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Über das Buch:

Annika ist ein 14-jähriges autistisches Mädchen, das durch einen Unfall schon früh ihre Eltern verliert. Obwohl in manchen Dingen eingeschränkt, besitzt sie eine unvorstellbare Merkfähigkeit: Sie liest die Bibel und lernt sie auswendig. Dabei erkennt sie die zahlreichen Widersprüche und warum viele Geschichten und Reden Jesu eine Erfindung der Evangelisten sind. Auf ihrer Suche nach Gott will sie nun herausfinden, ob das Wohlgefühl des Glaubens – mit all seinen Ratschlägen und Geboten für das tägliche Leben – mehr wert ist als die Erkenntnis, dass alles nur Illusion ist.

Sie trifft einen Pfarrer, einen Philosophen, einen Biologen und einen Neutestamentler, bei dem sie die ihr bisher unbekannte Welt der Gefühle entdeckt.

Und schließlich, im finalen Showdown mit einer barbusigen Provokation im Berliner Olympiastadion, trifft sie auch IHN: Seine Heiligkeit. Den Stellvertreter Christi.

Über den Autor:

Gerd Simon wurde am 5. Dezember 1942 in Dortmund geboren. Er ist verheiratet und hat drei Töchter. Viele Jahre war er als Creative Director und Texter in eigener Agentur für den werblichen Auftritt großer Unternehmen und bekannter Markenartikel zuständig. Die Frage, ob sich der Schöpfergott und die Evolution miteinander vereinbaren lassen, beschäftigt ihn schon seit Langem. In seinem Buch versucht er diese Frage durch die Augen der jungen Annika zu beantworten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Frieling-Verlag Berlin

Eine Marke der Frieling & Huffmann GmbH & Co. KG

Rheinstraße 46, 12161 Berlin

Telefon: 0 30 / 76 69 99-0

www.frieling.de

ISBN 978-3-8280-3323-8

Auch als E-Book erhältlich (ISBN 978-3-8280-3323-8).

1. Auflage 2016

Umschlaggestaltung: Michael Reichmuth nach einer Idee des

Autors (Foto Libelle: paulrommer - Fotolia)

Sämtliche Rechte vorbehalten

„Es fällt kein Sperling vom Dach

ohne den ausdrücklichen Willen

unseres himmlischen Vaters.“

Matthäus 10,29

Inhaltsverzeichnis

1

Tragische Himmelfahrt

„Weißt du eigentlich, was nächsten Samstag für ein Tag ist?“, fragte ihn Anne mit einem verführerischen Lächeln. „Ich hab da nämlich was vor mit dir.“

„Aha …?“

Christian Oderberg war sich unsicher, was sie damit wohl meinte. Er wusste zwar, dass es ein besonderer Tag war, dieser Samstag, aber nicht, was sie da wohl ausgeheckt hatte. Doch spätestens jetzt musste sie damit rauskommen: „Wir fahren in den siebten Himmel.“

Zu ihrem fünften Hochzeitstag wollte Anne sich endlich ihren langgehegten Traum erfüllen, mit ihrem Mann in einem Heißluftballon über all die Orte zu fliegen, an denen sie sich kennen und lieben gelernt hatten.

Der Samstagmorgen war klar und freundlich, für Ende Mai allerdings noch recht kühl. In der Nacht zuvor hatte es heftig geregnet und die Straßen waren frisch gewaschen. Ein leichter Wind blies von Westen über die Felder, die Natur konnte wieder durchatmen.

„Petrus meint es gut mit uns“, sagte Christian.

Wenn es mal nur so bleibt, dachte sie.

Als sie am Startplatz erschienen, natürlich eine halbe Stunde zu früh, wie immer bei Anne, zogen der Pilot und ein Helfer gerade die Ballonhülle aus dem Packsack. Ein knallrotes faltiges Monstrum mit einem dicken Schriftzug von REWE drauf.

Werbung muss wohl sein, dachte Christian.

Dann blies der Pilot mit einem Ventilator zunächst kalte Luft in die Hülle, bis die Eingangsöffnung groß genug war, um mit dem Brenner die Luft vorsichtig zu erhitzen.

Nach und nach wurde der Ballon immer voller – und als er sich langsam aufrichtete, war Christian von der gewaltigen Kugel sichtlich beeindruckt.

„Ich hätte nicht gedacht, dass der so groß ist. Wenn man sie am Himmel sieht, sehen sie so klein aus …“

„Wie ein riesiger Schleuderball“, staunte sie und war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob ihre Idee, denn es war ihre Idee, wirklich so gut war.

„Ihr könnt jetzt in den Korb steigen“, forderte der Pilot die beiden auf und gab ihnen noch ein paar Anweisungen mit an Bord, wie sie sich während der Fahrt richtig zu verhalten hatten.

Unter den neugierigen Zuschauern befanden sich auch ihr Vater und ihr Töchterchen Annika, das aufmerksam beobachtete, wie Mama und Papa in den Korb kletterten.

„Hast du Angst?“, fragte Christian seine Frau, als der Ballon sich die ersten Meter nach oben schaukelte.

„Ich weiß nicht … ist schon ein komisches Gefühl.“

Sie zog noch schnell ihren weißen Seidenschal vom Hals und winkte damit ihrer Tochter und dem Vater von oben zu.

Zunächst ganz langsam, aber dann doch zügig nahm der Ballon Fahrt auf.

Wie ein Drache fauchte der Brenner mit kurzen Feuerstößen immer mehr heiße Luft in das Innere des Ballons, bis sie eine Höhe von etwa tausend Metern erreicht hatten.

„Alles okay?“, fragte der Pilot.

„Wahnsinn!“

Das Panorama, das sich ihnen bot, war traumhaft.

„Siehst du den Wald da drüben?“, rief Anne begeistert aus. „Weißt du noch, als wir dort das erste Mal zusammen spazieren gegangen sind? Und dort hast du mich auch das erste Mal geküsst und … du weißt schon ...“

Sie überflogen das Dorf mit dem Kirchturm, wo sie vor fünf Jahren katholisch getraut worden waren. Sie überflogen das Baggerloch, das von oben aussah wie eine Pfütze. Hier sind sie im Sommer oft baden gegangen. Nackt! War natürlich alles verboten.

Es waren zwar einige Wolken unterwegs, aber die Sicht war exzellent und der Wind hielt sich zum Glück in Grenzen. Denn, wie der Pilot ihnen sagte, so ein Ballon ist zwar nach oben und unten steuerbar, aber kaum in der Richtung.

Die Fahrt war für zwei Stunden angesetzt.

Nach etwa einer halben Stunde jedoch wurde der Pilot unruhig. Anscheinend hatte er irgendein Problem mit dem Druckminderventil, das die Stärke der Pilotflamme stabil halten soll.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte ihn Christian.

„Wir müssen landen!“, rief der Pilot. „Sofort!“

Was dann geschah, wurde später in den Nachrichten wie in vielen Tageszeitungen als eines der grauenvollsten Unglücke der letzten Jahre beschrieben.

Der harte Aufprall beim Aufsetzen führte vermutlich zum Bruch eines Zuleitungsrohres, wodurch die volle Gasladung ungebremst in den Ballon strömen konnte, der daraufhin wohl raketengleich wieder nach oben schoss.

Erst Stunden später wurde seine zerfetzte Hülle zehn Kilometer entfernt auf einem Rübenfeld gefunden. Unweit davon lagen die Körper des Piloten und des Ehepaares Anne und Christian Oderberg.

Sie hinterließen eine dreijährige Tochter.

2

Ich, Annika

Mein Name ist Annika, ich bin vierzehn Jahre alt, ziemlich hager und 152 Zentimeter groß.

Und ich bin Autist.

Das heißt, mehr oder weniger. Es gibt bei dieser Entwicklungsstörung wohl nicht nur schwarz und weiß, sondern verschiedene Schweregrade mit fließend verlaufenden Grenzen.

In meinem Fall heißt das zum Glück, dass ich weder geistig behindert bin noch, wie viele andere Autisten, an starken Wahrnehmungsstörungen leide. Man vermutet, auch aufgrund meiner motorischen Ungeschicklichkeit, dass ich vielleicht an einem Asperger-Syndrom leide.

Mein auffälligstes Problem ist, dass ich anderen nicht direkt in die Augen sehen kann und dass ich mich nicht anfassen lassen will. Jede fremde Berührung bringt mein Nervensystem in Aufruhr. Außerdem fehlt mir jede Form von Empathie, das heißt, es fällt es mir schwer, mich in die Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen. Wenn bei anderen in einem Liebesfilm vor Rührung die Tränen fließen, kann ich nicht mitreden. Emotionen jeglicher Art sind mir fremd.

Gefühle sind das eine, Ordnung ist das andere.

Wenn die Möbel bei uns nicht so stehen wie immer, wenn die Bücher, Vasen oder Kissen nicht so angeordnet sind, wie ich sie in meinem Kopf abgespeichert habe, bekomme ich Panik.

Ich kann nichts dafür.

Wie es zu einer solchen Störung kommt, ist schwer zu erklären. In Russland glaubte man früher sogar, dass autistische Kinder besonders religiös seien, weil für sie anscheinend keine Gesetze und sozialen Regeln gelten.

„Heilige Narren“ nannte man sie, weil sie nicht von dieser Welt seien.

Andere glaubten genau das Gegenteil: Dass sie mit dem Herrn der Finsternis im Bunde stehen.

Als ich sechs Jahre alt war und wie jeden Sonntag zur Heiligen Messe ging, kam anschließend der Pfarrer auf uns zu und bat meinen Großvater, ihm doch die Kleine, also mich, noch eine halbe Stunde für ein Gespräch unter vier Augen in der Pfarrei zu lassen. Zwar wusste Großvater nicht so recht, was er davon halten sollte, stimmte schließlich aber zu … es war ja der Pfarrer.

Später sagte er, dass dies eine der dümmsten Entscheidungen gewesen sei, die er je getroffen hatte.

Der Pfarrer nahm mich damals bei der Hand und führte mich in sein Arbeits- und Umkleidezimmer. Dort bat er mich, auf dem Bett Platz zu nehmen.

Dann zog er die Vorhänge zu, schaltete das Licht aus und zündete eine Kerze an. Er legte sich einen übergroßen Rosenkranz mit Kreuz um den Hals, bekreuzigte sich und murmelte kaum hörbar: „In nomine patris, et filii et spiritus sancti …“

Ich hatte keine Angst, denn ich hatte noch nie Angst, aber die ganze Situation war mir so fremd, dass meine Hände zu flattern begannen, während mein Körper steif wie ein Brett war.

„Fürchte dich nicht“, sagte er, „ich werde Gott bitten, deine Störung zu heilen, indem wir das Übel bei der Wurzel packen. Leg dich bitte hin.“

Ich kapierte von alledem überhaupt nichts und ließ mich, wie in Trance, langsam zurück in die Kissen fallen.

„Hast du ab und zu Schmerzen im Kopf?“, fragte er mich, „oder ein Druckgefühl im Brustbereich, dass du kaum atmen kannst?“

„Äh … was?“

Ich war unfähig, eine Antwort zu geben.

„Hast du manchmal das Gefühl, ganz jemand anderes zu sein, als ob ein anderer Mensch oder ein böser Geist in dir steckt und dich steuert?“

Ich verstand kein Wort.

Dann tauchte er seine Fingerspitzen in die Weihwasserschale auf dem kleinen Tisch und bekreuzigte sich noch dreimal, während er sprach: „Im Namen Jesu Christi, unseres Gottes und Herrn, und durch die Fürsprache der unbefleckten Jungfrau und Gottesmutter Maria, des heiligen Erzengels Michael, der heiligen Apostel Petrus und Paulus und aller Heiligen, gestützt auf die heilige Gewalt unseres Amtes, unternehmen wir zuversichtlich den Kampf gegen die Angriffe und die Arglist des Satans …“

Ach du Scheiße. Langsam dämmerte mir, was der Pfarrer vorhatte. Er betrachtete wohl meinen Autismus als Werk des Teufels und wollte ihn anscheinend austreiben.

Die Anspannung in meinem Körper wuchs zunehmend, meine Fingernägel gruben sich tief im Unterarm ein, um meine Spannung abzubauen.

Der Pfarrer erhob sich und nahm ein bereitliegendes Kreuz in die Hand. „Es erhebe sich Gott, dass seine Feinde zerstreut werden und dass die, die ihn hassen, vor seinem Angesichte fliehen! Wie der Rauch vergeht, so sollen sie vergehen!“

Mit einer schnellen Bewegung brachte er das Kreuz direkt vor mein Gesicht. „Seht hier das Kreuz des Herrn! Fliehet, ihr feindlichen Mächte!“

Ich war nun starr vor Schreck und zitterte am ganzen Körper. Aber jedes Wort nahm ich unauslöschlich in mich auf.

„Wir treiben dich aus, unreiner Geist, wer du auch sein magst, jedwede teuflische Gewalt, jeden Angriff des höllischen Gegners, jede teuflische Legion, Vereinigung und Sippe! Im Namen und durch die Kraft unseres Herrn Jesu Christi seiest du entwurzelt und vertrieben aus der Kirche Gottes und aus den nach Gottes Ebenbild erschaffenen und durch das kostbare Blut des göttlichen Lammes erlösten Seelen!“

Ich schloss meine Augen und ballte die Fäuste, dass mir die Finger schmerzten. Er führte das Kreuz noch näher vor mein Gesicht.

„Wage es nicht mehr, heimtückische Schlange, das Menschengeschlecht zu betrügen und Gottes Kirche zu verfolgen!“

Nachdem der Pfarrer das Kreuz ein wenig zurücknahm, versuchte ich mich aufzurichten, aber er drückte mich mit harter Hand zurück in die Kissen. Vielleicht war es letztlich diese Berührung, die den Ausschlag gab, dass nun alle Schranken fielen und ich völlig die Beherrschung verlor. Ich schrie aus Leibeskräften und schlug wie wild um mich, doch seine Hand drückte umso stärker auf meine Brust … und die Beschwörungen wurden noch lauter und eindringlicher.

Adjuro te, serpens antique! Fliehe Satan, du Erfinder und Meister allen Betrugs, du Feind des menschlichen Glückes! Räume den Platz Christus, an dem du nichts von deinen Werken gefunden hast! Räume den Platz der einen, heiligen katholischen und apostolischen Kirche, die Christus selbst durch sein Blut erworben hat!“

Ich schrie ohne Ende, schlug und trat um mich. Der kleine Tisch neben dem Bett kippte um, die Weihwasserschale und das Gebetbuch mit den Exorzismus-Texten landeten mit lautem Platsch auf dem Boden. Er kannte sie ohnehin auswendig.

„Beuge dich unter die mächtige Hand Gottes! Zittere und fliehe vor der Anrufung des heiligen und Ehrfurcht gebietenden Namen Jesu, vor dem die Hölle erbebt, dem die Kräfte des Himmels und die Mächte …“

Plötzlich öffnete sich die Tür und eine ältere Frau, vermutlich die Haushälterin, stürmte herein. Meine Schreie hatten sie wohl beunruhigt.

„So geht das aber nicht, Herr Pfarrer! Das können Sie doch nicht mit der Kleinen machen! Hören Sie sofort auf mit dem Zirkus! Sie stirbt ja vor Angst!“

Sie schob dem Pfarrer zur Seite und nahm mich in die Arme … eine Berührung, die ich mir gefallen ließ.

Aus dem Rausch des Exorzismus zurückgeworfen in die nüchterne Wirklichkeit, war die Situation dem Pfarrer auf einmal unangenehm und peinlich. Ohne ein Wort zu verlieren, verließ er den Raum. Die Haushälterin hielt mich so lange fest im Arm, bis ich mich wieder beruhigt hatte und brachte mich nach Hause.

Ich hatte jedes Wort behalten, was der Pfarrer von sich gegeben hatte, sogar die lateinischen Worte, obwohl ich sie nicht verstanden hatte. Und ich erzählte natürlich alles Großvater, der davon so aufgebracht war, dass er sich sofort auf den Weg zum Pfarrer machte.

Er traf ihn aber nicht an – und er sollte ihn auch nie mehr antreffen. Denn unsere Beschwerde bei den Kirchenoberen hatte Konsequenzen: Der Pfarrer, von der Gemeinde ohnehin eher geduldet als geliebt und auch schon fast im Rentenalter, wurde von heute auf morgen versetzt.

Vielleicht hatte er es ja gut gemeint. Er wollte mich nur von einer Störung heilen, von der er vorher noch nie etwas gehört hatte. Und deshalb die falschen Schlüsse zog.

Ich kann natürlich verstehen, dass andere von mir irritiert sind … von meinem oft gesenkten Blick, meiner Haltung, meinen repetitiven Bewegungen.

Und von meiner Sprache. Sie ist ausdruckslos und eintönig. „Prosodie“ nennt man so etwas. Das ist für jeden Gesprächspartner zunächst irritierend, aber man gewöhnt sich dran. Andererseits jedoch bescheinigt man mir besondere Fähigkeiten in logischem Denken … und nicht zuletzt auch eine Inselbegabung, aber eben nur auf den Gebieten, die mich auch wirklich interessieren: Mathematik und Naturwissenschaft … und natürlich Religion.

Darüber möchte ich alles wissen. Einfach alles. Und das, was ich bisher darüber gelesen habe, hat sich in mein Gehirn eingebrannt. Als hätte ich es mit meinen Augen abfotografiert.

Warum Religion? Vielleicht weil ich im Alter von drei Jahren miterleben musste, wie meine Eltern mit einem Ballon gen Himmel fuhren. Jedenfalls sagte mir das mein Großvater, als damals das Unglück geschah.

Ich erinnere mich noch an jedes Wort, das er mir ins Ohr flüsterte: „Deine Eltern sind jetzt auf dem Weg in den Himmel … zum lieben Gott.“

Die nächsten zwei Jahre habe ich kein einziges Wort mehr gesprochen.

Alles, was ich danach gelernt habe, hat mir Großvater beigebracht. Von ihm lernte ich, lange bevor ich zur Schule ging, Lesen und Schreiben und sogar Schach spielen. Das Wichtigste für mich war jedoch, wie ich das, was ich sagen wollte, auch richtig artikulierte. Das ist für einen Autisten ein echtes Problem. Und dabei hat er mir durch viele Übungen sehr geholfen.

Ich kann zwar nicht beurteilen, was Liebe ist, weil mir dazu vielleicht die tiefen Gefühle fehlen … aber wenn man jemanden mehr mag als alle anderen, dann muss es wohl sowas Ähnliches sein.

An meine Eltern kann ich mich noch gut erinnern. Mein Großvater hatte mir auch oft Fotos von ihnen gezeigt: Jugendfotos, Hochzeitsfotos, Urlaubsfotos und auch einige, wo sie mich auf dem Arm hielten.

Von meinem Vater weiß ich, dass er Informatiker war und Computer programmierte und dass durch seine dunklen Haare bereits die Kopfhaut schimmerte.

Meine Mama hatte mittellanges dunkelblondes Haar und trug oft einen Pferdeschwanz. Sie arbeitete als Sekretärin in einem Zeitungsverlag … und hatte natürlich vor, nach meiner Geburt und einer entsprechenden Babypause wieder in ihrem Job weiterzumachen. Wegen meiner Probleme jedoch, die schon bald nach der Geburt erkennbar waren, verzichtete sie darauf. Sie hatte übrigens eine sehr schöne Stimme. Wenn sie mich abends zu Bett brachte, hat sie mir oft ein Lied von den Inuit vorgesungen, wo auch immer sie das herhatte, das augenblicklich meine Unruhe aufhob und ein kaum erklärbares beschütztes Gefühl in mir auslöste, auch wenn ich den Text nie verstanden habe: ‚Atte katte nuwa, atte katte nuwa, ermi sademi sadula misa de, hexa cola misa woate, hexa cola misa woate.‘

Zu meinem zehnten Geburtstag schenkte mir Großvater den wichtigsten Begleiter, den ich seitdem habe … eine kleine graue Stoffmaus mit samtweichem Fell und roten Boxhandschuhen.

Mein Maskottchen. Ich trage es immer bei mir.

Wenn meine inneren Spannungen zu groß werden und meine Nerven zu flattern beginnen, nehme ich es in meine Hände und streichele das Fell solange, bis ich mich wieder beruhigt habe. Und wenn das nicht hilft, versetze ich mich zurück in die Zeit, als ich noch kuschelig und wohlbehütet in meinem Kinderbettchen lag … und denke dabei an das Lied, das mir Mama immer vorgesungen hat.

Früher bin ich dazu auch oft hinaus in die Natur gegangen, weil ich meinte, dort mehr Sauerstoff zum Atmen zu finden.

Ich liebte es, wenn mir der Wind die bunten Blätter der Bäume ins Gesicht wehte. Ich liebte den Geruch der Felder, die unendliche Vielfalt an Pflanzen und duftenden Blumen, das Gezwitscher der Vögel … und nicht zuletzt die Armeen von Käfern und Insekten, die um mich herumschwirrten.

Alles von Gott erschaffen.

Autisten können minutenlang auf einen fixen Punkt starren. So gefiel es mir auch, über eine ganze Zeit, eine Libelle zu beobachten, die sich direkt neben mir auf einem Zweig niedergelassen hatte … als wollte sie mir etwas sagen: Hallo Mensch, ich sehe tausendfach durch meine Facettenaugen, dass du Entspannung brauchst. Atme tief ein. Vergiss all deine Probleme … sie sind nicht wichtig … Wichtig ist nur, dass du im Herzen glücklich bist … Hier in der Natur bist du frei wie ich …

Das Besondere an einer Libelle ist, dass sie Vorder- und Hinterflügel besitzt und beide Flügelpaare unabhängig voneinander bewegen kann. Dadurch kann sie in der Luft stehen bleiben oder abrupte Richtungswechsel vollziehen und dabei Geschwindigkeiten von bis zu fünfzig Stundenkilometern erreichen!

Und einen Rückwärtsgang hat sie auch noch.

Mit dem Nachbau eines Libellen-Flugkörpers, hab’ ich gelesen, könnte man mehr Flugbewegungen ausführen als mit einem Hubschrauber, Motorflugzeug und Segler zusammen.

Und dann ihr Überblick: Ihre Facettenaugen bestehen aus dreißigtausend Einzelaugen, wobei drei Punktaugen als Gleichgewichtsorgan und zur Kontrolle schneller Flugbewegungen dienen …Wahnsinn!

Man kann nur staunen über eine so ausgeklügelte Konstruktion, über so viel natürlichen Perfektionismus.

Eine schöpferische Meisterleistung.

So etwas Großartiges ist in der Natur jedoch keine Ausnahmeerscheinung, sondern eher die Regel. Alle Spezies auf unserer Erde, ob zu Wasser, zu Lande oder in der Luft, sind bis ins kleinste Detail perfekt durchdacht.

Kann so etwas zufällig entstehen?

Oder kann das nur jemand erschaffen haben, der größer und mächtiger ist als alles, was wir uns vorstellen können.

Im Laufe der Jahre habe ich dann mehr und mehr versucht, meine Erlebnisse und Erfahrungen mit meinem logischen Verständnis in Einklang zu bringen.

Und ich habe mir Fragen gestellt.

Warum zum Beispiel erschafft Gott Milliarden von Spezies, von denen sich über neunzig Prozent kaum voneinander unterscheiden?

Allein von der Libelle gibt es 5 680 Arten. Sind die alle einzeln erschaffen worden? Wozu?

Und was ist mit den unzähligen Hunderassen, die es gibt: Pinscher, Pudel, Pekinese, Dackel, Dogge, Dalmatiner …alle von Gott erschaffen?