Pianobar

Fußnoten

  1. DAPHA. Deutsches Aphorismenarchiv Hattingen.

Besuch bei alten Bekannten. Sie haben sich wieder einmal verändert, obwohl sie dieselben sind. Früher gefielen sie mir besser. Wahrscheinlich habe nur ich mich verändert.

Wie anders ich auch auf die alten Bilder blicke. Ich blicke mit den früheren Blicken auf das einstmals unbekannte Bild, dann auf das bekannte, und jetzt mit neuem Blick auf mich, der die alten Bilder betrachtet. Wie man beim Wiederlesen der Wahlverwandtschaften, von Krieg und Frieden, von Rechnung ohne den Wirt, vom Lenz, vom Schatzkästlein, von Mörike sich selbst mitliest, wie man war, als man das las, früher und zum ersten Mal.

Das Umschwärmen der Frauen

Ist nicht jedermanns Sache

Allein der Zeitaufwand

Saubere Fingernägel zum Beispiel

Dann die Begleitungen

Am Kanal lang ist ja sehr schön

Aber die Konzertsäle alle

Die Familienfeiern

Frauen sind anders

Das hat Mann hinzunehmen

Oder er lässt sie bleiben

Wer hatte damals schon einen. Einen Fußball aus Leder, handgenäht, groß und schwer. Vor dem Spielen ordentlich eingefettet. Mit Froschfett. Zumindest war ein Frosch auf der Blechbüchse. Ich hatte einen, war der schön, so zwischen gelb und hellbraun. Drinnen eine Blase. Die war rot, wie eine Wärmflasche, aber glatt. Und manchmal kaputt. Meist wegen des Stacheldrahts. Wir spielten ja immer auf der Wiese, eingezäunt mit Stacheldraht. Das Flicken der Blase war eine Prozedur, schlimmer als Fahrradflicken. Allein das Rausziehen der Blase durch das Ventilloch! Flicken draufkleben war einfach, aber die Blase wieder reinkriegen. Fußballklau häufig, Fußballwegnehmen vom Bauern häufiger. Auch Nachbarn konnten fies werden, wenn man auf ihrem Grundstück spielte. Eigentlich durf‌te man nirgendwo spielen. Auch nicht im Wald. Da machte es besonders Spaß, weil die Bäume mitspielen konnten.

Es gibt einen Gott oder keinen. Man kann das gut finden oder auch nicht. Aber ein Zweifel daran ist ausgeschlossen.

Zuletzt war ich polizeiauf‌fällig geworden, als ich im Festspielhaus Baden-Baden bei den St. Petersburger Symphonikern, noch vor dem Dirigenten, in weißem Anzug mit weißem Hut und weißer Gitarre in einem weißen Luxusschlitten auf die Bühne gefahren war und auf dem Dach des Autos stehend vor zweitausend aus Sanatorien und Altersheimen herangekarrten Kennern Ramona, zum Abschied sag ich dir Goodbye gesungen hatte.

Dem Gericht lagen naturgemäß noch die alten Akten vor, in denen ich mich der Aneignung falscher Titel angeblich schuldig gemacht haben sollte, zum Beispiel hatte ich mich wiederholt als Nobelpreisträger ausgegeben – Nobelpreis für Gehen, Nobelpreis für Fahrradflicken etc. Damit sollte nun ein für alle Mal Schluss sein, befand die Richterin und ordnete das Verkleinerungsprogramm für Größenwahnsinnige an. Ich wurde in einem Verkleinerungslabor auf Fingernagelgröße geschrumpft und in das Sichtfenster eines Schwimmstifts der Kugelschreibermanufaktur Verstamp OHG implantiert, samt meiner Western-Ausstattung, der Gitarre und meines Luxusschlittens, den man nun mit Recht als Kleinwagen bezeichnen kann. Das Ganze wurde mit Meerwasser geflutet. Wenn ich heute benutzt werde, das heißt, wenn mich ein Kugelschreibernutzer handhabt,

Sperrmüll. In den Halbhöhenlagen nichts auf der Straße, hier schmiss keiner was weg. Im Tal bei den einfachen Leuten waren die Bürgersteige voll mit Kram, der ihnen die Wohnungen verstopf‌te, Stühle, Matratzen, Sofas, Elektrogeräte … Die einfachen Leute hielten die Wirtschaft in Schwung, öfter mal was Neues, in den Villen blieb alles, wie es war, die Bewohner hatten nichts, was das Wegschmeißen nötig gemacht hätte.

Auch keine Bilder. Auf den Bürgersteigen unten ganze Fotowände, Filmstars, Landschaften, Städtebilder und Ölbilder mit Naturmotiven. Auch die Natur hatte sich ja verändert, warum sollten sie die alten Ansichten an der Wand behalten?

Nicht einmal vor der Villa Burda ein Bild auf der Straße. Die Wohlhabenden behalten auch die Bilder, und wenn es zu viele werden, bauen sie sich ein Museum.

Die kleinen Leute sind da viel radikaler.

Immer gut, ein Tier in der Wohnung zu haben, mit dem man alles besprechen kann. Ein Wombat ist geeignet, ein Nilpferd auch. Sie nehmen ja nicht viel Platz weg, stinken auch nicht, weil wir sie uns einbilden. Absolutes Vertrauen. Meinem Nilpferd kann ich alles sagen, es tröstet mich in schweren Zeiten, es freut sich mit mir. Es ist die vollkommene Freundin – ein weibliches Nilpferd muss es schon sein. Aber ein männlicher Wombat. Wegen der Vermehrung. Es ging den Wombats ja sehr an den Kragen in letzter Zeit. Nilpferde gibt’s auch nicht mehr an jeder Ecke. Aber bei mir sind sie sicher.

Würde der Allee. Den Leuten reicht das Spazieren nicht mehr. Sie brauchen einen Event. Eine Belustigung, eine Blütenorgie, ein Tamtam. Wer sich fortbewegt, ist meist ein bestockter Gehsportler oder Jogger, ein durch seine Spezialkleidung sich ausweisender Gesundheitsarbeiter. Spazieren, Schlendern, Flanieren, einfaches Gehen ohne Ziel scheint anrüchig geworden zu sein. Gehen ohne Sinn und Zweck muss durch Aktion therapiert werden.

Ich habe noch Prototypen einer altmodischen Alleenutzung gekannt, die allein aus Wandeln, Stehenbleiben und Bewundern, Verweilen und Sinnen, Sich-Präsentieren und Offenbaren besteht. Die Dame, die in den sechziger bis achtziger Jahren bei den Kindern als Tante Winke-Winke bekannt war, den sogenannten Bankverleger, jenen manchmal sogar kurzbehosten Laufmaniak und Lyriker aus Lichtenthal, der seine im Selbstverlag erschienenen Gedicht-Broschüren gerne auf Bänken in der Lichtenthaler Allee hinterließ, und Herrn Pütz, den ehemaligen Oberkellner aus dem Brenners, der täglich gut gekleidet die Lichtenthaler Allee bewanderte. Übrigens ein bedeutender Büchersammler, Spezialgebiet Kochbücher, er hat seine Sammlung der Universitätsbibliothek Dresden vermacht.

Alles ist Wetter. Es gibt keine Naturkatastrophen. Alles, was vorkommt, gehört dazu.

Das Meer steigt. Also los, baut Deiche.

Die Erde bebt. Raus aus den Häusern.

Es regnet. Spannt Schirme auf.

Es regnet nicht. Bewässert.

Ne Ecke Richter. G. hat mal mit Richter ausgestellt. Ein Bildertausch wurde verabredet, Richter bekam ein Bild von G., und G. – weil schon alles abgeräumt war – nur die beim Transport abgebrochene Ecke eines Bildes von Richter. Diese Ecke wandert heute als ganz besonderes Kunstwerk von Ausstellung zu Ausstellung. Der Versicherungswert der Ecke ist weitaus höher als jemals für ein Bild von G. Die Witwe G., heute die Besitzerin der Richter-Ecke, ist eigentlich immer damit beschäftigt, das Ding für Ausstellungen zu expedieren oder wieder zu empfangen. Wie soll das weitergehen?

Irgendwann, denkt sie sich, bin ich ja dran, Kinder hab ich nicht, die Kinder von G. aus früheren Ehen haben es nicht verdient. Der Kölner Dom, die Museen, der Kunsthandel auch nicht.

Wie ein Schatten fällt die Ecke von Richters Bild auf ihr Leben. Aber das ist es doch nicht wert, sagt sie sich. Was tun?

Otto geben. Wie mit andern Resten macht er, wie man im Rheinland sagen würde, Quatsch draus. Warum auch nicht. Das ist ja genau das, was sie von der Sache hält. Totaler Quatsch.

Früher erkannte man Großschriftsteller an ihren Pfeifen. Markante Dinger, großpreisig. Dazu rauchten sie Tabak, der gut roch (Navy Cut). Mit Vorliebe verkehrten sie in Grand Hotels, in deren Pianobars sie stundenlang saßen, dem geschmackvollen Pianospiel lauschten und rauchten. Wahrscheinlich fiel ihnen dazu was ein. Ja, damals gab es noch Großschriftsteller mit schönen Pfeifen, die sie professionell im Mund trugen, das gehörte sich so.

Heide und Ludger sind in Kanada weit oben, beinah schon Alaska. Mit einem Shuttle weit im Bärengebiet. Der Fahrer setzt sie am Endpunkt ab, in zwei Stunden kommt er sie holen. Jetzt gehen sie los. Überall Schilder die vor Bären warnen. Besser, man schmeiße sich hin und stelle sich tot, wenn der Grizzly komme, erzählt ein Schild, ein anderes, wenn es aber der Schwarzbär sei, helfe auch das nicht, der fresse alles. Da war ein kleiner Hügel inmitten so einer Art Heidekraut. Von da konnten sie die Gegend einigermaßen übersehen. Kein Bär.

Dann wurde ihnen mulmig. Je schneller sie zurück auf den Weg kamen, umso sicherer wären sie, dass sie den Shuttle nicht verfehlen. Da war zwar eine Ansammlung von Büschen und kleinen Bäumen zwischen ihnen und der Straße. Als sie zum Hügel gegangen waren, hatten sie das Wäldchen umgangen, es war ja Zeit genug, zwei Stunden. Jetzt konnte die Zeit schon um sein, und sie mussten eilen. Trockenes Holz knackte. War es von ihren Schritten? Verbargen sich Bären nicht im Wald? War das nicht ihr natürlicher Aufenthaltsraum? Plötzlich sang Ludger das Badnerlied. Wie in heroischen Augenblicken im Heidegger-Block, im Dreisam-Stadion in Freiburg, wenn sich ein Tor ereignete. Heide sang sofort mit. Hier war Bearsland, aber das

Alles ist so gewesen

Nichts war genau so

Obwohl nur auf Durchreise hat Bernd schnell die normalste Kneipe Baden-Badens entdeckt. Gockelstuben, Kreuzstraße. Ulmer Bier im Steinkrug. Wir trinken Topf um Topf. Er raucht dazu zwei Havannas, richtige Hämmer. Um uns herum Biertrinker bei der Arbeit, Glas um Glas. Die Kneipe, früher Bürgerstübl, völlig verholzt, holzverschönt, als wär’s eine Blockhütte für Gamsjäger. Der Gockelwirt braun wie vom Grill, silberhaarig, Goldketten um Hals und Arm, bester Laune, immer die Hand am Zapfhahn, auch für sich.

Vor vierzig Jahren saß ich mal mit Olga hier. Am langen Stammtisch unter denen, die immer hier sitzen, ein Mann, der uns bekannt vorkam, mit einem etwa Zwölfjährigen. Der Mann war Oskar Werner. Ich ging zu ihm, erklärte ihm meine Begeisterung für Jules und Jim und Fahrenheit und lud zu Getränken seiner Wahl ein. Er raunzte mich an, was mir an diesen blöden Filmen denn gefallen hätte. Saßen dann bei ihm und seinem amerikanischen Sohn, mit dem er den Schwarzwald durchwandern wollte, Westweg, gleich morgen früh. Wir saßen noch zwei, drei Stunden und tranken. Ich merkte erst spät, dass er bis oben voll war. Es kamen noch so viele Getränke, dass mein Geld nicht reichte. Musste anschreiben lassen.

Ich bin gesund, sage ich.

Der Arzt: Woher wollen Sie das wissen?

Sagt mir die Angst.

Vor der Wahrheit?

Vor Ihnen.

Der neue Staubsauger sei zum Absaugen von Menschen und Tieren nicht geeignet. Auch empfehle es sich, den gefüllten Staubbeutel nicht auszuwechseln, sondern sicherheitshalber gleich mit dem Gerät zu entsorgen.

Wladimir war Mitglied der Gruppe ›Kunst oder Tod‹. Sein Material waren Verpackungsreste. Er riss sie auseinander und fügte sie anders zusammen. Er schaute nicht auf dabei. Stundenlang collagierte er mit Wellpappe, mal die glatte, mal die geriffelte Seite in Front. Er vergaß alles um sich herum, er dachte nur in Pappe. Manchmal trank er einen Schluck Wasser, weil die Pappe so staubte und der Leim so stank. Das Motiv war immer ein Tempel, ein griechischer oder römischer. Die Säulen klebte er aus den Papprollen, um die das Toilettenpapier gewickelt ist. Neben ihm stand, während er arbeitete, die Frau mit dem Kind auf dem Arm. Wenn das Kind schrie, ging die Frau in die Ecke des Zimmers, hörte das Kind auf zu schreien, stellte sie sich wieder neben Wladimir.

Einen halben Tag brauchte er für solch einen Tempel, manchmal auch einen ganzen. Auf und an den Giebel klebte er Styroporstücke, wie sie herauskamen, wenn er auf ein großes Verpackungsstück aus Styropor getreten hatte. Sie waren strahlend weiß, wie Marmor. Man dachte dabei an Fragmente antiker Statuen. Wenn er fertig war, zeigte er es gern. Egal, wem. Wenn einer den Papptempel mit den weißen Styroporstücken schön fand, oder interessant, oder sonstwie ein Wort der Anerkennung fiel, sagte Wladimir:

Tomtom führt, und die Fahrerin folgt. In hundert Metern fahren Sie rechts und halten sich links. Da oben sitzt einer, der alles weiß.

Alles Gute kommt von oben. Nicht mehr breiter und schmaler Weg, Autobahn oder Feldweg in den Himmel, sondern wie’s kommt, links rum, rechts rum … So gelangt man zu den überflüssigsten Zielen.

Ein Lokal, in dem Fische schwimmen. Zur Vorspeise zieht Friedrich mit einer Art Angel aus kleinen Muschel- und Schneckengehäusen glitschig gummihafte Wesen, die er in sich stopft. Super, sagt er, und zu Austern trinkt man Muscadet. Der kommt, und die Austern auch bald. Die sind so frisch wie Meer, sagt Horst. Das schmeckt man, sagt Erika, die heute achtzig wird, aber das nicht will, auch nicht, dass das bekannt wird, obwohl sie eingeladen hat. Weil die anderen Auto fahren müssen, hat Horst, der bekennende Beifahrer, die Flasche bald für sich und leer. Eine neue kommt und der Hauptgang, Fisch. Am Nachbartisch wird ein Gebirge roter Knochen aufgetragen, Hummer für zwei. Kleine zarte Frau und breiter Mann mit bedrucktem T-Shirt. Motiv: Hinterseite des Mondes, jeder Krater erkennbar. Dann Gute Nacht und Auf bald. Tomtom wieder, der Allgeist von oben, bleiben Sie links, nach 450 Metern

Schlüpfer bedroht. Auf Platz 10 der schönsten vom Vergessen bedrohten Wörter. Ganz vorne: Kleinod. Blümerant. Dreikäsehoch. Labsal. Bauchpinseln. Augenstern. Fernmündlich. Lichtspielhaus. Hold. Holder. Augenstern. Kleinod. Schlüpfer. Was hatte er Mühe mit diesem Wort, das bei Gebrauch diese aufrichtende Wirkung zeigte.

Der Slip hatte nicht diese Wirkung. Da war ein Messer im Spiel, das schlitzte. Ausgerechnet.

Höschen wollte er in der Pubertät auch nicht sagen, das war zu nah am Kindsein. Ab sechzig allerdings wieder gerne, nachgerade ausschließlich.