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Kleine Bibliothek der Weltweisheit
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Arthur Schopenhauer

Die Kunst,
glücklich zu sein

Dargestellt in
fünfzig Lebensregeln

Herausgegeben
von Franco Volpi

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Zum Buch

Arthur Schopenhauers Handbüchlein Die Kunst, glücklich zu sein, ein echtes Kleinod, ist bislang in seinem Nachlaß verborgen und unbeachtet geblieben. Die fünfzig Lebensregeln, aus denen es besteht, finden sich in den Bänden und Konvoluten des Nachlasses zerstreut. Franco Volpi hat die Lebensregeln nun zum ersten Mal nach Schopenhauers eigenem Plan rekonstruiert und herausgegeben. Schopenhauers «Anleitung zum Glücklichsein» liegt damit erstmals als zusammenhängendes Werk vor.

Über den Herausgeber

Franco Volpi (1952–2009) war Professor für Philosophie an der Universität Padua. Er betreute für den Mailänder Verlag Adelphi die italienische Gesamtausgabe der Werke Schopenhauers und die Werkausgabe Martin Heideggers. Zahlreiche Veröffentlichungen, hauptsächlich zur Philosophie der Antike und des 19. und 20. Jahrhunderts. Bei C.H.Beck hat er außerdem herausgegeben: Schopenhauer: Die Kunst zu beleidigen (32008, bsr 1465). Schopenhauer: Die Kunst, mit Frauen umzugehen (22006, bsr 1545). Schopenhauer: Die Kunst, sich selbst zu erkennen (2006, bsr 1719). Schopenhauer: Die Kunst, alt zu werden (2009, bsr 1902). Schopenhauer: Senilia (2010, zus. mit Ernst Ziegler).

Inhalt

Vorwort von Franco Volpi

1. Ein verborgenes Handbüchlein der praktischen Philosophie

2. Plan und Entstehung

3. Die Niederschrift der Abhandlung und deren Rekonstruktion

4. Die vorliegende Ausgabe

[Die Kunst, glücklich zu sein oder] Eudämonologie

Eudämonologie

Anmerkungen

Vorwort von Franco Volpi

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1. Ein verborgenes Handbüchlein der praktischen Philosophie

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Schopenhauer hat bekanntlich seinen Ruhm nicht durch das Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) erlangt, sondern erst durch die späte Sammlung kleiner popularphilosophischer Abhandlungen Parerga und Paralipomena (1851), unter denen die Aphorismen zur Lebensweisheit herausragen. Sein Hang zur literarischen Gattung der Traktatistik und sein Interesse für die praktische Lebensweisheit sind allerdings nicht Früchte des Alters gewesen, sondern schon ziemlich früh in seinem Werk präsent.

Vor allem während der Berliner Zeit – nach dem gescheiterten Versuch, seine Vorlesungen als junger Privatdozent in Konkurrenz zu Hegel zu halten, bis zu seiner Flucht aus der von der Cholera heimgesuchten preußischen Hauptstadt (1831) – hat sich Schopenhauer gerne mit der Niederschrift kleiner Abhandlungen beschäftigt, die er offensichtlich für den eigenen praktischen Gebrauch konzipierte und nicht zum Druck gab. Das bekannteste ist die sogenannte Eristische Dialektik bzw. Die Kunst, Recht zu behalten, die postum aus dem Nachlaß ediert wurde.1 Sie sammelt 38 Kunstgriffe, die dazu dienen sollen, Auseinandersetzungen und Dispute ohne Rücksicht auf die Wahrheit erfolgreich zu führen. Sie bringt einem machiavellische Züge und Schliche bei, mit denen man den Gegner – wie beim Fechten – besiegen kann, egal ob man im Besitz der Wahrheit ist oder nicht.

Die kleine Abhandlung zur Eristik ist nicht die einzige dieser Art. Schopenhauer hat weitere kurze Traktate im gleichen Stil verfaßt, darunter ein Handbüchlein der praktischen Philosophie, das – im Aufbau und in der Gliederung nach Regeln – der Eristischen Dialektik ähnelt. Er nennt es Eudämonologie oder Eudämonik, wörtlich: Lehre von der Glückseligkeit, freier: Die Kunst, glücklich zu sein. Ein echtes Kleinod, das bisher im Nachlaß verborgen und unbeachtet geblieben ist.

Wie erklärt sich aber das mangelnde Interesse für diese Abhandlung, die sich schon beim ersten Blick als ein goldenes Büchlein ausnimmt, als ein wertvolles livre de chevet, dessen sich jeder bedienen kann?

Eine Erklärung wäre, daß man sich ungerne bei einem Meister des Pessimismus Auskunft über Glückseligkeit holt. Kein Wunder also, daß niemand auf den Gedanken kam, im Nachlaß Schopenhauers nach einer Kunst der Glückseligkeit zu suchen. Im Horizont des düsteren Pessimismus, der das Bild Schopenhauers bestimmt hat, war dessen Entwurf einer Kunst, glücklich zu sein, fast unvermeidlich dazu verurteilt, übersehen zu werden. Dem konnte auch die Tatsache kaum entgegenwirken, daß Schopenhauer irgendwann einmal anfing, ausdrücklich Notizen, Maximen und Lebensregeln im Hinblick auf die Niederschrift seiner Abhandlung aufzuzeichnen. Selbst der späte Erfolg der Aphorismen zur Lebensweisheit, die ja zeigen, daß der metaphysische Pessimismus den Bemühungen um ein glückliches Leben nicht im Wege steht, hat zur Beachtung seines Breviers zum glücklichen Leben kaum beigetragen.

Eine weitere, wohl gewichtigere Ursache dafür, daß man Schopenhauers Traktat übersehen hat, ist dessen unvollendeter Zustand. Im Unterschied zur Kunst, Recht zu behalten, die schon im Manuskript als kleine abgerundete Abhandlung erscheint, ist Die Kunst, glücklich zu sein in einem groberen Zustand der Bearbeitung abgebrochen und so belassen worden: die 50 Lebensregeln, aus denen sie besteht, sind zu verschiedenen Zeiten aufgezeichnet worden und finden sich in den zahlreichen Bänden und Konvoluten von Schopenhauers Nachlaß zerstreut. Um sich einen Überblick über die Gesamtgestalt des Handbüchleins zu verschaffen, muß man es zuerst rekonstruieren, also dessen Teile wiederfinden und zusammenstellen. Hinzu kommt der Umstand, daß sich einige Maximen in keiner Ausgabe des Nachlasses finden und deshalb in den Originalhandschriften zu suchen sind. Bedenkt man ferner, daß Schopenhauer die im Hinblick auf dieses Traktat gesammelten Notizen ausgewertet hat, um das 5. Kapitel der Aphorismen zur Lebensweisheit zu verfassen, das eben «Paränesen und Maximen» enthält, so hat man die wesentlichen Gründe vor Augen, weshalb Schopenhauers Kunst, glücklich zu sein bisher keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zog.

2. Plan und Entstehung

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Wie aber erwachte Schopenhauers Interesse für die Lebensweisheit und die praktische Philosophie? Was bewegte ihn dazu, sich mit der menschlichen Glückseligkeit zu befassen und sich Strategien zu ihrer Erlangung auszudenken?

Sein radikaler Pessimismus erstickt jeden Versuch im Keime, seine Philosophie mit dem Gedanken der Glückseligkeit zu assoziieren: diese erscheint ihm als ein für den Menschen unerreichbares Ziel, und selbst der auf menschliches Leben angewandte Begriff der «Glückseligkeit» ist in der Perspektive seiner pessimistischen Metaphysik nichts mehr als ein Euphemismus. Daraus macht der Philosoph keinen Hehl und erklärt am Schluß der Eudämonologie unumwunden: «Die Definition eines glücklichen Daseins wäre: ein solches, welches, rein objetive betrachtet, – oder (weil es hier auf ein subjektives Urteil ankommt) bei kalter und reifer Überlegung, – dem Nichtsein entschieden vorzuziehen wäre. Aus dem Begriff eines solchen folgt, daß wir daran hingen seiner selbst wegen; nicht aber bloß aus Furcht vor dem Tode; und hieraus wieder, daß wir es von endloser Dauer sehn möchten. Ob das menschliche Leben dem Begriff eines solchen Daseins entspricht oder entsprechen kann, ist eine Frage, die bekanntlich meine Philosophie verneint». Er fügt allerdings hinzu: «Die Eudämonologie setzt jedoch deren Bejahung ohne weiteres voraus».2 Mit anderen Worten: das philosophische System ist eine Sache, die praktische Lebensweisheit eine andere.

Man soll also nicht von vornherein jede Hoffnung aufgeben und darauf verzichten, sich der Lebensregeln, Maximen und Ratschläge der praktischen Klugheit zu bedienen, um den Widrigkeiten und Schwierigkeiten, die uns das Leben zur Genüge beschert, entgegenzuwirken. Gerade aus der pessimistischen Überzeugung, daß das Leben des Menschen zwischen Schmerz und Langeweile schwankt, daß folglich diese Welt nichts anderes sei als ein Jammertal, fordert Schopenhauer uns auf, sich in dieser Lage eines wertvollen Werkzeugs zu bedienen, das uns Mutter Natur zur Verfügung stellt: der menschlichen Erfindungsgabe und der praktischen Klugheit. Es gilt also, Verhaltens- und Lebensregeln zu finden, die uns bei der Abwendung von Übeln und Schicksalsschlägen helfen, in der Hoffnung, daß wir, wenn nicht das unerreichbare vollkommene Glück, doch wenigstens jene relative Glückseligkeit erlangen können, die in der Abwesenheit des Schmerzes besteht.

In diesem Zusammenhang bieten Philosophen, Klassiker der Weltliteratur, namentlich französische und spanische Moralisten, ein breites Repertoire an Möglichkeiten und erfüllen mit ihren Sprüchen und Sentenzen eine wichtige paränetische Funktion: trösten, beraten, erziehen. Durch die intensive Beschäftigung mit griechischen und lateinischen Klassikern, mit den großen Philosophen aller Zeiten, die er als magistri vitae liest, und durch das Studium der indischen Weisheit lernt Schopenhauer die Philosophie nicht nur als theoretisches Wissen zu schätzen, sondern auch als Lebensform und geistige Übung; nicht nur als reine weltabgeschiedene Erkenntnis, sondern ebenso als praktische Lehre und Lebensklugheit. Kurzum, das philosophische Denken ist für ihn nicht nur docens, sondern ebenso utens, also nicht nur Theorie, sondern auch «Katharsis», Purifikation, Reinigung des Lebens, die die Rettung des Menschen aus seiner Verfallenheit an die Welt und an den Willen anbahnt.

Schopenhauer richtet sein Augenmerk relativ früh auf die Tradition der Philosophie als praktische Lebensweisheit. Bereits 1814 schreibt der 26jährige Denker in einer Aufzeichnung: «Des Aristoteles Grundsatz, in allen Dingen die Mittelstraße zu halten, paßt schlecht zum Moralprinzip, wofür er ihn gab: aber er möchte leicht die beste allgemeine Klugheitsregel sein, die beste Anweisung zum glücklichen Leben.»3 Im gleichen Jahr findet dann der junge Philosoph eine beinahe definitive Formulierung für die Grundintuition, auf der seine Lehre von der Lebensweisheit basiert, d.h. die negative Auffassung der Glückseligkeit als bloße Abwesenheit des Schmerzes: «Da nun allein das Anschauen beseligt, und im Wollen alle Qual liegt; jedoch aber, so lang der Leib lebt, ein gänzliches Nichtwollen unmöglich ist, weil er dem Gesetz der Kausalität unterworfen ist, jede Einwirkung auf ihn aber notwendig Wollen herbeiführt: so ist die wahre Lebensweisheit, daß man überlege, wieviel man unumgänglich wollen müsse, wenn man nicht zur höchsten Asketik, die der Hungertod ist, greifen mag: je enger man die Grenze steckt, desto wahrer und freier ist man: daß man ferner dies beschränkte Wollen befriedige, darüber hinaus aber keinen Wunsch sich erlaube und nun frei die größte Zeit des Lebens als rein erkennendes Subjekt zubringe. Dies ist das Prinzip des Kynismos, der insofern unbestreitbar ist.»4

Zu diesen philosophischen Gründen kommen weitere Motivationen biographischer Art. Wir wissen, daß sich Schopenhauer unter dem Druck und dem Schmerz der Enttäuschungen seiner ersten Berliner Jahre um so intensiver mit dem Problem der Lebensweisheit in praktischer Hinsicht beschäftigte. Die Welt als Wille und Vorstellung blieb zunächst ohne Erfolg. Die versuchte akademische Laufbahn scheiterte im ersten Ansatz durch die zähe und verbitterte Auseinandersetzung mit Hegel und der Universitätsphilosophie seiner Zeit. Daher das Bedürfnis, Ratschläge und Hilfsmittel, die die Lebensweisheit empfiehlt, zur Milderung des eigenen Leidens und Unglücklichseins anzuwenden.

Aus all diesen Gründen fing Schopenhauer seit 1822 an, ziemlich regelmäßig Sprüche, Maximen, Apophthegmen, Lebensregeln von Denkern und Schriftstellern in einem eigens dafür vorgesehenen Heft aufzuzeichnen, um sie dann für sich und bei der Niederschrift seiner Werke auszuwerten. Man kann sogar genauere Mutmaßungen anstellen bezüglich des Vorhabens, eine Kunst der Glückseligkeit in Form eines Katalogs von Verhaltensregeln zu konzipieren. Der Plan hierzu entstand vermutlich in Zusammenhang mit der Lektüre von Baltasar Graciáns Oráculo manual.

Wir erfahren von der Entdeckung des spanischen Jesuiten, Meister des sogenannten «Konzeptismus», aus einem Brief, mit dem sich Schopenhauer einige Jahre später, am 16. April 1832, an den bekannten Hispanisten Johann Georg Keil wenden sollte, um ihn zu bitten, ihm bei der Suche eines geeigneten Verlegers für seine Übertragung des Oráculo manual behilflich zu sein. Er erzählt, er habe 1825 Spanisch gelernt und er könne nun ohne Mühe Calderón lesen. Wir wissen, daß er ungefähr zur gleichen Zeit auch Cervantes und Lope de Vega gründlich las. In dem genannten Brief teilt er Keil mit, er habe seit kurzem den «philosophischen Gracián» gelesen und ihn sofort zu seinem «Lieblingsschriftsteller» erkoren. Kurz darauf entschloß er sich dazu, die ersten 50 Maximen des Oráculo manual ins Deutsche zu übersetzen und bot sie dann dem Verleger Brockhaus an.5

Es ist nun kein Zufall, daß Die Kunst, glücklich zu sein, so wie sie rekonstruiert werden kann, genau 50 Lebensregeln enthält. Diese sind, wie bei Gracián, als Maximen nach französischer Art aufgefaßt und formuliert: also als Betrachtungen, Überlegungen und Bemerkungen, die etwas länger sind als der Spruch, die Sentenz oder der Aphorismus, und in einer Anweisung oder pädagogischen Beratung und Aufforderung bestehen, die gegebenenfalls durch einen kurzen Kommentar erläutert wird, der seinerseits aus einem moralphilosophischen Argument besteht oder ein Beispiel anbietet.

Auch was den philosophischen Inhalt der Lebensregeln betrifft, lassen sich Vergleichsbetrachtungen zwischen Schopenhauer und Gracián anstellen. Etliche Lebensregeln Schopenhauers greifen entsprechende Maximen Graciáns auf. Man entdeckt immer wieder Andeutungen und Verweise, man stößt auf direkte Zitate und Ausdrücke – etwa desengaño –, die weitere Belege dafür liefern, daß Schopenhauer bei der Niederschrift seiner Eudämonologie sich Gracián als Vorbild vor Augen hielt.

Überhaupt war die Weltanschauung des spanischen Jesuiten derjenigen Schopenhauers so ähnlich, daß dieser bei der Lektüre des Handorakels auf Schritt und Tritt Bestätigungen für seine Denk- und Lebensweise fand. Beide standen und lebten auf der festen Grundlage eines desillusionierten Pessimismus und hatten darauf eine Individualethik und Lebensweisheit gegründet, deren Ratschläge bei der Lebensbewältigung Orientierung bieten sollten.

3. Die Niederschrift der Abhandlung und deren Rekonstruktion

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