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INHALT

Geleitwort von Prof. Dr. med. Andreas F. H. Pfeiffer

Kapitel

I    Charon

II   Elysium

III  Phönix

Appendix

Mythologischer Anhang

Medizinischer Anhang

Tabelle der Nahrungsmittel

Ausgewählte Kontaktadressen

Literatur & Internetlinks

GELEITWORT

Krankheit ist, auch in Zeiten der modernen Medizin, ein Schicksal, das man sich nicht aussuchen und dem man sich noch weniger entziehen kann.

„Bitterzucker“ schildert das Erleben eines jungen Mannes, der von einem Nierenversagen als Folge eines Diabetes mellitus überrascht wird. Der Blickwinkel des Buches ist nicht medizinisch, sondern der des Betroffenen. Es geht um Freunde, Liebschaften, Bekannte, die Arbeit, die Leistungsfähigkeit, Vertraute – also das soziale Bezugsfeld, die Koordinaten des Lebens, und wie sie sich durch die Erkrankung verschieben.

Der Held des Geschehens klagt nicht, er sucht vielmehr Lösungen und Wege zu einem halbwegs normalen Leben für jemanden, dessen Nieren versagt haben und der die Dialyse benötigt, um zu überleben. Die Medizin steht im Hintergrund und wirkt zwar schicksalhaft bestimmend, aber die größten Probleme ergeben sich aus der Organisation des Lebens. Man ist mit dem Autor überrascht, welche Hindernisse sich aufbauen und wie gering das Verständnis und die Verständnisbereitschaft von Freunden für die neue Situation sind. Der Tenor ist deshalb keineswegs depressiv, trotz der nach wie vor ungünstigen Überlebensaussichten eines dialysepflichtigen niereninsuffizienten Diabeteskranken, was durchaus erwähnt wird. Vielmehr schiebt der Held des Geschehens dieses Wissen in den Hintergrund. Auch die zusätzlich bestehenden Diabetesfolgen der Nerven und des Augenhintergrundes werden mehr als Hindernisse denn als Krankheiten erlebt und finden eher beiläufig Erwähnung.

„Bitterzucker“ stammt aus unserer Gegenwart, derVerfügbarkeit des Internets, der Chatrooms und der sozialen Beziehungen, die sich dort anbahnen können. Bedürfnisse, Sehnsüchte und Phantasien eines jungen Menschen sind das Thema, und diese entfalten sich in der spannenden Story.

Die Geschichte hat auch eine medizinische Lösung anzubieten und damit die Perspektive einer wiedergewonnenen Normalität. Die mit der Transplantation verknüpften ethischen Aspekte werden ebenso angesprochen und erlauben einen Einblick in ein Thema, das jeden betreffen kann – als Spender. Das Buch wendet sich mit Hinweisen und Problemlösungen aber auch an Dialysepflichtige.

Als Arzt war ich erstaunt, wie lange Louis Seneks, der Held des Romans, die Risiken seiner Erkrankung unterschwellig ausgeblendet hat, bis das eben nicht mehr länger ging. Dass ein Diabetes bei sorgfältiger Führung keineswegs so verlaufen muss, wie das in „Bitterzucker“ der Fall ist, sollte nicht unerwähnt bleiben, um Missverständnisse und Ängste neu Erkrankter zu vermeiden.

Ärzte können aus der Geschichte sicher ebenso viel Verständnis für ihre Patienten gewinnen wie Gesunde und dadurch vielleicht einiges von ihrer Scheu im Umgang mit krankheitsbedingten Behinderungen verlieren.

Andreas F. H.Pfeiffer

Prof. Dr. med. Andreas F. H. Pfeiffer ist Professor für Innere Medizin an der Charité Universitätsmedizin Berlin und Direktor der Abteilung für Endokrinologie, Diabetes und Ernährungsmedizin am Campus Benjamin Franklin in Berlin sowie Leiter der Abteilung für Klinische Ernährung am Deutschen Institut für Ernährungsforschung – Potsdam Rehbrücke in Nuthetal.

 

Telefon:

+49 (0) 30 / 8445–2114

E-Mail:

diabetes@charite.de

Internet:

www.charite.de/endo

I    CHARON

An der Stiege hinauf zum Büro entschied er sich, doch den Lift zu nehmen. Er kehrte um, betätigte die Ruftaste des Aufzugs und wartete dann endlose zwei Minuten, bis der Aufzug von der dritten Etage in der Parkgarage angelangt war. Während der letzten Wochen war er wirklich froh gewesen, dass es diesen Aufzug gab, denn das Stiegensteigen machte ihm große Mühe. Vor allem am Abend, wenn er seine Füße in die über den Tag unerträglich eng gewordenen Schuhe hineinzwängen musste. Niemals hätte er sich gedacht, welche Probleme ihm ein Dreizehnstundentag im Büro bereiten könnte.

Wenn er arbeitete, kam er kaum dazu, aufzustehen. Immer wieder stellte ihn das Internet-in-a-Box-Server-Projekt vor Probleme. Im Grunde genommen war Louis ja sogar froh darüber, weil er so erst spät abends in die seit der Trennung von Nike so unendlich leer gewordene Wohnung, in den unendlich leer gewordenen Feierabend zurückkehren musste. Dort hätte er sich nur von neuem gefragt, warum sie ihn so einfach aus heiterem Himmel alleine ließ.

Lachend hatten sie vorher noch über die Namen ihrer möglichen Kinder diskutiert. Er hatte sich Mädchen gewünscht. Fußballspielen war nie seine Sache gewesen. Bei zwei linken Fußballfüßen. Lasst sie Fußball spielen, damit sie nicht an Mädchen denken, schrieb Handke in seinem „Die Angst des Tormanns vor dem Elfmeter“ und spielte dabei auf den Typ von Klosterinternat an, in dem auch er vor urlanger Zeit seine Knabenjahre verbracht hatte. Er hatte lieber an Mädchen gedacht, weil er ein schlechter Fußballspieler gewesen war… und deswegen, so hatte er Nike erklärt, wären ihm Töchter auch viel lieber als Söhne. Mit Söhnen müsste er wahrscheinlich Fußball spielen.

Nike hatte ihn verlassen. Ihn nackt und mit offenem Mund auf seinem Bett sitzen lassen. Sie hatte gesagt: „Es ist aus, Louis, tut mir leid.“ Und als er sie fragte, warum, antwortete sie nur, sie wisse es nicht. Er habe nichts falsch gemacht, im Gegenteil. Nur dieses Gefühl, das sie am Anfang für ihn gehabt habe, sei verschwunden. Und dann war sie gegangen. Hatte ihn in der riesenhaft leeren Wohnung zurückgelassen.

Etwa zur gleichen Zeit hatte ihm die Firma diesen Auftrag zugeteilt. Ein neues Produkt sollte entwickelt werden. Ein kleiner Internetserver für Kleinund Kleinstbetriebe ohne großen Wartungsbedarf. Dankbar, ja beinahe glücklich, stürzte er sich in diese neue Aufgabe. Was hätte er auch sonst mit dem riesigen Haufen an Zeit, Kraft und Phantasie anstellen sollen, der ihm nun plötzlich zur Verfügung stand. Jetzt, wo er niemanden mehr hatte, dem er Gedichte und erotische E-Mails schreiben konnte. Für den er sich exotische Gerichte und lustvolle Bettspiele ausdenken wollte.

Er war stolz auf sein Projekt. Schon bald würde es mehr sein als ein Webund E-Mail-Server für Klein- und Kleinstbetriebe. Fertiggestellt wäre es ein Büro mit allem, was man für einen virtuellen Arbeitsplatz benötigte. Konferenzsystem, Projektverwaltung, Arbeitsdokumentation. Sogar ein eigenes Internetoffice, das die Arbeit von zuhause aus oder auf Geschäftsreisen erlauben sollte, hatte er geplant. Spätestens für die Big-Enterprise-Version, die in zwei, drei Jahren fertig sein sollte. Und heute, heute wollte er die Alphaversion präsentieren. Der Firmenleitung und den Kollegen Ideen und zukünftige Möglichkeiten zeigen.

Als er aus der Aufzugkabine stieg und an der Sekretärin vorbei zu seinem Arbeitsplatz marschierte, spürte er die Freude auf ungläubige Gesichter in sich hochsteigen. „Hi!“, rief ihm Sabine zu, sie sei schon gespannt auf seine Präsentation heute Nachmittag. Bis dahin sei es noch recht stressig, antwortete er, schließlich wolle er zeigen, was „sein“ Blackbird, wie der Internetserver firmenintern genannt wurde, alles drauf habe. Und vielleicht schaffe er es sogar noch, das Konferenzsystem fertig zu stellen.

Zehn Schritte weiter öffnete er dann die Tür zu seinem in letzter Zeit sehr unaufgeräumt wirkenden Büro. Der Blackbird lief seit dem letzten Neustart gestern Abend immer noch. Schnurrte leise wie ein Kätzchen vor sich hin. Er setzte sich in seinen Schwingstuhl und fand zuerst nicht einmal Zeit, sich seines Sakkos zu entledigen. In der Nacht hatte er davon geträumt, was alles noch zu erledigen sei, wollte er die Firmenleitung von seinem Blackbird überzeugen. Vor allem musste eine ansprechende Bedienungsoberfläche für das Konferenzsystem her, das es im Gegensatz zu Konkurrenzprodukten ermöglichen sollte, sogar die von den Teilnehmern während der Besprechung erstellten Notizen aufzuzeichnen. Aufzuzeichnen und mittels einer Clientsoftware später wieder abzuspielen, um so diverse Arbeitspapiere auch anderen zugänglich zu machen und Missverständnissen, wie sie in üblichen Stille-Post-Kommunikationsprozessen von Firmen vorkamen, vorzubeugen.

Louis war so sehr damit beschäftigt, das System für die Präsentation zu tunen, dass ihm erst eine halbe Stunde vor Beginn des Termins auffiel, dass er nur mehr wenig Zeit für die Vorbereitung des Besprechungsraumes hatte. Mit Bedauern entschied er sich, das Konferenzsystem heute doch nicht vorzuführen, und rief den Lehrling an. Verärgert sah er dabei zu, wie Hubert mit der für ihn typischen Wurstigkeit hereinschlenderte, um den Blackbird äußerst gemächlich in den Besprechungsraum zu bringen. Dabei hätte er zumindest noch einen Testlauf machen wollen…

Das gesamte Firmenteam war anwesend, als Louis noch immer auf dem Boden lag, um den Blackbird mit dem Netzwerk zu verbinden. Weitere fünf Minuten vergingen, bis er ihn einschalten konnte und der Server endlich bootete.

Die ganze Zeit hatte sich gallig schmeckender Speichel in seinem Mund gesammelt. Er kannte das, in den letzten drei Wochen war das jeden Tag so gewesen. Und er wusste, es würde nicht mehr lange dauern, bis er sich übergab. Er versuchte zwar, den bitteren Geschmack hinunterzuschlucken, doch es gelang ihm nicht. Daher entschuldigte er sich bei den Anwesenden mit kurzen Worten und machte sich, so schnell es ihm seine geschwollenen Beine erlaubten, in Richtung Männertoilette auf. Verdammt, dachte er sich, warum jetzt!

Gerade noch rechtzeitig erreichte er den stillen Ort. Ekelhafte Flüssigkeit schoss mit großem Druck aus seinem Magen herauf und das Erbrochene spritzte von den Wandkacheln zurück. Es hörte nicht auf. Immer und immer wieder krampfte sich sein Magen zusammen, und mit jedem dieser Krämpfe ergoss sich ein neuer Schwall von Kotze aus seinem Mund in die Klomuschel, vor der er zuerst gestanden, dann gekniet und an der er schließlich kraftlos wie ein Sack gehangen hatte. Er wünschte sich nur mehr, dass er sterben könnte, dürfte, sollte. JETZT.

„Louis, Louis!“, rief Sabine von außen, um sich zu erkundigen, was denn los sei. „Nichts, gar nichts…“, antwortete er. Das werde schon wieder, er habe in letzter Zeit öfter solche Zustände gehabt. In ein paar Minuten sei er wieder so weit und könne die Präsentation fortführen. Sie solle aber bitte eine Putzfrau rufen, er habe hier eine ziemliche Sauerei hinterlassen.

“Au Sch…”, entfuhr es Sabine, als er ihr schließlich öffnete und sie ihn in seinem Erbrochenen liegen sah. Sie bestand darauf, dass er heimginge und sich ein paar Tage krankschreiben lasse. Ob ihn vielleicht ein Arbeitskollege oder eine Arbeitskollegin nach Hause bringen könne? Das schaffe er schon noch selbst, blockte er ab.

Glücklicherweise musste er heute für sein Micro-Car keine Parklücke suchen, denn es war erst früher Nachmittag. Eine Viertelstunde blieb er hinter dem Lenkrad sitzen. Dann stieg er aus, ohne seinen Rucksack mit den Unterlagen von der Rückbank zu nehmen, schleppte sich zum Eingang, suchte umständlich seine Schlüssel, sperrte die Haustüre auf und nahm den Lift bis in den dritten Stock.

Endlich in seiner Garçonnière angekommen, entledigte er sich seiner nach Kotze stinkenden Kleidung. Dann fiel er in sein Bett und wachte erst auf, als gegen 20 Uhr seine Wohnungsklingel schellte. Sein Freund Joe wollte ihn wegen einer Computersache um Rat fragen.

„Wie siehst du denn aus?“, fragte Joe entsetzt, und Louis erzählte ihm, was vorgefallen war. Er bat Joe, ihm ein Glas Cola und eine Packung Salzstangen aus der Anrichte zu holen. Ob er denn sonst nichts esse, fragte Joe, nachdem er Louis‘ Lebensmittelvorrat gemustert hatte. Außer Salzstangen und Cola könne er seit ungefähr drei Wochen nichts mehr im Magen behalten, klagte Louis. Wenn Nike noch bei ihm wohnen würde, bekäme er sicher eine kräftige Rindsbouillon. Aber spät nachts nach der Arbeit habe er einfach nicht mehr die Kraft, sich selbst ein warmes Essen zu kochen. Joe solle seine Beine ansehen. So geschwollen, wie sie jetzt waren, seien sie jeden Abend. Und dann könne er nicht einmal mehr Schuhe anziehen, um in ein Restaurant zu gehen. Am nächsten Morgen wäre dann alles wieder normal. Allerdings nur, wenn er nachts die Füße hochlagerte.

Ob er schon beim Arzt gewesen sei, fragte Joe besorgt. Louis bejahte. Was der Arzt denn dazu gesagt habe, wollte Joe weiter wissen. Dass er um Ostern herum ins Krankenhaus solle, um eine Neueinstellung seines Diabetes vorzunehmen. Aber ehrlich gesagt, meinte Louis, habe er keine rechte Lust dazu. Er müsse das Blackbird-Projekt bis August fertig bekommen, die Firma habe ihm eine fette Provision versprochen. Und dann würde er Urlaub machen. In Irland, wohin er mit Nike reisen wollte, über grüne Wiesen wandern, dem Brausen des Meeres in Dublin lauschen, wie es James Joyce in Ulysses beschrieb. Aber nun solle endlich Joes Problem besprochen werden, drängte Louis…

Als Louis Joe gegen 21 Uhr zurTür brachte, spürte er wieder den bitteren Geschmack in seinem Mund. Es dauerte nicht lange, dann stürzte Louis zur Toilette und übergab sich und übergab sich und übergab sich. Er übergab sich, bis er vor Erschöpfung nur mehr über der Muschel hing und sich nicht mehr bewegen wollte. Wie durch einen Schalldämpfer hörte er Joe fragen, ob er die Rettung rufen solle, denn so könne er ihn nicht alleine zurücklassen. Louis versuchte, Joe zu deuten, dass ihm nun alles egal sei. Sollte, wer auch immer, machen, was auch immer mit ihm gemacht werden sollte.

Als die Rettung eintraf, hatte Joe ihn bereits aus der Toilette gehievt, ihn von seinen abermals über und über mit Erbrochenem getränkten Kleidern befreit und den Kraft- und Willenlosen mit großer Mühe notdürftig in einen Bademantel gepackt. Die Sanitäter fragten Joe nach den Umständen des Zusammenbruchs, und Joe erzählte, was passiert war. Dann packten sie Louis auf die Bahre und brausten davon.

Während der ganzen Fahrt hatte Louis die Augen geschlossen. Er spürte nur das Schlingern des Krankenwagens, der es anscheinend eilig hatte. Auch in der Notambulanz ging es unüblich schnell. Kein Warten, keine Befragungen über Versicherungen und all das, nichts. Rasch wurde er in eine der Kabinen geschoben, die durch grüne Kunststoffvorhänge voneinander getrennt waren, und eine Ärztin betrat das Abteil. Sie stellte Louis nur wenige Fragen: Ob er einen solchen Zustand schon einmal gehabt habe und wann er das letzte Mal in die Ambulanz eingeliefert worden sei. Dann nahm sie ihm aus einer Vene Blut ab.

Jetzt, da er hier in der Ambulanz lag, fühlte er sich schon wieder viel besser. Wahrscheinlich würden sie ihm eine Natriumchlorid-Infusion verabreichen und ihn anschließend wieder nach Hause entlassen. Es würde zwei, vielleicht drei Stunden dauern, und morgen könnte er die missglückte Präsentation wiederholen.

Als die Ärztin zurückkam und die Infusion anlegte, fragte er sie, wann er wieder nach Hause dürfe. Er müsse wohl ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben, so ihre Antwort. Louis versuchte, sich dagegen zu wehren, aber die Ärztin ließ nicht mit sich reden. Mit diesen Zuckerwerten lasse sie ihn gewiss nicht nach Hause, eine Insulin-Neueinstellung sei dringend erforderlich. Louis versuchte abermals, gegen die Inhaftierung, wie er es nannte, anzugehen, und argumentierte damit, dass er nach Ostern ohnehin einen Krankenhaustermin habe. Doch die Ärztin bestand auf seiner stationären Aufnahme. Ob er nicht wisse, dass das mobile Messgerät bei seiner Blutprobe überhaupt keine Werte mehr anzeigen wollte und das Labor soeben einen Blutzuckerwert von 1110 Milligramm pro Deziliter durchgegeben habe. Normalerweise, so die Ärztin, bedeute schon ein Glukosewert von 700 Milligramm Lebensgefahr. Louis versuchte zu lachen, als er ihr entgegnete, dass er mit 700 noch auf Partys gegangen sei.

Schließlich gab er jedoch ihrem Drängen nach und fügte sich seinem Schicksal. Sabine hatte ihm ja ohnehin geraten, ein paar Tage in Krankenstand zu gehen. Die Unklarheit bezüglich seiner Gehaltsfortzahlung beunruhigte ihn zwar ein wenig, aber nichtsdestotrotz: Eine Woche Ruhe täte ihm sicher gut, wenngleich die Intensivstation nicht die von ihm bevorzugte Umgebung hierfür darstellte.

In der Nacht träumte er von Nike. Sie stand vor ihm und trug nur ihre Lederkorsage. Jene Lederkorsage, in der sie ihm immer wie Astarte, die sumerische Göttin der Lust, erschienen war. Nike hatte ihn an das Bett gefesselt, rieb sich an seinem Körper und küsste seine Glieder. Doch als er in der Erwartung, sie möge nun endlich über ihn kommen, seine Hüften hob, lachte sie nur und…

Er erwachte und spürte, dass er sich ergossen hatte.

Die Infusion, die über seinem Bett an einer Art Galgen befestigt war, hinderte ihn daran, sich vom Bett zu erheben und zur Brause zu gehen. Also läutete er die Nachtdienstglocke, die über seinem Kopf baumelte.

Nach einigen Minuten erschien die etwa 18-jährige Nachtdienst-Schwester im Zimmer. Er benötige ein neues Nachthemd und wolle unter die Dusche, bat Louis und musste eine Weile mit ihr diskutieren, bevor sie sich bereit erklärte, ihm einen mobilen Infusionsständer und neues Gewand zu bringen. Normalerweise, so meinte sie noch, bevor sie aus dem Zimmer verschwand, sei dies Angelegenheit der Tagschicht, die ohnehin in einer Stunde ihren Dienst anträte. Sie habe auch sonst noch genug bis zur Stationsübergabe zu tun.

Louis war nicht unglücklich darüber, dass die Schwester nicht warten wollte, bis er aus dem Bett gestiegen war, um mit dem Infusionsständer und einer unübersehbaren Erektion in die kombinierte Dusch-Toilettenkabine zu schlurfen. Sicher hätte sie geglaubt, der Anblick ihrer figurbetonten Schwesterntracht sei es gewesen, der ihn in dieser Weise stimulierte.

Zuerst probierte Louis es mit warmem Wasser. Dann dachte er daran, wie viel schneller eiskaltes Wasser seine Versteifung verschwinden lassen würde. Vom Temperatursturz überrascht, hätte er beinahe beide Arme schützend in die Höhe gerissen. Doch der Zug, den er an der Infusionsleitung verspürte, hielt ihn davon ab.

Die kalte Dusche zeigte keine Wirkung, sein Geschlecht stand noch immer. Louis trocknete sich mit dem etwas zu klein geratenen und wenig saugfähigen Krankenhaushandtuch ab und begab sich wieder zu Bett. Die Gedanken an Nikes tiefen Busen und ihre üppigen Brüste musste er freilich verscheuchen. Vielleicht half es ja, sich zu überlegen, wo der Fehler in der Programmierung des Konferenz-Moduls lag. Da ihn auch das nicht erlöste, bat er den Pfleger, der ihm einige Zeit später das Frühstück brachte, ihm Schreibblock und Kugelschreiber zu besorgen.

Als die Visite kam, winkte er einen der männlichen Ärzte heran und flüsterte ihm zu, dass er ein spezielles Problem habe. Der Arzt verwies ihn an die Oberärztin. Louis zögerte zuerst, aber nachdem sein Penis schon wehtat, entschloss er sich, die Sache laut vorzutragen. Die Ärztin fragte ihn, ob er es schon mit einer kalten Dusche probiert habe. Natürlich, antwortete Louis, er sei schon lange genug ein Mann, um zu wissen, wie „Mann“ üblicherweise ein solches Problem behebe. Er habe auch schon alles andere versucht, sogar Differentialgleichungen zu lösen. Differential sollte eigentlich helfen, schmunzelte die Oberärztin, er solle ihr das Problem bitte präsentieren. Mit seiner freien Hand schlug Louis die Bettdecke zurück. Die Ärztin betrachtete sein Malheur und fragte schließlich, wie lange er schon an Erektionsstörungen leide. So etwas sei ihm noch nie widerfahren, meinte er etwas verlegen. Die Erektion halte nun schon seit drei Stunden an und bereite ihm mittlerweile sogar Schmerzen. Darum, und nur darum, habe er sich auch dazu entschlossen, sein Problem öffentlich zuzugeben. Die Ärztin runzelte die Stirn und gab der Stationsschwester die Anweisung, einen Urologen hinzuzuziehen. Im Übrigen werde er anschließend auf die Normalstation verlegt, bemerkte sie, bevor das Visiteteam das Krankenzimmer verließ.

Der Urologe erklärte ihm, so etwas müsse ihm nicht peinlich sein, Fälle wie diesen habe er täglich zu Dutzenden in seiner Ambulanz. Er müsse den Kerl zuerst ein wenig zur Ader lassen und würde dann noch eine Injektion verabreichen. Louis sah riesige Kanülen und wandte seinen Blick ab, als der Arzt zur Punktion ansetzte. Es schmerzte kurz und Louis spürte, wie die Erektion verschwand. Dann fühlte er noch einen zweiten Stich und hörte den Urologen sagen, dass das Problem nun beseitigt sei.

In dem Vierbettzimmer, auf das man Louis brachte, waren drei Betten belegt. Seines stand am Fenster, ihm gegenüber lagen noch zwei Männer. Der eine um die 70, der andere wohl schon 80 Jahre alt. Louis nervten seine beiden Mitpatienten, die den ganzen Tag nichts Besseres zu tun hatten als ihre schweren Krankheiten zu beklagen oder methusalemische Potenz zu beweisen, indem sie junge Krankenschwestern auf altmodischste Art und Weise anflirteten. Als besonders unpassend empfand er es, wenn einer der beiden den Mädchen auf zeitlos lüsterne Weise an den Po griff. Dann, wenn zum Beispiel rein zufällig wieder einmal der Fiebermesser vom Nachttisch fiel und die alten, kränkelnden Männer es für unzumutbar hielten, ihre von Jahrzehnten harter Männerarbeit müde gewordenen Glieder selbst danach zu strecken.

Nach dem Abendessen wurde ein vierter Mann an Louis‘ Bettseite geschoben. Dieser schien jünger zu sein, vielleicht 40 oder 50, war aufgeschwemmt, hatte sich tagelang weder rasiert noch die Haare gewaschen und moderte widerwärtig.

Es sollte eine lange Nacht werden, weil der Neuhinzugekommene ganze Wälder zu sägen begann und Louis außerdem ein schier unbändiger Durst quälte. Wohl wissend hatte er sich vor der Bettruhe noch eine große Flasche prickelndes Mineralwasser besorgt. Doch egal, wie oft er sein Glas füllte, sobald er es ausgetrunken hatte, schien sein Mund schon wieder trocken und die Zunge klebte an seinem Gaumen. Er war froh, dass es die Möglichkeit gab, sich jederzeit kostenlos mit frischem Wasser aus dem Stationszimmer einzudecken, und machte in der Nacht mehrmals davon Gebrauch.

Als die Nachtschwester das Viererzimmer um 6 Uhr weckte, stank es im Zimmer nach Urin. Der schnarchende Nachbar hatte sein Bett durchnässt, doch die Schwester beschwichtigte, dass der Mann Alkoholiker und daher eben unfähig sei, seine Ausscheidungen zu kontrollieren. Oft, so die junge Frau, merkten Alkoholiker nicht einmal, wenn sie buchstäblich im eigenen Urin schwämmen.

Louis nützte den Tag, um ein bisschen im Park herumzuspazieren, sich in das Krankenhauscafé zu setzen und mittels Espresso, Kuchen und einer Zigarette zu entspannen. Als er auf die Station zurückkehrte, waren seine Beine stark geschwollen. Er legte sich ins Bett und seine Füße auf das Gestänge am Fußende. Dann betätigte er das Rufsignal und bat den herbeieilenden Krankenpfleger, ihm zwei Rollen elastisches Tape zu bringen. Als der Pfleger wissen wollte, wozu er diese denn brauche, gab ihm Louis zur Antwort, dass er seine Beine wegen der Schwellung bandagieren müsse.

Nachts, als Louis zur Toilette ging, bemerkte er, dass seine Hoden außergewöhnlich schwer waren. Und obwohl sich seine Blase anfühlte, als wäre sie zum Bersten voll, konnte er nur einige Tropfen Urin lassen. Eingedenk der wieder einmal zur Neige gehenden Mineralwasserflasche nahm er sich Nachschub mit und kehrte in das von Schnarchen und Gestank erfüllte Zimmer zurück. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt lag er geraume Zeit im Bett und konnte nicht einschlafen.

Müde vor Schlaflosigkeit zog er sich nach der Morgenvisite die Bettdecke über den Kopf und döste endlich ein. Zum Mittagessen wurde ihm ein undefinierbarer Mix serviert. Als er die Krankenschwester darauf ansprach, meinte sie, das gehöre zu der ihm verordneten Kartoffel-Ei-Diät, da sein Kreatininwert eine verminderte Nierenleistung zeige. Dunkel erinnerte sich Louis daran, dass die Oberärztin einmal von dieser Diät gesprochen hatte. Damals ging er jedoch aufgrund des Namens davon aus, dass es sich hierbei wirklich um Kartoffeln und Eier handeln würde. Außerdem fehlte dem „neuen“ Mittagessen die Suppe, die er immer als besonders schmackhaft empfunden hatte.

Gegen fünfzehn Uhr – es war noch immer Besuchszeit und eine lärmende Schar von Söhnen, Töchtern und Enkeln der Mitgenossen bevölkerte das Zimmer – kam ein Arzt, um mit Louis dessen Befunde zu bereden. Er stellte sich als für die Dialyse zuständiger Oberarzt Dr. Fragetti vor und meinte, Louis solle ihm doch in den Besprechungsraum folgen, dort sei es ruhiger.

Louis merkte, wie schwer es ihm fiel, aus dem Bett aufzustehen und auf die Beine zu kommen. Als er schließlich den ersten Schritt tat, um dem Arzt zu folgen, spürte er seine beiden Hoden gegen die Beine klatschen. Er musste sich hinunterbeugen, um nach ihnen zu greifen, und erschrak. Das waren keine Hoden, das waren Ballons! Weich und mit viel Wasser gefüllt. Peinlich berührt versuchte er, dem Arzt zu folgen und dabei so unauffällig wie möglich diese Wassersäcke zu halten, um überhaupt gehen zu können.

Endlich im Besprechungsraum angelangt hatte Louis gehörige Schwierigkeiten, sich halbwegs normal auf den Sessel zu setzen. Der Arzt fragte ihn, wie viel Urin er täglich habe und ob er an erhöhtem Blutdruck leide. Auch untersuchte er seine während des kurzen Marsches zu Elefantenfüßen angeschwollenen Beine. Als Louis dem Arzt schließlich seine riesigen Hodensäcke zeigte und fragte, ob man dagegen etwas tun könne, meinte dieser, dass es höchste Zeit sei, endlich mit der Dialyse zu beginnen. Es sei ohnehin schon viel zu lange damit gewartet worden.

Dialyse. Sicher.

Louis hatte schon davon gehört. Als etwas, das Diabetikern drohend im Raum stand. Dialyse, Blutwäsche, eine Art Infusion, an die man über längere Zeit angeschlossen würde. Louis hatte das immer als eine Sache betrachtet, die, wenn überhaupt, in weiter Ferne lag und vielleicht akut würde, wenn er 70, 80 oder 90 wäre.

Dr. Fragetti erklärte ihm, er würde dafür sorgen, dass Louis schon morgen einen Subclaviakatheter eingesetzt bekäme. In ein paar Tagen werde man dann daran gehen, eine Shunt-Operation durchzuführen. Der Shunt, so Dr. Fragetti, das sei ein für die Hämodialyse notwendiges künstliches Blutgefäß. Aber zuerst solle die extreme Überwässerung beseitigt werden.