu gewinnen, dann war es wieder zu gewinnen. Egal, bei welchem Spiel, ich wollte immer gewinnen. Auf dem Fußballfeld konnte ich stürmen und dribbeln und hinter dem Ball herlaufen, als ob mein Leben davon abhinge. Und immer wieder, wenn ich Tore schoss und zu meinem Vater rannte, um ihn mit High Five abzuklatschen, zogen einige Kinder, die eine Niederlage nicht so gut wegstecken konnten, Grimassen. Aber ich fand das verdammt cool! Natürlich nicht ihre Tränen, sondern meine Tore.

Ein paar Stunden später, nachdem mein Vater mit der jüngeren Generation nicht mehr mithalten konnte und deshalb wie ein Maikäfer pumpte, gab er auf und fragte uns, ob wir nicht genug hätten.

Wie bitte!

Genug?

Ich doch nicht. Nicht auf einem Spielplatz und sicherlich nicht während eines Spiels, in dem ich die Oberhand behielt.

„Ich habe keinen Bock mehr. Ich will nach Hause“, sagte Yolly und weigerte sich, weiterzuspielen. Das frustrierte gegnerische Team zeigte sich auch geschlagen.

Spielverderber. Wir brachen das schöne Spiel ab.

Auf dem Weg nach Hause lief eine Schulfreundin meiner Schwester uns entgegen und sie umarmten sich, als hätten sie sich seit einer halben Ewigkeit nicht gesehen. Die beiden lachten und hüpften absonderlich auf und ab. Dann überraschte uns Yolly: „Papa, können wir zum Spielplatz?“

„Wir kommen gerade von dort. Du wolltest doch nach Hause.“

„Jetzt nicht mehr.“

„Nein, Yolly, das wars für heute.“

„Boah ey! Dann eben nicht!“ Sie stampfte eingeschnappt an uns vorbei, die Arme über der Brust verschränkt.

Paps seufzte und provozierte Yolly: „Ach, Gifty!“

Ihr in der Tat giftiger Blick sprach Bände. „Selber“, brüllte sie und fluchte davon.

„Kannst du die Schlachtfeld-Geschichte beenden?“, fragte ich Paps, als wir im Esszimmer saßen und auf das Abendessen warteten. Ich war dermaßen gespannt, zu wissen, wie ich meinen Gegner erfolgreich ausmanövrieren sollte. Ich hoffte nur, dass nicht wieder Fragen zu schwierigen Wörtern auftauchen würden.

Yolly hatte sich längst wieder eingekriegt und schnippelte an einer Karte herum. Sie bastelte gern und ich beneidete oft ihre Feinmotorik und Kreativität. Bis heute habe ich nie etwas für einen Freund gebastelt. Nicht einmal ein Geschenk ohne Hilfe eingewickelt. Das schiebe ich einfach auf das Versäumnis, die Notwendigkeit zu erkennen und nicht an mangelnder Feinmotorik.

„Eine Geschichte? Ich habe nur Manövrierfähigkeit erklärt, oder?“, entgegnete Paps gähnend.

„Schon.“

„Sag Manövrierfähigkeit.“ Und schon schlüpfte Paps in seine Mentor- und Lehrer-Persönlichkeit.

„Manövrierfähigkeit“, erwiderte ich. Seltsames Wort, was?

„Erinnerst du dich noch, was ausmanövrieren bedeutet?“

„Ja. Wenn ich gewinne oder wenn ich einen Vorteil habe.“

„Und du bist der Oberbefehlshaber. Der Kommandeur. Erinnerst du dich?“

Mannomann! Mannomann! Wie ich diese Vorstellung liebte. „Yes, Sir!“, entgegnete ich salutierend.

Paps, mit seiner Hand an seinem Weinglas, schmunzelte vergnügt. Danach schwenkte er das Glas kräftig hin und her und roch kurz, aber intensiv daran. Anschließend nippte er an dem Wein, warf einen Blick auf das fast leere Glas und beschloss, es auszutrinken.

Komisch!

„Als Kommandeur“, nahm er den Faden seiner Predigt wieder an der Stelle auf, wo er ihn verloren hatte, „musst du zuerst ein klares Bild vom Schlachtfeld bekommen. Du musst genau wissen, wo all deine Soldaten positioniert sind.“

„Okay.“

„Dann musst du sorgfältig und korrekt das gesamte Schlachtfeld genau untersuchen und beurteilen: die Schwachstellen und die Stärken identifizieren.“

„Hmm.“

„Du musst herausfinden, welche deiner Soldaten Unterstützung brauchen oder ob sie zu einem besseren Feld umgesetzt werden müssen …“

„Kannst du es nicht mit einer kindgerechten Erklärung versuchen?“, fragte meine Mom, die damit beschäftigt war, das Abendessen vorzubereiten. „Musst du unbedingt Beispiele nehmen, indem du ein Brettspiel mit Krieg und Soldaten vergleichst? Du verwirrst ihn.“

„Schach ist ein Schlachtfeld! Aber keine Sorge, er kann mir folgen“, entgegnete Paps, dann wendete er sich wieder mir zu. „Stimmt’s, Biggy?“

„Schon. Du hast ausmanövrieren erklärt“, erinnerte ich ihn daran, falls sein Gedächtnis ihn wieder im Stich gelassen hatte. Offen gesagt, brachten die Informationen meine Gedanken ein wenig zum Wirbeln. Aber schon interessant.

„Prima! Also, wenn du deinen Plan bis zum Ende erfolgreich durchführst, gewinnst du einen Vorteil“, erklärte Paps entschieden.

„Schätzchen, kannst du Papa folgen?“, fragte mich Mom skeptisch.

„Jaaa!“, antworte ich ihr. „Und dann?“, fragte ich Paps. Ich wollte schon am nächsten Tag meine Schwester ausmanövrieren.

„Na ja, dann hast du deinen Feind ausmanövriert.“ Er betonte das Wort ausmanövriert, als ob sich das Wort in meinem Gehirn festsetzen sollte.

„Muss es immer ein Feind sein? Was, wenn mein Gegner ein Freund ist wie Norman? Oder was ist, wenn es Yolly ist?“

Meine Mom lachte laut, während mein Vater keine Miene verzog.

„Dann hast du eben deinen Freund ausmanövriert. Du musst die Begriffe Feind und Krieg und Soldaten nicht wortwörtlich nehmen, weil Schach nicht buchstäblich eine bewaffnete Schlacht mit Waffen und Soldaten ist, sondern ein Kampf der Köpfe, in dem du versuchst, herauszufinden, was dein Feind … ähm, ich meine, dein Gegner plant, während du deine eigenen Pläne machst und durchführst.“

„Aber ist es nicht einfacher und besser, nur genau das zu sagen, was du meinst und genau das zu meinen, was du sagst?“, fragte Mom.

Ich war auch entnervt. „Ja, weil, wenn du das Wort Feind sagst und er mein Freund ist … ich meine, das ist doch verwirrend“, beschwerte ich mich.

„Das ist die Schönheit des Lebens, Biggy. Stelle dir vor, wir wären in unseren Gesprächen immer direkt und konkret. Das wäre todlangweilig. Monotonie ist langweilig und das Leben verabscheut jede Form von Monotonie. Deshalb kamen unsere Vorfahren auf Metaphern und Analogien, sodass…“

„Könnt ihr schon mal den Tisch decken!“, rief Mom und unterbrach den Monolog. „Das Essen ist fertig!“

*

*

Bereit für die Schlacht

Ich saß bereits neben meinem besten Freund Norman im Auto seiner Eltern und wartete darauf, zu meinem ersten Schachturnier zu fahren. Ich war so aufgeregt. Konnte es kaum erwarten, meine Gegner schonungslos auszumanövrieren. Seine Mutter sah uns durch den Rückspiegel an und fragte, ob wir die Sicherheitsgurte angelegt hätten.

„Natürlich, Mutti“, antwortete Norman, drehte sich zu mir um und fragte: „Wann hast du angefangen, Schach zu spielen?“

„Bevor ich fünf war“, erwiderte ich stolz.

„Ich habe viel, viel früher begonnen als du“, prahlte er und sah mich mit großen Augen an.

„Wie alt warst du denn?“

„Ein Jahr“, sagte er mit hochgehaltenem Daumen.

Mir blieb die Spucke weg. Dreieinhalb Jahre früher als ich!

Im Gegensatz zur Grammatik war Mathe immer ein guter Freund von mir gewesen. Logisches Denken war ein ständiger Begleiter, aber es entglitt mir immer, wenn ich aufgeregt war. Wahnsinn, dass mein Kumpel mit dem Schachspiel in einem Alter begonnen hatte, in dem man nicht einmal wirklich die Schachfiguren unterscheiden konnte. Aber ich gab mich gelassen und versicherte ihm zuversichtlich: „Ich bin sicher, dass ich dich schlagen kann.“

„Nein, das kannst du nicht!“, konterte er prompt. „Ich kann dich in nur drei Zügen Schachmatt setzen“, fügte er forsch hinzu und warf mir diesen Blick zu, als wenn er sagen wolle: „Das meine ich so.“ Dann lachte er laut auf.

Und ich musste auch lachen. Sein Lachen war ansteckend und wann immer er anfing, zu lachen, brachen alle in Gelächter aus. Während er plötzlich wieder aufhörte und von etwas anderem anfing – meistens übertriebenes Zeug.

„Ich habe meinen Opa gestern in fünf Zügen schachmatt gesetzt und er ist ein Schachgroßmeister.“

Da verging mir das Lachen schnell. Wow! Einen Schachgroßmeister zu schlagen. Das ist stark. Ich wusste, dass sein Opa aus Russland stammte, aus dem Land mit den meisten Schachgroßmeistern. Laut Norman hatte er gegen den großen Garry Kasparow, den ehemaligen Schachweltmeister, gespielt und hätte fast gewonnen. Norman brachte mich beinahe dazu, an meinen Schachfähigkeiten zu zweifeln, aber ich schaffte es, diesen Gedanken zu verwerfen. Vielleicht konnte er seinen Opa in nur fünf Zügen schachmatt setzen, aber ich war der neue Schach-Superman. Jedoch entschied ich mich, dieses Geheimnis für mich zu behalten.

Eigentlich war meine Teilnahme an diesem Schachturnier weitgehend auf meinen Kumpel Norman zurückzuführen.

Als Kindergartenkumpel hatte ich einmal versucht, ihm zu zeigen, wie cool ich war, indem ich Gras aß. Völliger Schwachsinn. Um mir zu beweisen, dass er viel cooler als ich wäre, erzählte er mir, dass er immer öfter sehr weit reisen müsse, um an Schachturnieren teilzunehmen.

„Hahaha …“, hatte ich trocken gelacht und mir die Wangen gerieben. „Was ist cool daran?“ Ich bestand darauf, dass ich cooler sei, denn das Gras war ekliger als alles, was er sich vorstellen könne, aber ich konnte es noch mutig kauen.

„Das ist dumm“, meinte er daraufhin, dann erzählte er mir, dass es Hunderte von Kindern beim Schachturnier gäbe und dass er sie alle, einen nach dem anderen, schlagen und dass er als Sieger hervorgehen würde mit einem riesigen Pokal, der größer sei als ich.

WOW!

Hammer, Hammer, Hammer!

Echt beeindruckend: Alle Gegner einen nach dem anderen zu schlagen. Und als Krönung des Ganzen einen Pokal gewinnen – größer als ich! Diese neue Information war wirklich der Hammer gewesen. Er war echt cooler als ich. Ich hatte meine Begeisterung nicht preisgegeben, wusste aber ganz genau, dass er unseren kleinen Wettbewerb klar gewonnen hatte: Er war cooler als ich. Die Geschichte war für mich so aufregend, dass ich von nichts anderem redete, als mein Vater mich an diesem Tag aus dem Kindergarten abholte. „Paps, ich möchte auch sehr weit reisen und an Schachturnieren teilnehmen!“

„Sehr weit reisen … Schachturniere … Was soll das sein? Wer hat dir diese Märchen erzählt?“

Damals fragte ich mich ernsthaft, ob mein Vater sich über mich lustig machte. „Norman hat es mir erzählt. Du weißt nicht, wohin du weit weg mit dem Auto reisen kannst, um Schach zu spielen?“, versuchte ich, es ihm mit meinen eigenen Worten zu erklären.

„Ich werde seine Mutter anrufen und sie fragen“, versicherte er mir. „Nun zieh deine Jacke an … Apropos, siehst du nicht, dass du den rechten Schuh auf dem linken Fuß und den linken Schuh auf dem rechten Fuß hast?“

„Kannst du mir helfen?“

Stur wie ein Esel blickte er mich an und sagte nachdrücklich: „Nein! Du bist kein Baby mehr.“

„Mama bindet doch immer meine Schuhe.“

Meine Mom half mir immer beim Anziehen. Alle anderen Kids wurden auch angezogen. Aber nein, Paps würde nicht gleich wie Mom auf der Matte stehen. Ich sollte alles alleine machen, weil ich ja schon groß war. Gemein!

Voller Protest zog ich meine Schuhe aus und kämpfte langatmig damit, um sie wieder anzuziehen, bis er endlich zu meiner Rettung kam. Er war nicht sehr geduldig, und wenn ich bummelte, tat er es schließlich selbst. Ich habe diese Lektion nie vergessen – und häufig dreist ausgenutzt.

Wochen später kam Norman mit einer neuen Coolness-Geschichte zurück.

„Ich werde dieses Wochenende sehr, sehr, sehr weit reisen, um Schach zu spielen. Und ich werde wieder jedes Spiel gewinnen und den größten Pokal mit nach Hause nehmen!“, sagte er stolz und fing an, zu lachen, als er beide Arme zum Himmel hob, wie Sieger es tun, wenn sie ihre gewonnenen Trophäen hochhielten. „Die Trophäe ist diesmal größer als mein Vater, und mein Vater ist fast drei Meter groß“, übertrieb er maßlos und lachte noch mehr.

Drei Meter! Echt jetzt? Dieses Mal lachte ich nicht mit. Das Lachen war mir echt vergangen.

Als mein Vater gehetzt im Kindergarten eintrudelte, gab ich ihm weder Zeit noch Raum, um Atem zu holen. „Paps, ich will auch weit weg wie Norman zum Schachturnier reisen!“ Dann fiel mir ein, dass er einmal Normans Mutter anrufen wollte, um die Informationen zu bekommen. „Du hast mir versprochen, Normans Mom anzurufen, um die Adresse zu bekommen.“

„Es tut mir leid, ich habe es ganz vergessen. Ich schulde dir dafür ein Softeis.“ Er fuhr mit seiner Hand über meine Wange, um mich zu trösten, aber ich konnte nicht so einfach getröstet werden.

„Wir können hier im Kindergarten warten. Seine Mom holt ihn immer ab“, erklärte ich.

„Gut, dann warten wir auf sie“, gab er sich geschlagen. Er saß dann auf einer kleinen Bank und ständig auf das Tor schauend, in der Hoffnung, dass die Mutter von Norman in Kürze ankommen würde.

Währenddessen spielte ich mit meinen Freunden, die einer nach dem anderen abgeholt wurden. Dann tauchte zu unserer Bestürzung Normans Oma auf. Sie erklärte, dass Normans Mutter aufgehalten worden sei und es nicht rechtzeitig schaffen könne. Das bedeutete, dass es auch Zeit für uns war, meinen kleinen Rucksack zu nehmen und nach Hause zu gehen.

„Hast du jemals von Schachturnieren für Kinder gehört? Tyron will nächstes Wochenende an einem teilnehmen“, fragte mein Vater meine Mom, während sie das Brot schnitt.

„Ich dachte, ihr wollt euch nächstes Wochenende einen Fußballverein anschauen.“

Ich spielte gern Fußball. Meine Eltern meinten, dass ich gut Fußball spielen könnte, weil ich so flink und wendig war. Sie sagten mir manchmal, dass ich wie der afrodeutsche Mannschaftsverteidiger Jérôme Boateng spielen würde.

Okay, ich bin zwar auch Afrodeutscher, aber von Boatengs Spielstil bin ich meilenweit entfernt. Außerdem war die Geschichte von Norman wirklich cool.

Doch ein paar Tage später, nach Absprache mit Normans Mutter, wurde eine Fahrgemeinschaft gebildet, und dann saß ich neben Norman und wir fuhren gemeinsam zum Schachturnier.

Dort angekommen, war ich vollkommen baff! Vor den Kopf geschlagen, wie man so schön sagt. Ich hatte angenommen, in ein Zimmer zu laufen, um etwas so Ruhiges und Ernstes wie ein Schachspiel zu spielen – wie ich es von zu Hause gewohnt war –, um dann festzustellen, dass ich mich in der Mitte eines absoluten Getümmels wiederfand.

Es gab so viele Kids gruppiert um ein paar Schachbretter. Und die waren laut! Hibbelig und aufgeregt. Einige diskutierten über Schachtaktiken und andere saßen bereits, um sich mit dem Gegner in Freundschaftsspielen zu messen. Mein Kumpel Norman fand bereits einen Sparringspartner und zockte, was das Zeug hielt.

Au weia! Mich juckte es in den Fingern, ich wollte auch ein Freundschaftsspiel. Ich konnte nicht mehr warten. Es war ein Gefühl der Euphorie. Hier war ich, wo ich hingehörte. Wo ich beweisen konnte, dass ich auch cool war.

In der ersten Reihe des Raumes hatte ich einen freien Tisch geortet, zog meinen Vater buchstäblich dahin und setzte mich ihm gegenüber. Neben mir saß ein kleines, großäugiges Kind mit glänzenden blonden Haaren. Der Junge musste auf seinen Füßen sitzen, um auf das Schachbrett sehen zu können, aber er sprach mit einer lauten, selbstbewussten Stimme und erklärte seiner Mutter, die das Spiel nicht zu kennen schien, die Regeln.

„Weißt du, was das ist?“, fragte mich mein Vater plötzlich und zeigte auf die analoge Schachuhr.

„Nein.“ Ich hatte noch nie so was gesehen. Ich sah sie gut an und nach weiterer logischer Überlegung sagte ich: „Ja, ich weiß, was das ist. Es ist eine Uhr, es sind sogar zwei Uhren.“ Ich konnte schon erkennen, dass es Uhren waren, die einige Batterien brauchten, sodass sie ticken und tacken konnten. Eigenartigerweise gab es solche Uhren auf jedem Tisch und sie waren alle tot. Keine bewegte sich – seltsam.

„Das ist eine Schachuhr“, sagte Paps leise und streichelte seinen Schnurrbart. „Du musst sie benutzen, wenn du spielst.“

„Wie?“ Ich starrte das kleine Gerät an und wunderte mich kurz, warum ich nicht einfach spielen konnte, wie ich es zu Hause gewohnt war. „Wir benutzen zu Hause nie eine Uhr!“

„Weil wir noch keine Schachuhr haben. Du bekommst bald eine von mir“, versprach er, dann erklärte er, wie sie funktionierte. „Siehst du diese beiden Hebel?“

Jetzt, wo er sie erwähnt hatte, sah ich sie. „Ja.“

„Wenn du den Hebel an deiner Seite drückst, beginnt die Uhr des Gegners zu laufen, während deine Pause macht. Dann macht dein Gegner seinen Zug, drückt auf den Hebel auf seiner Seite und seine Uhr wird angehalten, während deine läuft.“

„Easy“, dachte ich mir. Und die Erklärung dauerte auch nicht lange. Ich experimentierte dann mit den Uhren herum, während ich gegen meinen Vater spielte. Die Uhren brauchten doch keine Batterien.

Ring frei zur ersten Runde hieß es nach der Eröffnungszeremonie. Die Bretter waren bereits aufgestellt und die Uhren neu eingestellt. Mir gegenüber saß mein erster Gegner – ein Kind, fast in meinem Alter. Und unsere Füße baumelten vom Stuhl. Zuversichtlich machte ich den ersten Zug und drückte die Uhr. Doch war es damit ziemlich verwirrend. Nix mit easy. Ich vergaß sie entweder oder ich drückte die falsche Uhr auf dem Nachbarplatz und andauernd konnte ich hören, wie sich der Spieler nebenan leise beklagte: „Hey, du hast meine Uhr gedrückt“, oder „Maaann, kannst du mal aufpassen!“

„Häh?“ Ich war so verwirrt, dass ich nicht einmal daran dachte, mich zu entschuldigen.

Trotzdem genoss ich jeden Moment des Spiels und das Glück war auch auf meiner Seite: ein schneller und einfacher Sieg für mich.

Fast wäre ich vor Stolz geplatzt und ich freute mich wahnsinnig, als ich jubelnd aus dem Spielzimmer rannte. „Ich habe gewonnen! Ich habe gewonnen!“, teilte ich Paps unverzüglich mit, der mich fest umarmte. „Er hatte seine Dame eingestellt … ich habe alle seine Figuren mit Vergnügen verspeist, Paps. Am Ende hatte er keine Figuren mehr und spielte nur mit seinem nackten König auf dem Brett.“

Mein lieber Scholli! Ich war so was von glücklich.

Die Bretter wurden freigegeben zur zweiten Runde und wir schüttelten die Hände vor Beginn der Partie. Nach einigen Zügen hatte ich fast alle Figuren meines Gegners geschlagen. Am Ende rannte er weinend weg.

Für mich konnte das Leben nicht besser sein. Von da an wusste ich, dass es nirgendwo einen anderen Platz auf der Welt gab, an dem ich lieber gewesen wäre als bei einem Schachturnier. Schach stellte die ultimative Freude für mein Herz und meinen Verstand dar. Zwar empfand ich Mitleid mit dem weinenden Spieler, aber nicht genug, um mein Spielniveau zu verringern.

„Jaaa! Lass es ewig so weitergehen! Ausmanövrieren in Hülle und Fülle!“, sagte ich mir.

Bevor die dritte Runde begann, überwältigte mich das Kriegergefühl. Ich hatte die ersten beiden Spieler zusammen besiegt und war auf dem Weg, den dritten Spieler genauso ohne Gnade oder Mitgefühl zu vernichten. Junge, Junge, Junge war das fantastisch!

Als mein Vater mich zum Spielzimmer für die dritte Runde begleitete, erzählte ich voller Zuversicht: „Ich glaube, diesmal bin ich es, der als Erster mit einem Sieg herauskommt.“ Es ging mir gar nicht nur darum, zu gewinnen, ich wollte auch, wie mein cooler Kumpel, den Sieg in wenigen Zügen sichern.

„Jetzt bist du aber übermütig, Biggy. Sei dir nicht so sicher.“

„Was denkst du denn?!“ Ich war mir so was von sicher.

*

*

Der Kampf geht weiter