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Hans-Joachim Hinrichsen

FRANZ SCHUBERT

C.H.Beck


Zum Buch

«Die Tonkunst begrub hier einen reichen Besitz,/Aber noch viel schönere Hoffnungen», so lautet die von Franz Grillparzer entworfene Inschrift für Schuberts Grab. Lebenslang am Ort seiner Geburt geblieben, ohne große Reisen, Auslandsaufenthalte, Liebesaffären und Familiensorgen, hat Franz Schubert (1797–1828) im Wien der frühen Restaurationszeit eine äußerlich völlig ereignislose Existenz geführt. Wenn sich freilich die wenigen dokumentarisch gesicherten Daten von Schuberts äußerer Biographie mit der tieferen Einsicht in die Problemgeschichte seines musikalischen Denkens verbinden, so kann man hinter dieser so unspektakulär wirkenden Erscheinung ein außerordentlich profiliertes Künstlerleben entdecken. In Schubert einem – trotz seiner allzu kurzen Lebensspanne – hochbedeutenden Komponisten zu begegnen, dazu lädt dieses kleine Buch ein.

Über den Autor

Hans-Joachim Hinrichsen – Professor em. für Musikwissenschaft an der Universität Zürich, Mitglied der Academia Europaea sowie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeber der Schubert-Perspektiven – bietet einen konzisen und anregenden Überblick über Leben und Werk Franz Schuberts.

Inhalt

Karte 1

Karte 2

Vorwort

1. Schuberts Wien

Wien als Musikstadt

Der Freundeskreis als produktiver Kontext

Der erste freischaffende Komponist?

Zwischen Biedermeier und Vormärz:
musikalische Geselligkeitskultur

2. Erste Versuche und frühe Meisterschaft

Systematische Eroberung der Gattungen

Erstes Markenzeichen: «das» Schubert-Lied

Die frühen Sinfonien und ihr Kontext

3. Krise, Durchbruch, Selbstbestimmung

Die Beethoven-Krise

Fülle der Fragmente

Vollendung im Unvollendeten

4. Unglückliche Liebe: das Musiktheater

Vom Singspiel zur «heroisch-romantischen Oper»

Bühnenerfolge und gescheiterte Hoffnungen

5. Komponieren für die Öffentlichkeit

Der Weg zur großen Sinfonie

Kammermusik und Sinfonik

Zwischen Auftrag und Bekenntnis:
die geistlichen Vokalwerke

6. Spätwerk in jungen Jahren

Die großen Liederzyklen

Kompositorisches Neuland und letzte Projekte

Spätes Selbstbewusstsein: Schubert und die Verleger

7. Epilog: die Schubert-Rezeption

Literaturhinweise

Werkausgaben und Werkverzeichnis

Quellen und Dokumente

Periodika und Nachschlagewerke

Monographien

Aufsätze

Personenregister

Karte 1

Karte 2

Vorwort

Franz Schubert (1797–1828) gehört zweifellos zu den bedeutendsten Komponisten der Musikgeschichte. Für viele Musikliebhaber verschwindet allerdings seine Biographie unter einem Schleier aus Klischees und Banalitäten. Wenn Heinrich Heine einmal von Immanuel Kant gesagt hat, dessen Lebensgeschichte ließe sich nicht schreiben, denn er habe weder ein Leben noch eine Geschichte gehabt, so scheint dies sogar noch mehr auf Schubert zuzutreffen. Lebenslang am Ort seiner Geburt geblieben, ohne große Reisen, Auslandsaufenthalte, Liebesaffären und Familiensorgen, hat er im Wien der frühen Restaurationszeit eine äußerlich völlig ereignislose Existenz geführt. Die meisten seiner Wohn- und Wirkungsstätten sind auf den beiden Karten auf der vorderen und hinteren Umschlaginnenseite leicht aufzufinden; so eng scheint der Radius seines physischen Daseins gewesen zu sein.

Wenn sich freilich die wenigen dokumentarisch gesicherten Daten von Schuberts äußerer Biographie mit der tieferen Einsicht in die Problemgeschichte seines musikalischen Denkens verbinden, so kann man hinter dieser so unspektakulär wirkenden Erscheinung ein außerordentlich profiliertes Künstlerleben entdecken, dessen Strukturmuster aus der Konstellation seiner Produktionsbedingungen und der Faktur seiner Werke verständlich zu machen ist. Es lassen sich sowohl gezielt erschlossene soziale Aktionsfelder erkennen als auch eine erstaunliche Systematik in der Aneignung der einzelnen musikalischen Gattungen; an ihnen entlang lässt sich Schuberts kurzes Leben erzählen und begreifen. Der Versuch einer solchen Strukturierung des Materials findet sich in dem vorliegenden kleinen Buch, und wenn es hilft, Schuberts bis heute ungebrochen präsente Musik nicht etwa simpel auf ihre Bedingungen zurückzuführen, sondern sie aus diesen heraus noch tiefer zu verstehen, dann hat es seine Aufgabe erfüllt.

Die in den Gang der Darstellung eingegangenen Forschungspositionen sollten sich über die in der Literaturliste nachgewiesenen Buch- und Aufsatztitel ohne Mühe verifizieren lassen. Zitiert wird im Text nach den ebenfalls dort angeführten Quelleneditionen. Für die eindeutige Identifizierung von Schuberts Werken gelten, wie allgemein üblich, die Katalognummern des chronologisch angelegten Werkverzeichnisses von Otto Erich Deutsch. Bei der Interpretation von Geldangaben ist die nach dem kriegsbedingten österreichischen Staatsbankrott von 1811 vollzogene Währungsreform zu bedenken, die dem alten Gulden Conventions-Münze (C.M.) das provisorisch gemeinte, aber bis über die 1848er-Revolution hinaus im Umlauf gehaltene neue Papiergeld des Guldens Wiener Währung (W.W.) mit einem Wert von einem Fünftel (ab 1820 im stabilisierten Verhältnis 1 zu 2,5) gegenüberstellte.

Mein Dank gilt den Rückmeldungen der Teilnehmer an meinen Zürcher Lehrveranstaltungen, denen das Konzept dieses Buchs zugrunde lag, und den Mitarbeiterinnen und Kollegen, die so freundlich waren, das Manuskript kritisch zu kommentieren. Für die zweite Auflage dieses Buches (2014) wurden einige kleinere Versehen behoben und die Bibliographie erweitert und aktualisiert. Wertvoll waren auch die Nachfragen und Anregungen des Übersetzers der japanischen Ausgabe (Tokyo 2016), Tomohei Hori. Die neuesten Korrekturen und Ergänzungen bestätigen nun hoffentlich die alte Weisheit, dass ein Buch sich stets erst mit der dritten Auflage der Perfektion zu nähern beginnt.

Zürich, im Frühjahr 2019

Hans-Joachim Hinrichsen

1. Schuberts Wien

Wien als Musikstadt

Die Stadt Wien, die während der frühen Jugendjahre Franz Schuberts von der Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zur Regierungszentrale des weit in den europäischen Südosten reichenden habsburgischen Vielvölkerstaats mutierte, ist im Bewusstsein der Öffentlichkeit bis heute fest mit dem Etikett der Musikstadt verknüpft. Dieses von der Tourismusbranche kräftig unterstützte Image ist so selbstverständlich geworden, dass die geschichtliche Begrenztheit des Phänomens nahezu vergessen wird. Heute gründet der musikalische Ruhm Wiens keineswegs mehr auf der Präsenz einer kompositorischen Kreativität, wie sie vom Zeitalter Haydns, Mozarts, Beethovens und Schuberts über die Walzer- und Operetten-Industrie der Strauß-Dynastie bis hin zu Sinfonikern wie Brahms, Bruckner oder Mahler und der anschließenden Avantgarde-Bewegung der Schönberg-Schule nahezu ununterbrochen vorherrschte. Wien pflegt heute vor allem seine Erinnerungen – in Form eines riesigen Repertoires, das durch eine Unzahl musikalischer Institutionen von Weltrang am Leben gehalten wird. Und ebenso wie ein Ende hat das Phänomen auch seine historischen Anfänge, die es insbesondere zum besseren Verständnis der Biographie Franz Schuberts zu kennen gilt.

Der Zeitraum, der Wiens musikalischen Ruhm dauerhaft begründet hat, fällt nicht zufällig mit jener Periode zusammen, die als das «josephinische Jahrzehnt» in die Geschichte eingegangen ist. Diese Epoche der Alleinregentschaft Josephs II. (1780–1790), der Höhepunkt des sogenannten aufgeklärten Absolutismus in Österreich, ermöglichte zumal in der Residenzstadt Wien Produktionsbedingungen, die den Anreiz für Musikerexistenzen wie derjenigen Mozarts schufen, der 1781 unter Aufgabe all seiner Salzburger Sicherheiten nach Wien übersiedelte. Die Freigabe eines öffentlichen Raumes durch den Rückzug des Hofes von musikalischen Repräsentationsaufgaben, die Liberalisierung des gesellschaftlichen Klimas, die Partizipationsmöglichkeiten in den ständisch durchlässiger gewordenen Adelssalons und der rasche Aufstieg des Musikverlagswesens bilden eine wesentliche Bedingung für jenes Phänomen, das durch die unter diesen Umständen beschleunigte und tiefgreifend veränderte Produktion Haydns, Mozarts und Beethovens später als «Klassik» bezeichnet worden ist, in die man zeitweilig sogar noch Schubert als Spätgeborenen einzufügen versucht hat.

Heute dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass man das rezeptionshistorisch und stilgeschichtlich keineswegs unproblematische Konstrukt der «Wiener Klassik», wenn es die Minimalbedingungen terminologischer Distinktion und trennscharfer Sacherfassung erfüllen soll, tunlichst auf den Zeitraum von 1781 bis um 1804 begrenzt: beginnend also mit Haydns Publikation seiner geschichtsmächtigen Streichquartettsammlung Opus 33 sowie mit Mozarts Niederlassung in Wien und spätestens endend mit dem Verstummen Haydns als Komponist und dem Paradigmenwechsel, der mit Beethovens Sinfonia eroica die musikalische Landschaft nachhaltig verändert hat. Realhistorisch wie mentalitätsgeschichtlich lassen sich diese Zäsuren mit dem anfänglichen Innovationsschub der josephinischen Reformen einerseits und der wachsenden Auszehrung der Aufbruchsstimmung in den verlustreichen Kriegen gegen Napoleon andererseits begründen. Daran sind nun zwei Sachverhalte für den Blick auf Schuberts Komponistenleben zentral. Erstens gehört Schubert in diesem Szenario zwar zum innersten Kern der Wiener Musik, aber nicht zu ihrer «Klassik», und zweitens ist auch das gesamte Schaffen des mittleren und späten Beethoven diesseits der epochalen stilistischen Grenze anzusiedeln. Das bedeutet, dass die beiden durch eine Generation voneinander getrennten Komponisten, deren Wiener Schaffen scheinbar im selben Rahmen und in zeitlicher Parallelität entstand (Beethoven starb 1827, Schubert anderthalb Jahre später), das musikalische Erbe dieser «Klassik» auf höchst unterschiedliche Weise verwalteten: Beethoven als einer, der in seiner Jugend als Schüler und Nachahmer Haydns noch unmittelbar an ihrer Entwicklung beteiligt war, Schubert hingegen als jemand, der den Kanon der einschlägigen Werke als zwar lebendige, aber bereits abgeschlossene Hinterlassenschaft vorgefunden hat. Für den jungen Schubert wurde Beethoven von einem gewissen Zeitpunkt an zum herausragenden, aber auch einschüchternden Orientierungspunkt, während umgekehrt Beethoven Schuberts Kompositionen, wenn überhaupt, erst spät und nur höchst sporadisch zur Kenntnis genommen hat. Der Eindruck, dass die beiden, merkwürdig genug, nicht wirklich in derselben Stadt zu leben und zu arbeiten schienen, trügt nicht nur nicht, sondern trifft den historischen Sachverhalt auf den Kopf: Beethovens Wien war zwar (auch) das Wien Schuberts, aber Schuberts Wien war nicht dasjenige Beethovens. Das wird gleich noch näher auszuführen sein.

Unter den großen Komponisten, durch deren Produktion Wien spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den berechtigten Ruf der Musikmetropole gelangt ist und die man daher lange Zeit hindurch als «Wiener Klassiker» bezeichnet hat, war Schubert seiner Herkunft nach der einzige Wiener, und neben Haydn war er auch der einzige gebürtige Österreicher. Das ist nicht aus lokalpatriotisch-sentimentalen Gründen heraus erwähnenswert, sondern deshalb interessant, weil er – anders als Mozart oder Beethoven – nicht durch das magnetisch wirkende Renommee der Stadt erst eigens angezogen wurde und daher seine aktive Musikerkarriere sich auch nicht einer bewusst getroffenen Entscheidung zur Ansiedlung in Wien verdankt. Er fand die Stadt und ihr Musikleben vielmehr als seine Produktionsbedingung vor. Für das Verständnis seines Werdegangs ist das, wie sich zeigen wird, nicht gänzlich ohne Belang.

Ziemlich genau mit Schuberts Jugendjahren fällt eine nachhaltige Wandlung des Wiener Musiklebens zusammen. Das josephinische Wien hatte zwar den Aufstieg Haydns erlebt – aber verwertet und zu europäischem Ruhm gebracht wurde er nicht hier, sondern in Paris und in London. Nur diese beiden Metropolen verfügten am Ende des Jahrhunderts über jene Institutionalisierung des Konzertlebens, auf die Wien noch lange warten musste – London sogar in einem hochgradig kommerzialisierten, nach kapitalistischen Marktgesetzen organisierten Ausmaß. In London, nicht in Wien, wurde der alternde Haydn nach heutigen Begriffen zum Millionär, und wohl nur Mozarts früher Tod hat auch dessen Ausrichtung auf den Londoner Konzertbetrieb verhindert. In Wien hingegen war der Komponist auf die Selbstorganisation von Konzertreihen und auf die Adelspatronage angewiesen. Immerhin gab es seit den 1780er Jahren diese Möglichkeit, und Mozarts rasche Wiener Karriere verdankt sich ebenso wie der kometenhafte Aufstieg des jungen Beethoven ihrer ebenso geschickten wie kompetenten Ausnutzung. Spätestens mit den napoleonischen Kriegen aber war diese kurze Blütezeit auf dem gesamten Kontinent vorbei; für Österreich kamen noch katastrophale militärische Niederlagen, der Zusammenbruch hocharistokratischer Privatvermögen und ein Staatsbankrott hinzu – all das fiel in Schuberts Jugendzeit. Das Wien der Nachkongresszeit hatte sich gründlich verändert. Wenn man die anschließende Phase heute als «Biedermeier» bezeichnet, dann trägt man damit nicht zuletzt der Tatsache Rechnung, dass das Musikleben nun zusehends auf eine neue Basis gestellt wurde: War der öffentliche Musikbetrieb vor 1800 noch weitgehend aristokratisch dominiert und elitär gewesen, so entfaltete sich im Wien der Metternich-Ära das Musikleben geradezu ausufernd im privat-häuslichen Bereich, während in der Öffentlichkeit neben der früher tonangebenden Hocharistokratie sehr rasch auch das wohlhabende und gebildete Bürgertum, mit Wirkung bis heute, an Präsenz gewann. Eine anfangs zwar noch aristokratisch protegierte, aber im Laufe ihrer Entwicklung rasch verbürgerlichte Institution war die 1812 gegründete Gesellschaft der Musikfreunde – bis heute der für das Wiener Konzertleben maßgebliche und eben für die Selbstorganisation des aufstrebenden Bürgertums überaus charakteristische Verein. Kommerzialisierung und Verbürgerlichung des Musiklebens haben hier, bis hin zum Aufstieg Wiens zu einer der Musikmetropolen des 19. Jahrhunderts, ihren Anfang genommen.

Die Differenz zwischen dem Wien, in dem Beethovens rascher Aufstieg gelang, und jenem Wien, das die Produktionsbedingungen für Schubert bereitstellte, erscheint somit als ein Unterschied der Generation ebenso wie der Gesellschaftsschicht. Beide Komponisten bewegten sich in unterschiedlichen Kreisen, zwischen denen es nur wenige Berührungspunkte gab. Beethoven, in den 1790er Jahren von einer systematischen Adelspatronage zu frühem und dauerhaftem Ruhm emporgetragen, konnte den Wegfall dieser tragenden Institution als bereits etablierter Komponist relativ unbeschadet überstehen; Schubert hingegen, dessen musikalische Sozialisation sich exakt auf dem Höhepunkt der antinapoleonischen Restauration vollzog, entstammte dem Wiener Kleinbürgertum, wurde durch das häusliche Musikleben des Biedermeier geprägt und blieb zeitlebens auf dessen Organisationsformen angewiesen, obwohl ihm schließlich der Aufstieg in jene institutionelle Sphäre gelang, in der er neben Beethoven öffentlich wahrgenommen werden konnte. Wenn allerdings unabhängig voneinander beide, der alternde Beethoven und der jugendliche Schubert, über die Sterilität der Metternich-Zeit anhaltende und beredte Klage führten, verbindet sie das nun schließlich doch auf bemerkenswerte Weise und zeigt, dass sie in kultureller Hinsicht sehr präzis dasselbe Wien wahrgenommen und erlitten haben: das Wien der sogenannten «Biedermeierzeit».

Der Freundeskreis als produktiver Kontext

Doch haben die sozialen und politischen Kontexte dieses Biedermeier gerade in Wien, dessen Bevölkerungszahl während Schuberts Lebenszeit auf knapp 300.000 anwuchs, für eine beispiellose Blüte kultureller Teilsegmente gesorgt. Dass dabei in erster Linie die Musik, in ihrer kollektiven Ausübung per se ein gesellschaftliches Bindemittel und unter allen Künsten die vordergründig unpolitischste, spätestens unter den Bedingungen des Metternich’schen Zensur-Regimes ein wesentlicher Faktor für die besondere Physiognomie der Wiener Gesellschaft der Restaurationszeit gewesen sein dürfte, ist oft und wohl mit Recht vermutet worden. Das hat sich aber schon seit dem Beginn des Jahrhunderts vorbereitet. Die Breite und Vielfalt allein des häuslichen Musizierens, das man nicht einfach als privates Rückzugsgebiet abwerten sollte, wurde der Nährboden für die schon in frühen Jahren immense Produktion auch des jungen Franz Schubert.

Dieser wurde am 31. Januar 1797 als dreizehntes von insgesamt sechzehn Kindern – von denen fünf überlebten – in eine Schullehrerfamilie hineingeboren und auf den Namen Franz Peter getauft – nicht in der Stadt Wien selbst, sondern in der nordwestlich gelegenen Vorstadtgemeinde Lichtental (heute Teil des 9.Wiener Stadtbezirks, Nußdorferstr. 54), die damals noch, vor der Niederlegung der Stadtbefestigung zugunsten der späteren Ringstraße, durch den Grünstreifen des sogenannten «Glacis» von der Inneren Stadt getrennt war. Der Vater, Franz Theodor Schubert (1763–1830), stammte, wie auch die Mutter, Elisabeth Vietz (1756–1812), aus Schlesien und hatte, von den Folgen der theresianisch-josephinischen Schulreform unmittelbar profitierend, seine Existenz auf die Betreibung einer vorstädtischen Grundschule im Himmelpfortgrund gegründet, für die er 1801 ein größeres Haus erwerben konnte (heute 9.Bezirk, Säulengasse 3). Er brachte es 1817 zur Berufung an die Schule in der Roßau (heute ebenfalls 9.Bezirk, Grünentorgasse 11), an der er dann bis an sein Lebensende unterrichtete – eine Schullaufbahn, die ihm schließlich, 1826, zu seiner großen Genugtuung das Wiener Bürgerrecht eintrug. Der Sohn Franz Peter entstammte also dem österreichischen Schullehrermilieu, in das er wie seine älteren Brüder Ignaz (1785–1844) und Ferdinand (1794–1859) beruflich wohl auch hineinwachsen sollte, was er allerdings schließlich erfolgreich verweigerte. Eine solide musikalische Grundausbildung, wie sie die älteren Brüder ebenfalls genossen hatten, gehörte selbstverständlich dazu – eine zunächst durch den Vater und die älteren Geschwister übernommene Unterweisung im Violin- und Klavierspiel, die in seinem Falle bei zunehmendem Fortschritt durch Unterricht beim Regens Chori der Lichtentaler Pfarrkirche, Michael Holzer, ergänzt wurde. Der junge Schubert wurde so schon früh zum unentbehrlichen Mitglied des familiären Streichquartetts.

In diesem zwar engen, aber ungemein aufgeschlossenen Milieu wurde Schuberts musikalisches Talent früh erkannt und offenbar entschieden gefördert. Aufgrund seiner phänomenalen Musikbegabung erlangte der Elfjährige im Herbst 1808 einen jener zehn begehrten Freiplätze in dem kurz zuvor eingerichteten Wiener Stadtkonvikt, wie sie musikalisch talentierten Knaben zur Verfügung standen, die man für den sonntäglichen Chorgesang in der Hofburgkapelle benötigte. Möglicherweise hatte der stolze Vater seinen Sohn schon einige Jahre zuvor dem berühmten Hofkapellmeister Antonio Salieri (1750–1825) vorgestellt, der die Auswahl der Hofsängerknaben persönlich vorzunehmen pflegte und bereits 1804 einen «Schubert» auf seine Liste setzte, so dass wahrscheinlich dessen Empfehlung den Ausschlag gab. Die Mechanismen der Rekrutierung musikalischer Eliten, durch die Jahrzehnte früher auch schon die Biographie des jungen Joseph Haydn entscheidend geprägt worden war, sind demnach selbst auf dem Höhepunkt der kriegsbedingten Systemkrise funktionsfähig und intakt geblieben. Der junge Franz Schubert bewohnte vom 1. Oktober 1808 an das vom Piaristen-Orden geführte Internat in der Inneren Stadt, im Gebäudekomplex der Alten Universität (heute 1.Bezirk, neben der Jesuitenkirche), und sah seine Familie nur noch an dienstfreien Wochenenden und in den Ferien. Das ermöglichte dem Knaben nicht nur den Besuch des Akademischen Gymnasiums, sondern verschaffte ihm auch die Möglichkeit, im Kapelldienst wie durch die aktive Beteiligung am konviktseigenen Orchester ein immenses Repertoire an Kirchen- und Instrumentalmusik kennenzulernen. Hinzu kam eine Fortsetzung der systematischen musikalischen Ausbildung bei Wenzel Ruzicka (1757–1823), dem Hoforganisten und Leiter des Konviktsorchesters.

Der junge Schubert genoss also, bei anfänglich sehr guten und später nur noch mäßigen Zeugnissen, eine solide Gymnasialausbildung, die ihn zum Universitätsstudium befähigt hätte, wenn er sie nicht im November 1813, nach dem fünften von eigentlich sechs Jahren, abgebrochen hätte. Ein äußerlicher Zwang dazu bestand nicht, denn der kostenlose Freiplatz wäre ihm, obwohl seine Stimme schon im Sommer 1812 mutierte und damit eine weitere Verwendung im Kapelldienst ausgeschlossen war, durch kaiserliche Vermittlung sicher gewesen, und zwar sogar gegen die Evidenz nur knapp noch ausreichender Schulleistungen. Eine früher durch die Schubert-Literatur geisternde ödipale Krise, angeblich ausgelöst durch die Wiederverheiratung des Vaters 1813, ist in keiner Weise dokumentarisch zu belegen und scheidet als Grund für den Schulabbruch wohl aus.

Entscheidend ist, dass der junge Schubert auch nach dem Austritt aus dem Konvikt den Kontakt zu dieser Institution und seinem dort versammelten großen Freundeskreis gehalten hat, vor allem aber weiterhin Privatschüler Salieris blieb. Der Unterricht bei diesem hatte, nach Schuberts eigenhändigem Datum in seinem Studienmaterial, am 18. Juni 1812 – also in zeitlicher Nähe zum Stimmbruch – noch in der Konviktszeit mit einem Kontrapunktlehrgang begonnen; im Laufe der Zeit erstreckte er sich bis hinein in die Singstimmenbehandlung in italienischer Vokalmusik. Schubert erhielt also, obwohl der Grad an Systematik nachträglich nur schwer einzuschätzen ist, durchaus eine professionelle Kompositionsausbildung, die erst im Dezember 1816, fast zeitgleich mit dem ersten Auszug aus dem Elternhaus, endete, und sie war von Anfang an ein Privileg, das keineswegs jedem Kapellknaben zustand und wohl nur auf Schuberts Ausnahmebegabung zurückzuführen ist. Kurz vorher schon, im April 1816, hatte sich Schubert, freilich erfolglos, um die freigewordene Musikdirektorenstelle an der Lehrerbildungsanstalt in Laibach (heute Ljubljana) beworben und dafür ein knappes, aber überaus positives Zeugnis Salieris mit eingereicht. Schubert hat seinem Lehrer, der ihn zeitweilig auch gemeinsam mit dem aus Graz stammenden Anselm Hüttenbrenner (1794–1868) unterrichtete, lebenslang eine respektvolle Anhänglichkeit bewahrt, die sich zunächst in seinem von ihm selbst textierten Beitrag zur fünfzigjährigen Jubelfeier des Herrn Salieri (D 407, Juni 1816) und später noch in der Widmung der 1821 gedruckten Goethe-Lieder Opus 5 niederschlug.

Schubert hat also, anders als fast alle anderen seiner Freunde aus der Konviktszeit, kein Studium absolviert, sondern – dies nun wahrscheinlich auf Betreiben des Vaters nach dem Abbruch des Konvikts – eine bis zum Sommer 1814 dauernde Präparandenlehre an der k.k. Normal-Hauptschule Sankt Anna (heute 1.Bezirk, Annagasse), die ihn dazu befähigen sollte, als Schulgehilfe und Elementarlehrer an der Schule seines Vaters mitzuwirken. Wie gut, wie engagiert oder wie halbherzig auch immer Schubert diesen Beruf ausgeübt haben mag – fest steht, dass der nach dem Austritt aus dem Konvikt in den Kreis der Familie Zurückgekehrte nach nur drei Jahren, im Herbst 1816, das Elternhaus und den Lehrerberuf wieder verließ, ohne eine sichere berufliche Perspektive in Aussicht zu haben. Über eine Stellungnahme des Vaters oder der Familie zu diesem Schritt ist nichts bekannt. Zwischen dem Herbst 1817 und dem Frühsommer 1818 kehrte Schubert noch einmal für wenige Monate in das Elternhaus und den Schulgehilfendienst zurück, was ihm immerhin den Militärdienst ersparte; spätestens im November 1818 aber zog er endgültig aus, nachdem vorher eine mehrmonatige Anstellung als Hausmusiklehrer des Grafen Johann Karl Eszterházy im ehemals ungarischen Zseliz, heute slowakischen Zseliezovce (Juli bis November 1818) gleichsam den Übergang zum endgültigen Abschied aus dem Schuldienst, vielleicht auch die willkommene Möglichkeit der Flucht vor ihm, gebildet hatte. Nach der Emanzipation von Schuldienst und Elternhaus wohnte Schubert meistens in der Inneren Stadt bei einem seiner Freunde; zweimal aber noch, im Winter 1822/1823 und wieder 1824/1825, scheint er kurzfristig auf einen vorübergehenden Unterschlupf in der elterlichen Wohnung in der Roßau angewiesen gewesen zu sein.

Auf die Konviktszeit geht jenes Phänomen zurück, das seither zur unverkennbaren Signatur von Schuberts Biographie gehört: das enge Eingebundensein in einen künstlerisch und intellektuell anregenden Freundeskreis. Zu diesem Freundeskreis zählten nicht nur Gleichaltrige, sondern auch Ältere; nicht alle Konviktszöglinge nämlich waren Gymnasiasten, sondern manche auch schon Universitätsstudenten. Aber auch bei diesen verschaffte sich der junge Schubert, ausweislich der zahlreich vorliegenden späteren Erinnerungen der Freunde, von Anfang an Respekt, ja neidlose Bewunderung durch seine einzigartige Musikbegabung, die ihn schon früh und ohne jedes Autoritätsproblem bei Abwesenheiten Wenzel Ruzickas zum Stimmführer und damit faktischen Leiter des Konviktsorchesters gemacht hatte. Hinzu kam, dass bereits der Dreizehnjährige mit ersten Kompositionen, vor allem Liedern, Staunen erregte. Zu den Freunden aus der Konviktszeit gehörten unter anderen der für Schuberts Biographie überaus wichtige, bereits studierende Oberösterreicher Joseph von Spaun (1788–1865), der als Ältester der Runde bis zu seiner Rückkehr nach Linz (1821) so etwas wie Schuberts Mentor war, ferner Anton Holzapfel, Albert Stadler und Joseph Kenner.