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Inhalt

Vom Hammarvatnet in die Sargassosee

Die Ballade vom alten Seemann

Die Durif-Methode für den »norwegischen« Aal

Baskischer Glasaal in Olivenöl

Europas »Elfenbeinhandel« mit Aal

Zuchtaal – eine Art Anguilla frankensteini?

Im eigenen Spiegelbild ertrinken

Die letzte Aalgilde?

Aalfestival und Aal in Gelee

»Panta rhei«: Lasst den Fluss leben

Zurück zum Hammarvatnet

Comacchio – Lillesand 30 °C

Quellen und Bücher zum Weiterlesen

Dank

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Die Durif-Methode für den »norwegischen« Aal

logo.jpgUm kurz vor sieben finde ich mich am Kai der Meeresforschungsstation Flødevigen in Arendal ein. Die Berufsfischerin Lise Fløistad Andersen und ihr Sohn warten bereits an der Anlegestelle. Reidun Bjelland und Caroline Durif vom Havforskningsinstitutts hoffen auf einen großen Fang. Die beiden Meeresforscher sind skeptisch. Letztes Jahr gab es an fünf Stellen ein erstes Aaltestfischen unter wissenschaftlicher Aufsicht. Die Ergebnisse waren ziemlich mager.

»Aber ich weiß nicht, ob die Schleppnetze an der richtigen Stelle ausgebracht wurden«, zwinkert mir Lise zu. Sie nimmt die Forscher auf den Arm. Es ist offensichtlich, dass sie vieles weiß, was die Forscher nicht wissen – sie versteht ihr Handwerk eben, und das ist die Fischerei. Gute Wissenschaftler sind nicht unbedingt auch gute Fischer.

Genau aus diesem Grund haben das Havforskningsinstitutt und Caroline Durif 30 Berufsfischer aus Südnorwegen überredet, am Forschungsfischereiprogramm mitzuarbeiten. Die Forschung ist auf die Sachkenntnisse der Fischer angewiesen ist, endlich arbeiten Fischerei und Wissenschaft zusammen.

Die Fischer dürfen insgesamt 20 Tonnen Aal fangen und davon einen Großteil verkaufen. Der Rest geht an die Forscher, die die Aale vermessen und wieder auszusetzen; einige werden seziert. Vorläufig hat die Sache noch einen kleinen Haken für die Fischer, denn sie dürfen den Fang nur auf dem norwegischen Markt und nicht im Ausland verkaufen, und in Norwegen gibt es kaum eine Nachfrage nach Aal – wie übrigens auch nicht mehr nach Hering. Aber 20 Tonnen sind nicht andererseits auch so viel, wie es sich anhört. Und für Lise geht es ohnehin nicht um große Gewinne bei ihrer Entscheidung, an dem Programm teilzunehmen.

»Das Ganze bringt ein bisschen Extrageld, natürlich, aber es ist vor allem unglaublich interessant. Es ist gut, wenn die Kenntnisse aus der Praxis angewandt werden.«

Caroline Durif ist eigentlich Französin und mitten in der Metropole Paris aufgewachsen. Sie studierte Biologie und verbrachte ein Großteil ihrer Zeit im naturgeschichtlichen Museum in Paris. Heute wohnt sie nicht mehr in Frankreich und auch nicht mehr in einer Großstadt, sondern weit draußen auf Austevoll, einer Insel vor Bergen, eine Stunde Fahrzeit mit der Schnellfähre entfernt. Die Wahl ihres Wohnorts hat mit ihrem Forschungsschwerpunkt zu tun, dem Aal. Carolines zwei Kinder sprechen inzwischen den Austevoll-Dialekt, wie sie selbst auch, mit französischem Akzent. Ich muss natürlich an meine Familie denken, an meine Mutter, die aus London nach Frøya kam. Dass ich zwar auf Frøya aufgewachsen bin, mich dort aber nie als Einheimischer gefühlt habe. Vielleicht geht es Carolines Kindern ähnlich wie mir damals. Auch wenn sie auf einer Insel an der norwegischen Küste leben, werden sie wissen, dass es außerhalb ihrer Welt Millionenstädte gibt, dass das eine ganz andere Welt ist. Vielleicht ist man in einer Millionenstadt manchmal sogar einsamer als auf einer Insel an der norwegischen Küste.

Mein 15 Jahre älterer Bruder hatte mal eine französische Freundin, die aus Arcachon stammte. Zu der Zeit lebte ich noch auf Frøya. Sie hat uns ein paarmal auf der Insel besucht, auf, und ich war einmal in Arcachon, gelegen vor einer Lagune, perfekte Bedingungen für die Austernzucht. Wahrscheinlich auch für Aale. Aber kaum ein Franzose weiß – und ich wusste es auch nicht, als ich in Arcachon war –, dass in Frankreich die meisten Aale in Europa gefischt werden. Aber wie in Norwegen wird der Großteil davon exportiert.

Auf Austevoll hat Caroline einen Schuppen errichtet, in dem sie Glasaale in großen Wannen hält. Sie untersucht, wie sich Alle am Erdmagnetfeld orientieren. Ihre vorläufigen Ergebnisse haben über Fachkreise hinaus internationales Aufsehen erregt. Im Juni 2017 veröffentlichte die New York Times einen ausführlichen Artikel über sie und ihre Arbeit. Caroline ist unbestritten eine der führenden Aalexpertinnen Norwegens; bei der jährlichen internationalen Tagung zum Thema Aale des ICES (International Council for the Exploration of the Sea) repräsentiert sie Norwegen.

Im Schuppen auf Austevoll verändert Caroline das Magnetfeld in der Strömung des Wassers und beobachtet, wie sich die Aale danach orientieren. Sie fand heraus, dass die kleinen Glasaale und Aallarven einen angeborenen inneren Kompass besitzen, der Faktoren wie Tiden, Strömung und Sonne/Mond berücksichtigt. Das ist interessant, wenn man an die große, verborgene Reise der kleinen Aallarven mit dem Golfstrom denkt, und wie sie rechtzeitig von diesem Strom »abspringen« und sich durch einen der vielen Zehntausend Süßwasserläufe am Mittelmeer, auf den Britischen Inseln, an der Ostsee und am Nordmeer vorarbeiten. Wie schaffen sie es den richtigen Fluss zu finden, da sie doch die Reise zum ersten Mal machen? Wie es ist möglich, dass sie genau dort landen, von wo ihre Väter und Mütter einst aufgebrochen sind? Und dann noch die Länge der Reisen: Als ausgewachsene Aale aus den Süßwasserlebensräumen zurück ins große Meer, hinunter in die tiefsten Tiefen des mystischen Sargassomeers; als Larven und Glasaale den Weg aus der Sargassosee heraus und dorthin zurück, woher die Eltern kamen – diese Wanderungen gehören zu den faszinierendsten in der Tierwelt.

Zusätzlich zum eingebauten Kompass, der trotz aller möglichen Manipulationen wundersamer Weise stets den richtigen Weg weist, haben die kleinen, durchsichtigen Glasaale auch eine Art Gezeitenuhr. Die Gezeitenuhr und das Sensorium für das Erdmagnetfeld befähigen diese kleinen, so zerbrechlich aussehenden Fischchen, aufs Genaueste zu navigieren.

Caroline hat außerdem eine Methode entwickelt, mit der sie das Reifestadium der Aale bei deren Wandlung vom Gold- zum Blankaal feststellt. Die Durif-Methode besteht vereinfacht gesagt darin, Augen, Körperlänge und Flossen zu vermessen.

Wir fahren also heute mit einer weltberühmten Aalforscherin hinaus aufs Meer. Es ist aber keine überheblich wirkende Wissenschaftlerin, die hier neben uns sitzt, sondern eine neugierige Zuhörerin, die durchaus zupacken kann.

»Ja, natürlich habe ich schon Aal gegessen«, sagt sie. »Schmeckt mir gut.« Lise hat auch schon Aal probiert, kann dem Geschmack aber weniger abgewinnen. Lises Sohn und Reidun rümpfen nur die Nase – sie haben weder Aal probiert noch haben sie es vor.

Reidun Bjelland beschäftigt sich eigentlich mit Lippfischen. Heute fungiert er als Carolines Assistent. Nachdem das Boot abgelegt und Reidun das Thema aufgebracht hat, diskutieren wir schon eine ganze Weile darüber, ob Fleischkonsum ethisch zu rechtfertigen ist. Caroline sagt, dass sie kaum einen Unterschied zwischen Gänseleber und gewöhnlicher Leberpastete aus der Dose im Supermarkt feststellen kann. Sie bekennt freimütig, dass sie beides sehr lecker findet.

»Mag ja sein, aber kann man es verantworten, dafür die Ethik über Bord zu werfen?«, fragt Reidun. Darauf gibt es keine einfache Antwort. Das Verhältnis zwischen Natur, Fleischkonsum und Ethik ist komplex. Caroline weiß zu berichten, dass Aal auf dem Speiseplan der amerikanischen Ureinwohner gestanden habe, frisch wie geräuchert. Als die Pilgerväter 1621 am Plymouth Rock in Massachusetts angelandet und ihre Vorräte zur Neige gegangen waren, half ihnen ein Indianerhäuptling, indem er ihnen zeigte, wie man Aale fängt und zubereitet. Daher habe es einst den Vorschlag gegeben, an Thanksgiving statt des obligatorischen Truthahns lieber Aal auf den Tisch zu bringen.

Und schon sind wir bei kabayaki – die japanische Art, Aal (unagi) zu servieren. Gerade diesen Fisch kann man auf sehr viele Arten zubereiten, in fast allen Ländern gibt es besondere Aalgerichte, von denen Caroline viele probiert hat. Eine Wissenschaftlerin, die Aal, ihren Forschungsgegenstand, auch kulinarisch wertschätzt – während die anderen im Boot sich vor Aalen ekeln. Anders als vermutlich viele ihrer norwegischen Kollegen, die mitunter ein sehr vereinfachendes, ideologisch einseitiges Verhältnis zur Natur haben – im Sinne von: es gibt nur Gut oder Böse, Schwarz oder Weiß –, worin sich nicht selten ein ähnliches Maß an Engstirnigkeit zeigt wie im Naturkundeunterricht in meiner Schulzeit, hat Caroline nicht die Absicht, auf diese Delikatesse, die es in ihren Augen ist, zu verzichten.

Warum ich von diesem Geplänkel an Bord hier so ausführlich berichte? Weil ich es wichtig finde, dass Wissenschaftler die Natur auch als Nahrungsquelle, also auch unter dem Gesichtspunkt der Nutzung und nicht nur unter dem des Naturschutzes, sehen. Wenn man sich einer bestimmten Sache oder einem Thema intensiv widmet, kann man leicht den Überblick verlieren – ja, man kann, wie Einar Blix oder Asgeir Alvestad es ausdrücken würden, »kurzsichtig« werden. Caroline Durif ist in dieser Beziehung in meinen Augen ein positives Gegenbeispiel. Als Spezialistin in ihrem Fachgebiet, in dem sie zu den führenden Kapazitäten weltweit gehört, verliert sie dennoch nicht das große Ganze aus den Augen, sondern bleibt offen für das, was man Komplementärwissen nennen könnte.

Whow! Es klingt wie ein Fanfarenstoß, den wir alle fünf im Boot unisono ausstoßen, als Lise das Schleppnetz einholt und wir sehen, was sich darin an Leben bäumt und windet.

Als sie das Ende des Netzes über Wanne öffnet, quellen Aale, Lippfische, Strandkrabben und etliche Kleinfische heraus, dazu ein kleiner Dorsch. Reidun sortiert rasch den Beifang aus, während Lise und ihr Sohn das Netz an Ort und Stelle sogleich wieder ausbringen. Hier, vor der Mündung des Nidelva, ist das Wasser flach und nährstoffreich, die vielen Schären und reichlich Aalgras bieten zahlreiche Verstecke.

Die Stimmung an Bord ist heiter und gelöst, wie gewöhnlich beim Fischen, wenn der Fang gut ist. Die Wissenschaftler sind überrascht über die Anzahl der Aale im Schleppnetz, im Gegensatz zu Lise, die das bereits vorausgesagt hatte.

»Ist ein ganz guter Platz hier«, sagt sie und grinst.

Die Besatzung setzt sich aus zwei deutlich voneinander unterschiedenen Teams zusammen: die Fischer in orangefarbenem Ölzeug, die Forscher in blauem. Ich selbst sitze im Bug und beobachte. Die Wissenschaftler haben zu tun, die Fischer machen unterdessen Pause und schauen zu. Es ist sehr anstrengend, mit Aalen zu hantieren, weil sie nicht nur glitschig, sondern auch sehr kräftig sind und sich selbst dem stärksten Griff entwinden. Aber die Forscher haben herausgefunden, dass man sie mit einer kleinen Dosis Nelkenöl soweit ruhigstellen kann, dass sie sich auf das Maßband legen und eine PIT-Marke – eine magnetische Identifikationsmarke – in die Bauchhöhle schieben lassen. Nachdem der Aal gewogen und vermessen ist, darf er wieder ins Wasser zurück. Ein paar Sekunden wirkt er wie tot, die Möwen, die über uns kreisen, kommen ihm schon gefährlich nahe. Aber dann erwacht er zum Leben und schwimmt – oder besser gesagt: aalt sich – hinunter in den Schutz des Aalgrases.

Einer der Aale hat eine Bissnarbe hinten am Körper, vermutlich von einem Seevogel, einer Scharbe, meint Caroline. »Gute Reise nach Sargasso!«, rufe ich den Aalen nach, die wir aussetzen. Die Forscher lachen. Lise fragt: »Ja, glaubst du?« Als ob sie nicht so ganz überzeugt ist, dass diese Aale sich wirklich auf die weite Reise begeben.

Bis zum frühen Nachmittag haben wir sechs Netze an Bord gezogen, jetzt muss Lise los, um Lippfische auszuliefern. Insgesamt haben wir 160 Aale registriert, gemessen, gewogen und viele davon markiert. Alle Schleppnetze, die wir ausgebracht haben, waren voll.

Das Fanggebiet, in dem wir gefischt haben, ist ziemlich überschaubar, und Caroline und ich gehen davon aus, dass, wenn sich schon in diesen sechs Netzen zusammen 160 Exemplare fanden, es auf dem Meeresgrund vor Aalen wahrscheinlich nur so wimmelt.

»Das ist ein gutes Fanggebiet. Früher wurden hier Tausende Schleppnetze zum Aalfischen ausgebracht«, betont Lise noch einmal. Caroline ist vom Fangergebnis positiv überrascht. Sie stellt eine Ad-hoc-Hypothese auf: »Ich glaube, dass nicht alle diese Aale aus dem Fluss kommen, viele werden sich hier im Seewasser vor der Mündung dauerhaft aufhalten, weil es nährstoffreich und einfach ein gutes Revier für sie ist.« Genau das wird sie jetzt weiter erforschen. Unter anderem, indem sie die Otolithen der Aale studiert, die »Steine« in ihren Ohren.

Während wir allein an Bord hantierten, hat Caroline erklärt, worin der Unterschied zwischen den laichbereiten Aalen und solchen, die es noch nicht sind, besteht. Die zum Laichen bereiten Aale, die wieder auf dem Weg zurück ins Meer sind, haben vergrößerte Augen. Der Unterschied ist deutlich. Von kleinen goldenen Augen zu großen blauen Augen. Auch die Kopfform ist verändert, die abwandernden Aale haben eine spitzere Schnauze. Der wichtigste Unterschied ist aber der, den die Wissenschaft schon lange kennt: die Hautfarbe. Süßwasseraale sind ursprünglich gelblich, mit einem braunen Rücken. Daher nennt man sie auch Gelbaal. Wenn sie ins Meer zurückwandern, werden sie heller, entweder ganz weiß oder weiß mit einem graueren oder schwarzen Rücken. Die Haut ist auch zäher und fester. Sie werden dementsprechend Blankaal oder Silberaal genannt. Die meisten, die wir heute gefangen haben, waren noch ziemlich klein, eindeutig Gelbaale mit kleinen Augen und der abgerundeten Schnauze. Aber wir hatten auch einige Blankaale dabei, erkennbar an ihren vergrößerten Augen und der spitzen Schnauze. Bei den Gelbaalen ist Caroline sich nicht sicher, ob sie alle aus dem Süßwasser kommen oder ob sie ganz einfach hier in diesem Gebiet leben. Sie erzählt, dass die letztjährige Markierungsaktion, durch die sie die Aalwanderung von hier aus ins Meer verfolgen konnten, ergeben hat, dass die Aale »schubweise« aus der Flussmündung ein wenig nach draußen wandern, sich jeweils eine Zeit lang aufhalten, bevor sie im immer salzigeren Wasser in zunehmender Tiefe weiterwandern. Caroline ist eine gewissenhafte Forscherin, zu klug, um Antworten zu präsentieren, bevor sie die entsprechende Fragen wirklich abschließend geklärt hat.

Nachdem wir wieder in Flødevigen angelegt haben, geht es vom Boot gleich ins Labor – nach dem Fischen kommt das Forschen. Caroline und Reidun stehen inmitten von weißen Plastikschieblehren, Skalpellen, Pinzetten, Plastikschalen, Trockenwalzen und jeder Menge Messinstrumenten. Einen Teil der Aale wollen sie sezieren. Der Mageninhalt wird überprüft, ebenso die Schwimmblase, in der sich zahlreiche Schwimmblasenparasiten der Art Anguillicola crassus nachweisen lassen. Das ist ein ursprünglich asiatischer Parasit, der in Ladungen lebender Aale aus Asien überall in Europa eingeschleppt worden ist, auch in norwegische Gewässer, wo er seit den 1980er-Jahren auftritt. Einige Forscher glauben, dass solche Parasiten die Tauchfähigkeit der Aale beeinträchtigen und einer der Gründe für den Rückgang des Aals sind. Sie vermuten, dass die von diesem Parasiten befallenen Aale den Weg in die Sargassosee nicht schaffen.

Aber Schwimmblasenparasiten, die oft selbst wie winzig kleine Aale aussehen, sind in Wirklichkeit nichts Neues. Tom Fort beschreibt in seinem Book of eels, wie der Forscher Francesco Redi im Italien des 17. Jahrhunderts eine bis dahin allgemeine Annahme widerlegte: dass die Aalbabys im Magen der Mutter lebten. Redi, ein Philosoph und Arzt, der auch auf dem Gebiet der Parasitologie forschte, fand heraus, dass die Wesen im Magen Parasiten sind. Er beschrieb – zum ersten Mal seit Aristoteles’ schon ziemlich zutreffender Erklärung –, wie die ausgewachsenen Aale aus den Flüssen ins Meer abwanderten. Er hatte behauptet, dass die Aale hier laichen und dass die kleinen Aallarven dann wieder in dieselben Süßwassergewässer zurückschwämmen. Alles beruhte auf Empirie und stimmt daher mit dem Zyklus der abwandernden Gelbaale und Blankaale und den kleinen Aalen, die denselben Weg zurückschwimmen, überein. Dass die Sargassosee ihr Ursprung und Ziel war, daran dachte noch niemand. Das fand der dänische Biologe Johannes Schmidt erst in den 1920er-Jahren heraus. Nachdem Redi schon im 17. Jahrhundert Schwimmblasenparasiten im Mittelmeer beschrieben hat, wirkt die Erklärung, die Aalbestände seien möglicherweise wegen des asiatischen Schwimmblasenparasiten zurückgegangen, ein bisschen dünn – auch wenn Letzterer im Gegensatz zu den laut Redi bereits zuvor vorhandenen Arten »neu eingeschleppt« ist. Darauf hat die Forschung vorläufig noch keine befriedigende Antwort.

18 Prozent der Aale, die Reidun und Caroline an diesem Tag sezieren, sind mit Schwimmblasenparasiten infiziert. Diese Parasiten finden sich bei Aalen eigentlich nur in ihrem Süßwasserleben beziehungsweise noch kurze Zeit nach ihrem Übertritt ins Salzwasser. Daraus lässt sich folgern, dass mindestens diese 18 Prozent erst kürzlich aus Flüssen in der unmittelbaren Nähe gekommen sind. Was so etwas wie einen Gegenbeweis zu Carolines Vermutung darstellen würde, dass Aale womöglich auch dauerhaft im Schärengürtel leben. Gleichwohl ist aber immer noch nicht ausgeschlossen, dass es hier eine relativ große Anzahl Aale gibt, die nicht aus den Süßwassergewässern in der Nähe gekommen sind. Kann es sein, dass einer der Gründe dafür, dass es so viele Aale hier im Meer an der Sørlandsküste gibt, der ist, dass einige von ihnen lieber in diesem günstigen Lebensraum bleiben, anstatt die gefahrvolle Reise die Flüsse hinauf zu wagen, wo Hindernisse, Regulierungen und mit Tod durch Schreddern drohende Turbinen auf sie warten? Und wenn dem so sein sollte, woher wissen sie, was ihnen bevorsteht? Wie wird so etwas kommuniziert, oder wird es intuitiv erfasst?

Ein anderer interessanter Gedanke kommt einem, wenn man sich die klassischen Illustrationen zu Aalwanderungen aus der Ostsee anschaut. Caroline holt einige Studien und Karten auf den Bildschirm. Die Punkte und Strecken, die zeigen, wo markierte Aale sich bewegt haben, bilden Linien. Alle Aale aus Schweden, Finnland, dem Baltikum, Polen, Russland, dazu einige aus Deutschland sowie die von der dänischen Ostküste scheinen auf ihrem Weg in die Sargassosee derselben Wanderungsroute zu folgen. Sie schwimmen zunächst bis an die norwegische Küste – aus der Ostsee – und folgen ihr dann weit hinauf, vorbei an der Sørlandsküste, wo wir uns gerade aufhalten, und fast bis nach Frøya. Dort biegen sie ab, ziehen nördlich, dann westlich an den Britischen Inseln vorbei und nehmen mit dem Golfstrom – oder richtiger: dem Nordäquatorialstrom – Kurs in die Sargassosee. Es sieht also so aus, als ob ausgerechnet die beiden Orte auf der Welt, die ich Heimat nennen würde – Lillesand und Frøya –, die beiden wichtigsten »Hotspots« für Aale sind.

Reidun setzt einen Schnitt in den Kopf eines toten Aals und fischt geschickt und sicher zwei pfenniggroße Steinchen heraus, die zu beiden Seiten des Aalhirns sitzen: die Otolithen. Sie dienen als eine Art Fahrtenschreiber. In vergrößerten und eingefärbten Aufnahmen kann man deutliche Jahresringe erkennen, wie in einem Baumstamm. Wir sind uns einig: Die Aufnahmen in verschiedenen Blautönen sind wunderschön, reine Kunst. Später im Winter postet Carolin ein Foto, das einen vereisten Tümpel auf einer Schäre vor Austevoll bei Ebbe zeigt. Es sieht genauso aus wie der Otolith mit den blauen konzentrischen Ringen.

Dass der Fang bei unserem Fischzug so reichlich ausfallen würde, hatten die beiden Wissenschaftler nicht erwartet. Liegt es daran, dass sie Berufsfischer – die immer gesagt haben, es stehe »gut um den Aal« – für sich arbeiten lassen? Oder daran, dass der Aal seit 2010 in Norwegen unter Naturschutz steht? Sind unter diesen Aalen möglicherweise auch zugewanderte aus der Ostsee? Ist die norwegische Küste ganz einfach eine der aalreichsten Europas? Und ist es wirklich widersinnig, dass sich die Norweger am wenigsten um den Aal kümmern, oder rührt das gerade daher, dass es hier so viele gibt?

Caroline weist darauf hin, dass langjährige Beobachtungsfangserien in den Flüssen das Gegenteil dessen belegen, was wir hier vorfinden. Für die Imsa, einen mittelgroßen Fluss nahe Stavanger, liegen verlässliche Zahlen aus vielen Jahren vor. Das Norsk institutt for naturforskning (NINA) betreibt hier seit 1975 eine Forschungsstation mit einer Fischfalle, in der man die stromauf und stromab wandernden Fische registriert: Lachse, Forellen und Aale. Auch wenn das nur ein Fluss unter vielen ist und von einem Flusssystem zum anderen große Unterschiede bestehen (unser heutiger Fang könnte darauf hindeuten), liefert seine Fangstatistik jedenfalls Tendenzen für die Entwicklung des norwegischen Aalbestands.

Was den Forschern bei der Station an der Imsa am meisten ins Auge fällt, ist der ausgeprägte Rückgang sowohl bei den stromauf wandernden Glasaalen und Steigaalen wie bei den stromab wandernden Gelbaalen und Blankaalen. Den größten Rückgang gab es bei den Glasaalen und Steigaalen. Als die Zählungen in den 70er-Jahren begannen, wanderten jährlich bis zu 50 000 kleine Aale die Imsa hinauf. In den letzten Jahren sind es im Durchschnitt nur mehr rund 2000. Es gibt gewaltige Schwankungen von Jahr zu Jahr; bis jetzt ist kein Zyklus oder Rhythmus in den Aalwanderungen erkennbar. 2014 zählten die Biologen über 8000 Steigaale, aber 2011 waren es erschreckender Weise lediglich fünf Stück, 2017 dann wieder etwas mehr als 600. Aber der allgemeine Trend zeichnet sich deutlich ab und scheint mit den Zahlen aus dem Rest Europas übereinzustimmen: Von den 80er-Jahren an sinkt die Kurve, wenn man die Bewegung der stromauf wandernden Steigaale und der stromab wandernden Blankaale aufzeichnet – wenn auch beim Blankaal in geringerem Maß, was wohl einfach ein Verzögerungseffekt ist. Es ist schwierig vorherzusagen, wann die Blankaale abwandern, wie lange ein abwandernder Blankaal im Süßwasser gelebt hat, wie viele insgesamt im Süßwasser leben, ob sie vielleicht woanders herkommen, wie hoch die Überlebensrate allgemein bei abwandernden Aalen ist – und nicht zuletzt, wie viele den ganzen Weg bis in die Tiefen der Sargassosee schaffen, und wie viele von diesen es dann auch noch schaffen, sich zu vermehren.

Unabhängig davon, wie viele ausgewachsene Aale wir hier in unseren Gewässern sehen, spricht die schwindende Anzahl neu hinzukommender Glasaale und Steigaale für eine negative Entwicklung des Bestands.

Ich denke an den Haufen geschredderter Aale auf dem Foto mit Frode an der Storelva. Das Wasserkraftwerk gibt es noch gar nicht so lange, und wie viele Flüsse und Wasserläufe sind mittlerweile alle begradigt, ausgebaut und reguliert. Vielleicht hat Carolines Theorie etwas für sich, dass der Aal anfängt, die Flüsse zu meiden, und sich neuen Lebensraum in den Schären und Fjordsystemen sucht. Nach Millionen von Jahren ohne spürbare menschliche Eingriffe in die Natur passt sich der Aal möglicherweise an die enormen menschengemachten Veränderungen an.

Die Internationale Rote Liste der International Union for Conservation of Nature (IUCN) wird mit wissenschaftlicher Genauigkeit und ohne Rücksichtnahme auf politische oder andere Interessen mit dem Anspruch globaler Geltung erstellt. Sie bildet auch die Grundlage für die stärker variierenden – und ihr oft widersprechenden – nationalen Roten (oder Schwarzen) Listen. Sie unterscheidet die folgenden Gefährdungskategorien der einzelnen Arten:

Least Concern (LC– Nicht gefährdet. Zahlreich und lebenskräftig.

Near Threatened (NT) – Potentiell gefährdet. Weniger zahlreich. Gefährdung möglich.

Vulnerable (VU Gefährdet. Hohes Risiko, zu einer bedrohten Art zu werden.

Endangered (EN) – Stark gefährdet. Risiko des Aussterbens in der Natur.

Critically Endangered (CE) – Vom Aussterben bedroht. Sehr hohes Risiko des Aussterbens in der Natur.

Extinct In The Wild (EW) – In der Natur ausgestorben, es gibt aber noch Exemplare in Gefangenschaft.

Extinct (EX) – Nach dem Jahr 1500 ausgestorben (es gibt auf der Welt kein lebendes Exemplar mehr).

Es gibt drei Hauptgruppen in der Roten Liste der IUCN: eine für nicht gefährdete Arten mit lebenskräftigen Beständen, eine mit verschieden stark gefährdeten Arten und eine mit bereits ausgestorbenen Arten, die es entweder in Freiheit nicht mehr oder überhaupt nicht mehr gibt. Wenn man diesen Punkt erreicht hat, gibt es natürlich keinen Weg mehr zurück. Es gibt innerhalb der drei Hauptgruppen der Roten Liste wiederum drei genau definierte Stufen der Gefährdung: »Gefährdet«, »Stark gefährdet« und »Vom Aussterben bedroht«. Der Aal (Anguilla anguilla) wird auf der Internationalen Liste der IUCN als vom Aussterben bedroht eingestuft, was bedeutet, dass er bald in freier Wildbahn ganz verschwinden könnte. Dann wäre er »In der Natur ausgestorben« – das heißt, dass sich nur noch in Gefangenschaft Exemplare finden.

Wenn wir es so weit kommen ließen, wäre der Aal in der Praxis komplett ausgestorben, denn es ist noch niemandem gelungen, den Europäischen Aal dazu zu bringen, sich in Gefangenschaft zu paaren. In den ganz wenigen Fällen, wo es doch geklappt hat, gelang es nicht, die Aallarven am Leben zu halten. Paarung, Ablaichen und Schlüpfen des Europäischen und Amerikanischen Aals finden nun einmal nur in der Sargassosee statt, in Freiheit.

Welche Arten sind im Zeitalter des Menschen ausgestorben? Das Mammut und der Säbelzahntiger, die Dronte (heute meist Dodo genannt) und der Riesenalk sind berühmte Beispiele für ausgestorbene beziehungsweise ausgerottete Arten. Daneben gibt es eine Reihe weit weniger bekannter Tierarten, zum Beispiel den Riesenfrosch Beelzebufo, die Wandertaube und den Kaiserspecht, auch viele Käferarten und andere Insekten. In Norwegen sind die Muschel Lutraria lutraria, der Waldpanzerkäfer Stelis phaeoptera und die Wespe Blasticotoma filoceti zu unseren eigenen Lebzeiten ausgestorben, ohne dass wir viel davon mitbekommen hätten.

Es gibt gar nicht so viele bekannte Arten, die heute als »In der Natur ausgestorben« gelten – was bedeutet, dass es sie nicht mehr in Freiheit, sondern nur noch in Gefangenschaft gibt, und dass die Hoffnung besteht, aus den paar Überlebenden in menschlicher Obhut wieder einen Bestand aufzubauen, entweder in Gefangenschaft oder am besten wieder in Freiheit. Im Jahr 2018 ist das letzte überlebende Männchen des Nördlichen Stumpfnashorns gestorben, und es gibt nur noch zwei weibliche Exemplare, womit der Untergang der Art besiegelt ist. Nur noch einige wenige Exemplare gibt es von einer Eisvogelart auf Guam, einer Krähenart auf Hawaii, der Schwarzen Opferschalen-Meeresschildkröte in Indien, von mehreren Froscharten und von der schönen Säbelantilope (Scimitar oryx) in Nordafrika.

Und dann gibt es Arten, von denen wir nicht sagen können, wie viele Exemplare es noch gibt. So wie beim Amurleoparden in Asien, von dem noch 40 bis 60 Stück in Freiheit leben sollen, und beim Zwergnashorn auf Sumatra mit vielleicht noch 200 Stück – diese Nashornart ist kleiner als das bekannte afrikanische Schwarznashorn, von dem es auch nur noch rund 5000 Stück gibt. Soweit wir wissen, haben wir bei manchen bekannten und »beliebten« Arten auf dem afrikanischen Kontinent, wie Löwe und Elefant, einen gewissen Überblick, was die Gesamtanzahl des Weltbestands in ihrem beschränkten Lebensraum angeht.

Einige von ihnen gelten als »Vom Aussterben bedroht«. In diese Kategorie wird auch der Aal eingeordnet. Das hört sich zunächst nicht wirklich plausibel an, wenn man bedenkt, dass es noch solche Mengen Aale gibt, dass es unmöglich wäre, ihre Anzahl festzustellen.

Ein Beispiel, das uns zeigen kann, wie auch eine bislang zahlreich vorkommende Art wie der Aal mit seinen komplexen und zeitraubenden Wanderungen sehr wohl ausgerottet werden kann, ist die Wandertaube Ectopistes migratorius. Sie war einst einer der am häufigsten Vögel Nordamerikas. Es gab so viele davon, dass ihre Schwärme als die größten im Vogelreich überhaupt galten. Die letzte bekannte Wandertaube, Martha, starb 1914 im Zoo von Cincinnati. Wir können sie heute, ausgestopft, im Smithsonian Museum in Washington, D.C., besichtigen. Die Forscher stellten sich natürlich die Frage, wie eine so zahlreiche Art in so kurzer Zeit verschwinden konnte. Im 19. Jahrhundert kam es häufig vor, dass Schwärme von Wandertauben auf ihrem Zug die Sonne »mehrere Stunden lang« verdunkelten. Zuallererst muss man natürlich darauf hinweisen, dass diese Vögel intensiv bejagt wurden. Gerade, weil sie so weitverbreitet und ihre Schwärme so groß waren, wurden viele von ihnen erlegt. Es war ein regelrechter Sport. Es gab so viele Exemplare, dass unmöglich alle geschossen werden konnten, das reicht als Erklärung nicht aus. Neuere Forschungen haben die Theorien von einem ganzheitlicheren Ansatz aus vertieft. Die Ergebnisse wurden 2017 in der New York Times veröffentlicht. Hauptsächlich geht es darum, dass die Wandertauben genetisch an ein Leben in riesigen Schwärmen mit entsprechenden Zugrouten und Ernährungsstrategien angepasst waren und sie nicht überleben konnten, als die Anzahl einmal einen bestimmten Wert unterschritten hatte. Normalerweise hätte die genetische Vielfalt eine Anpassung an menschliche Eingriffe ermöglicht – aber bei den Wandertauben blieb diese Anpassung aus. Es gelang ihnen nicht, sich an ein Leben in zahlreicheren, aber kleineren Schwärmen anzupassen. Die Geschichte Marthas, der letzten Überlebenden einer Art, deren Spur bis zurück zur letzten Eiszeit gut belegt ist, zeigt, dass die Ursachen einer Entwicklung oft komplexer sind als wir glauben. Die Geschichte zeigt auch, dass eine scheinbar unerschöpfliche Zahl keine Garantie an sich für das Überleben ist.

Der verwickelte und langwierige Fortpflanzungszyklus, der sich über 30 Jahre und mehr erstreckt, sowie die großen Distanzen zwischen seinen Lebensräumen, zwischen denen er hin- und herwandern muss, machen es schwierig, den Status des Aals zu bestimmen. Die IUCN führt ihn international als »Vom Aussterben bedroht«, weil die Zahl der Glasaale, die aus dem Sargassomeer die europäischen Küsten erreichen, seit 1980 um über 90 Prozent gefallen ist.

Wie aber könnte es zu diesem dramatischen Einbruch bei den Glasaalen in den vergangenen Jahrzehnten gekommen, was könnten die Gründe sein? Dass es hier an der Sørlandsküste so viele Aale gibt, muss nicht viel heißen, wenn man bedenkt, dass die Exemplare, die wir heute fangen, um sie zu vermessen und zu markieren, vielleicht bereits 30 bis 40 Jahre alt sind und seit den 1980er-Jahren in ihrem Habitat leben.

Können diese ausgewachsenen Aale es überhaupt aus den Flüssen und Wasserläufen zurück ins Meer schaffen, die seit den 80er-Jahren intensiv ausgebaut und mit Wasserkraftwerken, Dämmen und Wehren versperrt wurden und werden? Und was genau passiert in der Sargassosee? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass viel weniger Glasaale als früher an unsere Küsten zurückkommen. Und dass die, die es auf ihrem weiten Weg von der Sargassosee bis hierher schaffen, eine zunehmend begehrtere Beute einer globalen Menschheit sind.

Um den Aal zu schützen, muss man einen möglichst umfassenden Überblick gewinnen. Der Aal durchlebt mehrere Entwicklungsstufen und hat viele Lebensräume. Da er aber nur eine einzige Art bildet, die im höchsten Grad international ist, muss man den Blick weiten.

Es gibt eine Aalforscherkollegin und Freundin von Caroline in Nordspanien, Estibaliz Dias. Von ihr erhoffen wir uns Auskunft über den ersten Teil der gefahrvollen Reise des Aals, seiner Ankunft in Europa als Glasaal. Wir entschließen uns, zum Jahresbeginn ins baskische San Sebastián zu fahren, wenn die Stadt das Fest ihres Patrons und Namensgebers feiert. Glasaale spielen hierbei eine große Rolle.

Die Ballade vom alten Seemann

logo.jpgIch wohne direkt am Meer, nur ein paar Hundert Schritte bis zum Steg sind es, an dem mein Boot liegt. Es ist genauso nah wie auf Frøya, wo die Meeresbrise zum offenen Kinderzimmerfenster hereinwehte.

Heute ist der 9. November, am Abend gehe ich in der Dämmerung hinunter – in kaum einer Stunde wird es ganz dunkel sein. Ich habe mich warm angezogen, mit mehreren Schichten unter dem Seemannsoverall, denn das Thermometer ist auf zwei Grad gefallen ist, und auf dem Wasser, das jetzt um einige Grad wärmer ist als die Luft, liegt Dunst. Das hell erleuchtete Boot Asgeir Alvestads gleitet an die Kante des Anlegestegs, und ich gehe an Bord.

Asgeir ist Sportangler. Sein Geld verdient er mit dem Vertrieb von Angelausrüstung des amerikanischen Angelhersteller Pure Fishing. Aber für Asgeir ist das Angeln mehr als ein Job, auch mehr als ein Hobby – es ist seine Leidenschaft. Er hat schon an vielen Angelwettbewerben teilgenommen, auch als Mitglied von Team Mustad. Asgeir ist auch schon norwegischer Meister gewesen, und er schreibt den meistgelesenen Angelblog Norwegens. Außerdem ist er ganzjährig Artenfischer. Das bedeutet, er beschäftigt sich damit, die besten Methoden und die optimale Ausrüstung zu finden, um gezielt bestimmte Arten zu angeln. Als ich klein war, hatten wir eine Handleine und wir wussten nie, was anbeißt, ob ein Dorsch, ein Köhler oder ein Heilbutt.

Warum ich »ganzjährig« betone? Weil es das Ziel ist, möglichst viele verschiedene Fischarten zu angeln. Innerhalb eines Jahres kommen weit über 100 Arten zusammen. Die meisten wissen, dass es etliche unterschiedliche Fischarten gibt, können aber kaum welche benennen, und von denen, die sie kennen, wissen sie nicht, ob sie in den Gewässern in ihrer Umgebung vorkommen.

2017 war Asgeir einer der Experten der NRK-Fernsehsendung Hvorfor biter fisken, in der der TV-Moderator Rune Gokstad – und mit ihm der Zuschauer – erfuhr, »warum der Fisch anbeißt«. 2011 haben wir zusammen Sjøfiskehåndboka geschrieben, das »Handbuch der Meeresfische«. Wir wohnen beide in Lillesand, und unsere Söhne sind gleichaltrig und miteinander befreundet. Wir haben schon zahlreiche Angeltouren zusammen unternommen, aber so eine noch nicht: Nachtangeln im Dunkeln.

Ich will sehen, ob es stimmt, was er erzählt: Dass man überall Aale sieht, wenn man nachts auf Fischfang geht. Was im Widerspruch zur Behauptung der Forscher und Aktivisten zu stehen scheint, der Aal sei vom Aussterben bedroht.

»Als ich mit dem Boot aus dem Hafen raus bin, um hierherzufahren, habe ich einen gesehen, der im Hafen geangelt hat«, sagt Asgeir und lacht. »Er stand da und hat gerade versucht, einen großen Aal rauszuziehen. Es gibt so wahnsinnig viele von ihnen. Sie sind meist ein lästiger Beifang. Du wirst es gleich sehen«, sagt er und reicht mir eine starke Stirnlampe. Er selbst trägt eine noch stärkere über der Mütze.