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Diana Salow

MÖRDERISCHES Schwerin

Schattenkind

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Für meinen Sohn Martin

Der Ostseekrimi »Mörderisches Schwerin. Schattenkind« ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen, Gegebenheiten und Institutionen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Danksagung

Kapitel 1

»Lars, wo bist du?«, rief Hauptkommissar Thomas Berger in sein Smartphone und erwartete ungeduldig die Antwort seines engsten Kollegen. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und atmete tief durch. Die Kaffeemaschine in der Küche hörte sich an, als ob sie jeden Moment den Geist aufgeben wollte. Auf dem Fensterbrett hätte er schon längst mal wieder Staub wischen können, stellte er fest.

»Moin! Wo soll ich denn bei diesem Mistwetter am Sonntagmorgen um acht Uhr sein?«, antwortete Lars Paulsen und gähnte laut hörbar ins Telefon. Eine kurze Nacht lag hinter ihm. Die Frau, die er über eine Online-Partnersuche kennengelernt und am vergangenen Abend das erste Mal getroffen hatte, räkelte sich gerade nackt in seinem Bett. Das versprach ein heißer Sommer für beide zu werden, dachte er. Eigentlich stand er mit Mitte vierzig nicht mehr auf One-Night-Stands. Sie war etwas jünger als er, sehr gepflegt. Und sie hatte ein unwiderstehliches Lächeln, mit dem sie ihn gestern im Schlosscafé schon vor der ersten Flasche Wein auf magische Weise in ihren Bann gezogen hatte.

»Lass alles stehen und liegen!«, hörte er Berger auffordernd. »Wir müssen sofort los! Auf Kaninchenwerder gibt es eine Tote«, erklärte er ihm kurz. »Alles weist auf Mord hin.«

»Auf der kleinen Insel im Schweriner See?«, fragte Lars Paulsen, gebürtiger Hamburger, verunsichert. Er wohnte erst seit ein paar Jahren in der beschaulich kleinen Landeshauptstadt. Seine Ehe war geschieden und in Schwerin hatte er ein neues Leben begonnen. Berger und Paulsen arbeiteten eng zusammen und verbrachten auch nach Dienstschluss viel Zeit miteinander.

»Ja«, hörte er seinen Vorgesetzten sagen, »angeblich der tragische Ausgang eines Klassentreffens. Lass uns los! Bei dem Sturm da draußen kommt keiner von der Insel herunter. Das ist unsere Chance, den Täter oder die Täterin vor Ort zu fassen – wenn es denn wirklich einen Mord gegeben hat.«

Jetzt war für Paulsen der Moment gekommen, Leonie zu sagen, dass er zum Dienst musste. ›Leonie …, auch ihr Name gefiel ihm. Wie würde sie wohl reagieren, wenn er an einem Sonntagmorgen aufbrechen und damit auch gleich alle weiteren Pläne für den Tag ins Wasser fallen würden.

Leonie zog sich an, sie wollte nicht allein in der Wohnung zurück bleiben. Die Frau steckte sich notdürftig die Haare hoch und verzichtete auf ein Frühstück.

Sichtlich erleichtert bot Paulsen ihr an, sie bei dem starken Regen mit dem Wagen mitzunehmen und an ihrer Wohnung abzusetzen. »›Schnell ist jeder Tag vermiest, wenn es wie aus Eimern gießt‹, pflegte meine Großmutter immer zu sagen.« Er wollte mit dem Spruch die Stimmung der schönen Nacht, die jetzt ein abruptes Ende nahm, aufheitern.

Leonie schmunzelte, zog ihr Sommerkleid und die hohen feuerroten Sandaletten an, die Paulsen bewundert hatte.

»Okay!«, antwortete Paulsen wenig später. Auch er war nun in seinem Dienstmodus angelangt.

Leonie hatte versprochen, sich abends zu melden, und mit einem verführerischen Lächeln die Autotür zugeschlagen. Jetzt legte sie gerade ihre große Handtasche über den Kopf, um ihr Haar vor dem Regen zu schützen, und rannte auf das Haus in der Bergstraße zu. Sie drehte sich noch einmal um, zwinkerte Paulsen zu und verschwand hinter einer riesigen Tür.

›Ob sie mir ihre Adresse auch verraten hätte, wenn ich sie nicht nach Hause gebracht hätte?‹, fragte er sich. Er war froh, dass er jetzt wusste, wo sie wohnte. Die Chemie zwischen beiden stimmte. Paulsen war sich sicher, dass sie abends telefonieren würden. Er genoss den persönlichen Kontakt und hoffte, dass sich etwas Ernstes und Festes zwischen ihnen entwickeln würde. Zu lang lebte er schon allein. Er wollte nicht zum Eigenbrötler mit merkwürdigen Verhaltensweisen mutieren, was er bei vielen alleinstehenden Männern in seinem Umfeld kritisch beobachtete.

»Thomas, ich bin unterwegs. Wo treffen wir uns genau?«, fragte Paulsen bei seinem Rückruf.

»Ich habe gerade unsere Kollegen von der Wasserschutzpolizei informiert. Sie machen das Boot startklar und sind in circa zehn Minuten abfahrbereit. Wir treffen uns am Werder. Dort wo die Wasserschutzpolizei ihren Sitz hat. Kennst du, oder?«

»Ja, ich weiß, wo unsere Entenpolizei sitzt.«

»Oh, sind wir heute wieder witzig!« Als Entenpolizei bezeichneten die Kollegen die Wasserschutzpolizei intern. Meist kam noch ein schnatterndes Geräusch dazu. Es war immer ein kleiner Gag und meistens nie böse oder abwertend gemeint.

»Hast du eine Reisetablette dabei?«, fragte Paulsen, während er gleichzeitig nach der Wetterjacke auf der Rückbank schaute. Es regnete wie aus Kübeln. Die Scheibenwischer am Auto schafften kaum eine freie Sicht. »Bei dem Sturm kann ich für nichts garantieren!« Er schwitzte und die Scheiben beschlugen von innen.

»Für eine Viertelstunde Überfahrt brauchst du keine Tablette zu schlucken. Die wirkt erst bei Ankunft. Stell dich nicht so an! In Hamburg geboren und eine Reisetablette bei ein paar Wellen benötigen… das ist ja lächerlich.« Berger runzelte die Stirn und machte sich lustig über seinen Kollegen.

»Okay, bis gleich!«, antwortete Paulsen verunsichert. Es war ihm peinlich, dass er seine Seeuntauglichkeit preisgab und Berger sich darüber amüsierte.

Ein unrasierter Hauptkommissar Berger mit nicht gerade passender Kleidung – er trug einen Jogginganzug, den er schon längst hätte ausrangieren müssen – stand am Werder und wartete auf seinen Kollegen Paulsen. Zwei Polizisten hatten das Dienstboot startklar gemacht. Es schaukelte im Sturm und die Wellen schlugen laut an die Bordwände. Auch für die Männer von der Wasserschutzpolizei war es ein besonderer Einsatz. Ansonsten hatten sie täglich mit Tempoverstößen, alkoholisierten Freizeitkapitänen und Bootsführerscheinkontrollen zu tun. Sie waren mit ihrem Boot, der WS-63, auf Patrouille. Das Schiff, technisch bestens ausgestattet, wartete darauf, die beiden Hauptkommissare in sich aufzunehmen, um auf die Insel Kaninchenwerder überzusetzen.

»Lars, beeil dich!«, rief Berger ihm schon von Weitem zu. »Schau mal auf die dunklen Gewitterwolken!« Er hatte es kaum ausgesprochen, da hörten sie ein bedrohliches Donnergrollen in der Ferne. »Ein heftiger Wetterumschwung! Nach diesen schwülen Tagen wurde es auch allmählich Zeit. Hoffentlich hagelt es nicht noch!«

›Hoffentlich muss ich mich nicht übergeben‹, dachte Paulsen, als er die zwei älteren Kollegen und das wankende große Motorboot sah. Als er an Bord stieg, blickte er sich um und suchte nach einem Eimer oder einem anderen Behälter, den er notfalls benutzen konnte. Jetzt bedauerte er, dass er nicht einfach eine Plastiktüte eingepackt hatte. ›Das am frühen Morgen und ohne Frühstück! Das kann nicht gutgehen‹, steigerte Paulsen sich in die Situation hinein. »In Hamburg sind Spezialeinheiten der Wasserschutzpolizei übrigens seit Kurzem auf Jetskis mit bis zu einhundert Kilometern pro Stunde unterwegs. Wie bei James Bond. Da schaukelt nichts«, erklärte Paulsen und wollte damit andeuten, dass das rasante Tempo eher etwas für ihn wäre, als dieses schaukelnde Boot, auf das nun tatsächlich Hagelkörner einprasselten.

»Kein Ausflugswetter, nicht wahr, Lars!« Thomas Berger zog gern seinen Kollegen auf dessen Kosten auf und lachte. »Nun komm schon! Ist doch nicht weit«, beruhigte er Paulsen und hielt ihn am Arm fest. »Das wird schon. Die Kollegen haben Erfahrung und werden uns schon unbeschadet hinüberbringen. Sag mal, hast du schon gehört, dass wir in unserem Revier ab morgen die neuen Bodycams testen dürfen? Finde ich eine tolle Sache, um endlich gewalttätige Übergriffe filmen zu können.« Das war Bergers plumper Versuch, Paulsen von der bevorstehenden Überfahrt abzulenken.

»Hoffentlich kommen wir wieder gesund zurück. Die Gewitterwolken kommen immer näher«, mutmaßte Lars und ging nicht näher auf Bergers Frage ein. Er hoffte, dass sie aufgrund der Wetterlage nicht ablegen würden. »Ist das nicht zu gefährlich?«, hakte er nach.

»Der G20-Gipfel in Hamburg war viel gefährlicher. Dies doch nicht«, widersprach Berger. »Ich kann nicht glauben, dass du solchen Schiss hast.«

Paulsen hatte in der Anspannung gar nicht bemerkt, dass das Boot bereits langsam fuhr. Es war grau und ungemütlich auf dem Schweriner See. Der Sturm toste. Die hohen Wellen trugen weiße Kämme, die bedrohlich auf die Bordwände zurollten. Niemand, wirklich niemand wäre auf die Idee gekommen, bei diesem scheußlichen Wetter sein Boot aus dem Hafen zu bringen.

»Wie war dein Date gestern Abend?«, fragte Berger und grinste.

»Erzähl ich später«, gab Paulsen blass und nervös von sich.

Die zwei Polizeihauptmeister der Wasserschutzpolizei steuerten derweil routiniert die Insel Kaninchenwerder im südlichen Schweriner Innensee an. Die Überfahrt ging etwas langsamer als sonst vonstatten. Es schaukelte noch heftiger, als Paulsen es befürchtet hatte. Das einen Kilometer lange und sechshundert Meter breite Eiland lag bereits voraus. Auch die Nachbarinsel Ziegelwerder war im Regen schon erkennbar.

»Wieso heißt die Insel eigentlich Kaninchenwerder? Muss ich mit einer Karnickelinvasion rechnen?«, fragte Paulsen, während sie sich dem Anlegesteg näherten.

Berger lachte laut, obwohl er sich schon gedanklich auf die tote Frau eingestellt hatte: »Vermutlich wurden zu Herzogs Zeiten Kaninchen auf der Insel ausgesetzt.«

»Dort oben ist ja sogar ein Turm«, stellte Paulsen fest. Er würde in wenigen Minuten tatsächlich das erste Mal seine Füße auf die kleine Insel setzen.

»Ja, der zwanzig Meter hohe Turm wurde achtzehnhundertnochwas als Aussichtsturm eröffnet. Man hat einen herrlichen Blick auf die Silhouette der Stadt Schwerin«, wusste Berger zu berichten.

»Früher wurden hier französische Kriegsgefangene in Zelten untergebracht«, ergänzte einer der Wasserschutzpolizisten. »Und die Damen der feinen Gesellschaft versorgten damals sogar die dort Inhaftierten. Man sprach vornehm französisch«, belächelte der Kollege die Tatsache und spitzte seine Lippen aristokratisch und hochnäsig.

Paulsen war froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, als er den alten Holzsteg bestieg. An die Rückfahrt mochte er gar nicht denken.

Auf der Insel, die in den 80er-Jahren von tausenden Ausflüglern besucht wurde, hatte erst seit Kurzem wieder ein Restaurant eröffnet. Eine Fährverbindung der Weißen Flotte brachte interessierte Urlauber und auch Schweriner an diesen Ort. Das Anlegen von privaten Motorbooten war aus Naturschutzgründen untersagt.

Während sie im Laufschritt durch den Regen hasteten, schaute Berger auf die zahlreichen Erlenbäume, die im Wind hin und her schaukelten. Sein Kollege und er bereiteten sich bereits auf die Situation vor, die sie gleich erwarten würde. Beiden war klar, dass ihr freier Sonntag durch das schlechte Wetter und ein tragisches Ereignis keinen guten Verlauf nehmen würde.

Paulsen hoffte in der Gaststätte der Insel etwas zu essen zu bekommen. Wenn auch kein warmes Schokocroissant – etwas Brot, Wurst und einen schwarzen Tee würde es hoffentlich geben, um seinen leeren und strapazierten Magen zu füllen.

Kapitel 2

Starker Regen prasselte auf die beiden ein. Bergers Jogging-jacke bekam große Wasserflecken auf den Schultern. Er sah eher wie ein Obdachloser aus und nicht wie der Kommissar, der ansonsten sehr auf sein Äußeres bedacht war.

»Kommen Sie schnell! Hier herein!«, rief eine hagere ältere Person in der Ferne und winkte den beiden Männern zu.

»Bernd Remer, mein Name, ich leite hier den gastronomischen Service und habe die Polizei informiert«, sagte er aufgeregt und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte Polizisten in Uniform erwartet und nicht zwei Männer, die so gar nicht dem Klischee entsprachen, aber dennoch bewaffnet waren.

Berger stellte sich und Paulsen vor.

»Was ist denn in dieser Idylle passiert – wenn es mal nicht regnet?«, fragte Paulsen und reichte ihm die Hand.

»Hinten im Gastraum sitzen eine Menge Leute. Sie hatten sich gestern mit der Weißen Flotte auf die Insel bringen lassen, acht Zelte aufgebaut und wollten ihr Wiedersehen nach 35 Jahren feiern. Damals, 1983, haben sie alle auf der Insel ihr Abitur ausgiebig gefeiert. Ich habe ihnen erlaubt, in ein paar Zelten hier zu übernachten. Das war wirklich eine Ausnahme. Das können Sie mir glauben. Sie haben mir viel Geld für das Event geboten und da konnte ich nicht ›Nein‹ sagen«, rechtfertigte der Gastronom sein Verhalten. Er zog nervös an seiner Zigarette und pustete den Qualm seitlich weg.

Berger wurde hellhörig: »Ist es denn nicht gestattet, auf der Insel zu campen?«

»Nein. Naturschutzrechtlich gibt es da viele Einschränkungen. Aber die haben mich so bearbeitet und da konnte ich nicht ablehnen.«

»Was ist denn genau passiert? Wo ist die tote Frau?«

»Vorhin, so ungefähr vor einer Stunde, kamen zwei Männer angelaufen und baten mich, die Polizei zu verständigen. Sie hätten auf der Insel keinen Empfang. In einem Zelt liege eine Tote, schrien sie. Eine andere Frau hätte das Opfer aufgefunden.«

»Also haben Sie die Frau nicht gefunden?«, vergewisserte Paulsen sich.

»Nein. Ich habe nur die Polizei informiert. Ich habe damit nichts zu tun! So ein Mist. Das wird so schlechte Schlagzeilen geben, dass niemand mehr auf die Insel kommt, geschweige denn, hier noch essen oder trinken will.«

Berger sah Paulsen, der sich gerade mit der Hand durch das nasse Haar fuhr, irritiert an. Dessen Gesicht war immer noch blass und grau.

»Die sitzen dort alle. Einige sind noch nicht einmal nüchtern. Ich möchte nicht wissen, was da gestern Abend abgegangen ist. Die Musik war so laut. Hätte ich das bloß nicht zugelassen. Wir haben hier auf der Insel auch viele Tiere, die unter Naturschutz stehen. Ich kann nach dem Ereignis hier dichtmachen und muss wahrscheinlich noch eine hohe Geldstrafe zahlen. Das hat man nun von seiner Gutmütigkeit.« Der Mann schüttelte den Kopf und suchte in seiner Jacke nach der Schachtel, um sich eine neue Zigarette anzuzünden.

»Das ist jetzt erst einmal zweitrangig und ehrlich gesagt Ihr Problem! Deshalb sind wir nicht hier.« Berger fragte nach, wo sich die Personen befänden.

»Kommen Sie! Dort in dem kleinen Saal.« Bernd Remer zeigte auf eine verschlossene Tür. »Die Zelte sind hinter dem Gebäude und stehen bei dem Unwetter vermutlich alle unter Wasser. Ich gehe da nicht hin. Die Tote will ich nicht sehen. Solche Bilder vergisst man nicht! Das mache ich auf keinen Fall«, jammerte er, obwohl niemand von ihm verlangt hatte, den Leichnam anzuschauen.

»Thomas, lass uns zuerst zu dem Opfer! Sonst sind durch den starken Regen bald sämtliche Spuren verschwunden«, schlug Paulsen vor.

»Du hast recht. Es kommt erst einmal keiner von der Insel runter. Niemand verlässt Kaninchenwerder!«, legte Berger fest. »Haben Sie vielleicht einen Regenschirm und eine Taschenlampe?«, fragte er beiläufig. »Die Kollegen der Spurensicherung werden in Kürze auch eintreffen. Die Herrschaften im Saal müssen sich erst einmal in Geduld üben. Das wird ein langer Sonntag … und zwar für uns alle.«

»Ich mache Ihnen einen Kaffee. Oder lieber Tee?«, fragte der Gastronom, als er den blassen Paulsen sah. »Oder wollen Sie auch eine Zigarette rauchen?« Er hielt ihm die Schachtel hin.

Paulsen verneinte: »Für mich Tee und vielleicht ein Brötchen. Aber zuerst gehen wir zum Zelt.«

Remer zeigte den Weg. »Das große grüne Doppelzelt. Dort soll sie liegen, haben mir die zwei Männer gesagt.«

»Danke!«

Berger und Paulsen streiften ihre Einweghandschuhe über.

»Sie können den Herrschaften mitteilen, dass wir gleich zu ihnen kommen«, forderte Paulsen Remer auf.

»Wir benötigen auch einen Arzt für die Frau, die die Tote aufgefunden hat«, stellte Berger fest. »Der kann gleich mit der Spurensicherung mitkommen. Unser Rechtsmediziner ist hoffentlich auch schon auf dem Weg.«

Der Regen prasselte unaufhörlich auf die acht Zelte, die kreisförmig angeordnet waren. Eine kleine Feuerschale in der Mitte hatte schon so viel Wasser aufgenommen, dass das graue Aschegemisch überzulaufen drohte. Überall lagen leere Wein-, Whisky- und Sektflaschen herum.

»Was für eine Wiedersehenssause!«, stellte Berger fest und zog vorsichtig den Reißverschluss des durchnässten Zeltes hoch. Die Frau lag in ihrem Schlafsack, in dem oberhalb der linken Brust ein Loch zu entdecken war. »Sie wurde zweifelsohne erschossen. Das muss doch jemand gehört haben?«

»Sie muss sofort tot gewesen sein«, konstatierte Paulsen und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.

»Ja. Davon können wir definitiv ausgehen. Der oder die Täterin muss Schmauchspuren an den Händen haben und die Waffe werden wir auch finden. Oder sie wurde im Umkreis der Insel oder im Wasser entsorgt. Ich denke, wir werden den Fall schnell lösen. Das ist hier ziemlich eindeutig. Aber wir sollten mit aller Vorsicht vorgehen und uns auf alles einstellen! Der oder die Mörderin weilt hier auf der Insel unter uns!«

»Ich schlage vor, dass wir sämtliche Personen polizeilich aufnehmen und gleich einzeln befragen. Die eine Hälfte du, den Rest nehme ich.«

Berger zog das Zelt wieder zu und hoffte, dass der Rechtsmediziner und die Spurensicherung recht bald auch trotz der erschwerten Wetterbedingungen eintreffen würden. Das Polizeiboot war bereits auf der Rückfahrt. Die Kollegen wollten alle angeforderten Personen rasch abholen.

Er prüfte den Sitz seiner Waffe und machte sich mit Paulsen auf den Weg zum Saal. »Das wird ja interessant werden.« Berger lief zur Hochform auf. Sein Spürsinn erwachte. »Ein kleiner Kreis und irgendjemand muss die Frau getötet haben. Vielleicht war es auch eine Verschwörung von mehreren Personen. Die ganze Szenerie erinnert mich ein wenig an Agatha Christies ›Mord im Orientexpress‹. Ein Toter und ein Mörder in einem eingeschneiten Zug. Niemand kann den Ort verlassen.« Er war gespannt, was die beiden nun erwarten würde.

Kapitel 3

Das Stimmengemurmel stoppte abrupt und Stille kehrte ein, als Berger und Paulsen den kleinen, ungemütlichen Saal betraten. Vierzehn Personen saßen da, die bis eben laut und angeregt diskutiert hatten. Wer die Tote gefunden haben musste, erfasste Berger auf den ersten Blick. Sie saß etwas abgesondert von der großen Menge und trank Tee in kleinen Schlucken. Zerknüllte Papiertaschentücher lagen vor ihr auf dem Tisch.

Paulsen biss hastig in ein Schinkenbrötchen, das ihm eine Servicekraft gebracht hatte. Der Hauptkommissar widmete jetzt seine ganze Konzentration den Anwesenden.

»Wie lange müssen wir noch hierbleiben?«, rief ein kräftiger Mann aus der Menge und torkelte auf Berger zu.

»Bis wir den Fall geklärt haben«, antwortete der Gefragte spontan. »Ich möchte Ihnen Hauptkommissar Lars Paulsen und meine Wenigkeit, ich bin Hauptkommissar Thomas Berger, vorstellen. Wir sind von der Polizeiinspektion Schwerin und leiten hier die Ermittlungen. Sie werden alle einzeln befragt. Bisher bestätigte Absprachen untereinander werden daher auffliegen«, drohte Berger in unmissverständlich strengem Ton. »Ehe wir nicht mit allen gesprochen haben, verlässt niemand die Insel. Wir nehmen Ihre Personalien auf und Sie werden sich morgen bitte bei der Polizeiinspektion auf dem Großen Dreesch melden, um erkennungsdienstlich registriert zu werden.«

»Hä, was soll das denn?«, fragte ein leicht untersetzter Mann, der scheinbar auch noch unter Alkohol stand. »Dürfen Sie uns überhaupt festhalten? Oder muss ich meinen Anwalt informieren? – Und was ist mit dem Datenschutz?«, lallte er hinterher und kippte fast seitlich von seinem Stuhl.

»Wir haben das Recht, Sie bis zu achtundvierzig Stunden in Gewahrsam zu nehmen«, antwortete Paulsen, der gerade den Rest seines Brötchens heruntergeschluckt hatte. »Und wenn Sie hier so pietätlos agieren, befrage ich gerade Sie zuletzt!«

»Ich muss meinen Heimflug von Hamburg aus erreichen und habe morgen wichtige Termine. Den Flieger darf ich keinesfalls verpassen«, brüskierte sich eine gepflegte Dame, während sie mithilfe eines kleinen Handspiegels die Farbe ihrer Lippen korrigierte.

»Tut mir leid. Es bleiben erst einmal alle hier!«, widersprach Paulsen.

»Ich will auf keinen Fall gemeinsam mit Theresas Leiche zusammen im Boot fahren«, kam es ängstlich aus der Ecke. Es war die Frau, die die Tote scheinbar gefunden hatte. »Mir geht es nicht gut. Ich möchte zuerst befragt werden und dann so schnell wie möglich hier weg«, bat sie und schnäuzte laut in ein neues Taschentuch.

»Hanna, denkst du etwa, dass uns Theresas Tod nicht nahegeht? Wir wollen hier alle so schnell wie möglich weg«, fragte ein Mann mit Glatze in einem knittrigen karierten Hemd.

Das Opfer hieß also Theresa. Berger registrierte die angeregte Diskussion, die nun wieder einsetzte. Alle wollten unverzüglich die Insel verlassen. An der Aufklärung der Todesumstände ihrer ehemaligen Klassenkameradin schien niemand Interesse zu haben. ›Egoistisches Volk‹, dachte Berger, sprach die Worte jedoch nicht aus. »Hanna, darf ich Sie so nennen?«, fragte er.

Sie nickte zustimmend.

»Sie haben die Tote gefunden?«

»Ja.«

»Dann möchte ich Sie bitten, mitzukommen! Es wird auch gleich ein Arzt erscheinen, der sich um Sie kümmern wird.«

»… um Sie alle natürlich auch«, versicherte Paulsen und blickte in die Runde.

»Danke.« Hanna stand auf, nahm ihr Teeglas und begleitete Berger aus dem Saal. Der Gastronom hatte zwischenzeitlich einen kleinen Lagerraum notdürftig mit einer Bank, zwei Stühlen und einem Tisch ausgestattet. Hier sollten nacheinander die Befragungen stattfinden.

Paulsen machte sich derweil auf den Weg zum Anlegesteg und nahm nur wenige Minuten später Rechtsmediziner Dr. Karsten Brandenburg und drei Kollegen von der Spurensicherung in Empfang, die er zum Tatort führte. Eine junge Ärztin war ebenfalls angekommen und ließ sich von ihm den Weg ins Haus zeigen.

»Guten Morgen, Doktor Nina Teltenbach«, stellte sie sich vor und reichte Berger die Hand.

Der begrüßte die attraktive und sportlich gekleidete Frau, die ihre Haare zu einem kleinen Zopf hochgebunden hatte. »Guten Morgen, Frau Doktor, möchten Sie sich der Dame annehmen?« Berger zeigte mit der flachen Hand auf Hanna. »Sie hat das Opfer aufgefunden.«

Als er sich anbot, der Ärztin den schweren medizinischen Notfallrucksack abzunehmen, ließ sie es kopfschüttelnd nicht zu und beäugte sogleich ihre erste Patientin.

»Bitte keine Umstände! Ich habe mich schon beruhigt.« Hanna hob ihr gefülltes Teeglas und lächelte die Ärztin verkrampft an.

»Ich möchte Sie trotzdem gern kurz untersuchen«, schlug Nina Teltenbach behutsam vor und ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen.

»Okay. Sie können beide den Lagerraum für die Untersuchung nutzen. Ich hole mir einen Kaffee und bin gleich wieder hier«, sagte Berger.

Der Hauptkommissar verließ den Raum. Durch den aufgeweichten Rasen machte er sich auf den Weg zum Zelt, um den Rechtsmediziner und die Kollegen der Spurensicherung zu begrüßen. Nachdem er dies eher flüchtig erledigt hatte, holte er sich einen Kaffee beim Wirt. Den aufsteigenden Dampf betrachtend, überlegte er, ob er nicht den Saal hätte sichern müssen. Fragen wie ›Wo ist die Waffe, mit der sie erschossen worden ist? Und von wem wurde sie getötet?‹ kreisten in seinem Kopf herum. Er entschloss sich, die zwei Wasserschutzpolizisten in den Raum zu setzen, sodass diese das Geschehen verfolgen konnten. ›Mist, darauf hätte ich von Anfang an kommen müssen‹, tadelte er sich in einem Selbstgespräch.

Wirt Remer und Servicekraft Greta brachten unermüdlich frischen Kaffee und Tee in den Saal. Sie bemühten sich, trotz der tragischen Umstände, die Leute mit Rührei und gebratenem Schinken bei Laune zu halten und ihnen die bevorstehende Warterei so angenehm wie möglich zu gestalten.

Kapitel 4

Thomas Berger hatte kurz mit seiner Frau Lea telefoniert und ihr mitgeteilt, sie solle mit dem Mittagessen nicht auf ihn warten, da er frühestens am späten Nachmittag wieder zu Hause in Wittenförden, einer kleinen Gemeinde am Rande der Landeshauptstadt Schwerin, sein werde. Anschließend vergewisserte er sich bei Dr. Nina Teltenbach, ob Hanna vernehmungsfähig war.

Dies wurde von der Ärztin und ihrer Patientin bestätigt. Nina packte ihr Blutdruckmessgerät in den Rucksack und ging in den Saal, um sich über den Zustand der anderen Gäste ein Bild zu machen.

Berger forderte Hanna auf, sich zu setzen. Er zog ein blaues Notizbüchlein mit einem daran befestigten Kugelschreiber aus der Hosentasche der Jogginghose und nahm ihr gegenüber Platz. »Wie ist Ihr vollständiger Name?«

»Hanna Rickert.«

»Frau Rickert …«, sprach Berger sie an und wurde gleich unterbrochen.

»Sagen Sie ruhig weiter Hanna! Das gibt mir ein besseres Gefühl, wenn wir alle mit Vornamen angesprochen werden. Es sollte so ein schönes Klassentreffen werden«, erklärte sie leise. »Und nun so ein tragisches Ende. Ich kann das nicht begreifen.« Sie schnaubte wieder in ihr Taschentuch.

»Erzählen Sie bitte von Anfang an! Wie heißt die Tote? Wie sind Sie hier alle zueinandergekommen? Wer hat das Treffen organisiert? Und was genau ist gestern Abend hier abgelaufen? Bitte jedes noch so kleine Detail erwähnen! Es ist alles äußerst wichtig für unsere Ermittlungen«, bat Berger, setzte sich aufrecht hin, vor sich seinen Notizblock haltend.

»Oh, das sind viele Fragen auf einmal«, stellte sie fest. »Also«, begann sie nach einer kurzen Pause, in der sie sich gesammelt hatte, »vor fünf Jahren hatten wir unser 30. Abitur-Jubiläum. Das feierten wir in den Radeberger Bierstuben, oben am Faulen See. An dem Abend kam die Idee auf, das nächste Treffen dort stattfinden zu lassen, wo wir 1983 unser Abitur gefeiert haben – nämlich hier auf Kaninchenwerder. Edgar, ein Klassenkamerad und Organisationstalent, hat alles in die Hand genommen und unsere Wünsche mit dem Wirt vorbesprochen. Er war es auch, der ihn darum gebeten hat, ausnahmsweise auch zelten zu dürfen. Wir haben eine Whatsapp-Gruppe, die Kaninchenwerder 2018 heißt. Ich war mit Theresa – sie heißt vollständig Theresa Born – sehr eng befreundet. Früher jedenfalls. Für uns war sofort klar gewesen, dass wir auf der Insel zusammen ein Zelt beziehen würden. Wir haben alle gelacht, als wir schließlich festgelegt haben, wer mit wem in welches Zelt gehen würde. Die Vorfreude war groß. Wir sind dann gestern um achtzehn Uhr mit dem letzten Boot der Weißen Flotte von der Anlegestelle an der Werderstraße hierhergekommen. Heute wollten wir alle mit dem ersten Boot um zehn Uhr wieder zurück. Leider hat uns Edgar, der alles perfekt vorbereitet hat, gestern noch ein Foto aus der Notaufnahme des Krankenhauses geschickt. Er hatte nachmittags heftige Rückenschmerzen und ist dann sicherheitshalber zur Klinik gefahren. Sie haben ihn mit einem schweren Bandscheibenvorfall dortbehalten. Auf dem Foto sah er ganz blass und leidend aus.«

»Wie ging es dann weiter?«, fragte Berger und machte sich Notizen.

»Wir haben die acht Zelte für 16 Personen im Kreis aufgebaut und hatten schon etwas Bedenken wegen des Wetters. Dass wir hier zelten und auf den gewohnten Luxus verzichten, war eine ziemliche Herausforderung für einige. Es war ziemlich schwül. Die Luft stand förmlich. Wir tranken dann zur Begrüßung erst einmal ein Gläschen Sekt. Dann wurden die Zelte so belegt, wie es von vornherein festgelegt war. Theresa und ich bezogen ein Doppelzelt. Nachdem wir uns mit den Matratzen und Schlafsäcken eingerichtet hatten, trafen wir uns alle am Grillplatz, der ein wenig entfernt ist, und grillten Würstchen und Steaks, die der Wirt für uns in selbstgemachten Marinaden eingelegt hatte.«

»Das hört sich bis dahin alles sehr harmonisch an«, stellte Berger fest.

»Es war wunderschön und das Wetter passte. Die Stimmung war herrlich und ausgelassen. Dementsprechend wurde viel getrunken. Wein bei den Damen und Whisky bei den Herren. Laute Musik aus unserer Zeit, den 80er-Jahren, dröhnte aus einem kleinen CD-Player, den Dietmar mitgebracht hatte. Es wurde wild getanzt und mit steigendem Alkoholpegel wurden wir immer lauter. Gegen Mitternacht sind dann die ersten ziemlich angeheitert in ihren Zelten verschwunden. Theresa war auch recht früh weg. Sie hatte jedoch nicht so viel getrunken wie wir anderen. Der Rest unserer Truppe saß später noch gemütlich an der kleinen Feuerschale. Ich kann mich leider ab Mitternacht nicht mehr so recht erinnern. In den vergangenen Tagen hatte ich viel Stress. Den Wein, die schwüle Witterung und die drückende Luft habe ich nicht so vertragen.«

Berger spürte, dass ihr die Schilderung der Geschehnisse peinlich war, denn Hanna sprach immer leiser. »Hanna, es muss Ihnen nichts unangenehm sein! Ich kann mir vorstellen, wie toll so ein Wiedersehen nach vielen Jahren an diesem Ort ist. Erzählen Sie bitte weiter!«, ermutigte er sie.

»Naja, es ist mir schon unangenehm.«

»Immer raus damit!«

»Ich bin jedenfalls nicht zu Theresa, sondern nach Mitternacht zu Erik ins Zelt gegangen. Wir haben uns früher schon immer gut verstanden. Wir haben uns aneinandergekuschelt – wie damals auf der Klassenfahrt nach Prag.«

Hannas Wangen wurden rot und Berger vermutete, dass es anscheinend nicht nur bei Kuscheln geblieben war.

»Wir haben nur gekuschelt!«, betonte Hanna.

Bergers Vermutung, dass hier Sex im Spiel war, wurde ihm dadurch bestätigt. »Wie lange haben Sie denn gekuschelt?«, fragte Berger. Er ließ es sich nicht anmerken, um Hanna nicht weiter zu verunsichern.

»Ich weiß es nicht. Es war dunkel und ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Jedenfalls bin ich plötzlich aufgewacht und ging ins Zelt zu Theresa. Ich wollte nicht, dass jemand morgens mitbekommt, dass ich bei Erik übernachtet habe. Andererseits waren alle so betrunken, dass es eh niemandem aufgefallen wäre.«

»Und dann?«

»Dann bin ich im Morgengrauen in unser Zelt gekrochen und wollte mich leise in meinen Schlafsack legen. Plötzlich fand ich Theresa. Ich habe mich so erschrocken, weil sie auf meiner Matratze lag. Sie rührte sich aber nicht, sie war völlig regungslos. Ich sprach sie immer wieder an und dachte, so fest schläft doch kein Mensch.« Hanna begann zu zittern. »Dann habe ich mein Handy herausgekramt, um damit Licht zu machen … Ihre Augen standen offen. Sie war tot. Ich habe laut geschrien, bis Erik und ein paar andere Jungs kamen.« Hanna nahm ein Taschentuch und wischte sich die Tränen ab, die ihr über das Gesicht liefen. »Dann sahen wir die Einschussstelle an Theresas Oberkörper und haben uns sofort vom Zelt entfernt. Vorher hatten wir natürlich noch getastet, ob ihr Puls zu fühlen war. Da war nichts. Absolut nichts. Irgendwer von den Jungs ist dann zum Wirt und hat geschrien, er solle die Polizei informieren. Theresa, unsere Theresa, sei tot. Plötzlich waren alle hellwach und standen vor unserem Zelt. Es war einfach grauenvoll.« Hanna stockte der Atem. Sie hatte einen Kloß im Hals und konnte nicht weiterreden.

»Können Sie sich erklären, warum Theresa auf Ihrer Matratze lag. Es war doch alles, wie Sie betonten, anders abgesprochen und auch eingerichtet?«

»Nein, das verstehe ich auch nicht.« Hanna trank von ihrem Tee, der bereits kalt war. Plötzlich ließ sie das Glas fallen. Es zersplitterte auf dem Steinboden. Sie zitterte am ganzen Körper. »Meinen Sie, es war ein Versehen und ich sollte umgebracht werden? Ja! Bestimmt! Ich sollte getötet werden! Nicht Theresa!«, steigerte sie sich in ihre Vermutung hinein.

Berger konnte sie gerade noch festhalten, sonst wäre sie ohnmächtig vom Stuhl gefallen.

Hanna rang hektisch nach Luft, als ob sie ersticken würde. Sie starrte Berger mit weit aufgerissenen Augen an und lief rot an.

»Frau Dr. Teltenbach! Kommen Sie schnell! Sie hyperventiliert!«, schrie Berger, als er die Tür des Lagerraums aufriss.

Kapitel 5

»Können wir das Verhör bitte nach draußen verschieben?«, fragte Erik Brandt, als er von Hauptkommissar Lars Paulsen gebeten wurde, ihm zu folgen. »Der Regen hat endlich aufgehört. Ich möchte nicht in den Lagerraum zur Vernehmung gehen. Das ist mir dort zu muffig und eng, da bekomme ich wahrscheinlich Platzangst«, erklärte er seinen Wunsch.

»Einverstanden. Dann gehen wir nach draußen und suchen uns dort irgendwo einen ruhigen Platz.« Paulsen kam die Bitte sehr entgegen. Er wollte auch lieber hinaus in die Natur.

Es roch herrlich frisch im Wald. Der Sturm und der Regen hatten endlich nachgelassen. Eine friedliche Insel lag vor ihnen. Die Sonne war schon zu erahnen, sie kämpfte sich allmählich durch das Grau der abziehenden Wolken.

»Mein Name ist Erik Brandt. Ich bin 53 Jahre alt und selbstständig in der Computerbranche tätig. Ich habe ein Alibi für die ganze Nacht«, übernahm er sofort die Gesprächsführung.

»Okay, aber bitte eins nach dem anderen. Außerdem stelle ich hier die Fragen«, legte Paulsen energisch fest.

»Entschuldigung für mein forsches Auftreten!«

»Schildern Sie bitte mal den gestrigen Abend!«

»Es war so herrlich. Wir haben gefeiert, getanzt und gelacht und dann habe ich die Nacht mit Hanna verbracht. Oh, das reimt sich sogar«, stellte er schmunzelnd fest.

»Ich finde das hier nicht amüsant, Herr Brandt. Ihre Klassenkameradin Theresa ist tot und Sie berührt das anscheinend überhaupt nicht.«

»Doch, doch. Das ist wirklich schlimm. Aber ich habe ein Alibi«, versicherte er nochmals und hob seinen Zeigefinger.

»Hier kann jeder jedem ein Alibi geben. So einfach ist das nicht«, widersprach Paulsen.

»Ich habe die ganze Nacht mit Hanna in meinem Zelt verbracht. Edgar, mit dem ich es eigentlich teilen sollte, ist aufgrund eines Bandscheibenvorfalls im Krankenhaus und konnte nicht kommen. Da hatte ich einen Platz frei. Das habe ich mit Hanna ausgiebig genossen«, prahlte er.

»Sie hatten also Sex?«, schoss es Paulsen heraus.

»Ja.« Erik schloss für einen kurzen Moment die Augen und grinste. Sein rundes Gesicht mit dem kleinen, grauen Zickenbart strahlte, was dem Kommissar in Anbetracht der Umstände seltsam vorkam. »Auf die Hanna stand ich schon früher«, sprudelte es weiter aus Brandt, »wir sind beide ungebunden, beziehungsweise ich bin frisch geschieden. Da genießt man doch das Leben. Man sieht ja, wie schnell es vorbei sein kann. Carpe diem! Das ist mein Lebensmotto!«

»Das stimmt«, bestätigte Paulsen. »War denn gestern Abend irgendetwas außergewöhnlich, gab es Streit oder ähnliches unter ihnen allen?«

»Nein, absolut nicht. Es war eine tolle Party: Grillen, Tanzen … herrlich! Ich freue mich schon auf das nächste Treffen in fünf Jahren. Aber campen werden wir wohl nach diesem Vorfall nie wieder, vermute ich.«

»Verhielt sich Theresa denn gestern Abend anders, als Sie sie über viele Jahre kannten?«