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Dr. Michelle Hildebrandt

NEURODIÄT

Dr. Michelle Hildebrandt

NEURODIÄT

Wie Sie den Schalter im Gehirn umlegen, Ihr Hungergefühl in den Griff bekommen und endlich schlank werden

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Wichtiger Hinweis

Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle medizinische Beratung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie medizinischen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Arzt. Der Verlag und der Autor haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.

Originalausgabe

1. Auflage 2019

© 2019 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Silke Panten

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: shutterstock.com/Quick Shot

Layout: Andreas Linnemann

Satz: Andreas Linnemann

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-0841-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0457-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0458-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Vorwort

Hunger oder Appetit?

APPETIT VERSTEHEN

WIE DAS UMFELD DEN APPETIT FRÜH PRÄGT

Die Schwangerschaft

Die Geburt

Die Stillzeit

Die frühe Kindheit

Die Ernährung im Elternhaus

Die Pubertät und die Macht der Peergroup

Macht uns unser Appetit immer dicker?

DIE SACHE MIT DEM GESCHMACK

Wir essen gern vielsinnig

Some like it hot

Von Schmeckern, Nichtschmeckern und Superschmeckern

Wie Alter und Krankheit den Geschmack verändern

DIE CHEMIE STIMMT: WIE DIE INDUSTRIE UNS VERFÜHRT

ENDOKRINE DISRUPTOREN: DICKMACHER PLASTIK

DER APPETIT IM WANDEL DER ZEIT: GESELLSCHAFT, KLIMA UND KULTUR

Zu arm für gesunde Ernährung?

Klima und Kultur bestimmen, was auf den Teller kommt

DIE ANATOMIE DES APPETITS

Der Hypothalamus

Das Striatum

Das Belohnungssystem

Der präfrontale Kortex

WIE UNSERE BIOLOGIE DEN APPETIT BEEINFLUSST

Sind die Gene schuld an unserem Appetit?

Epigenetik: Wo Darwin irrte

Die Macht der Hormone

Beeinflussen Darmbakterien unser Gewicht?

APPETIT ZÄHMEN

NUR WAS WIR ANNEHMEN, KÖNNEN WIR ÄNDERN

SO BÄNDIGEN SIE DEN HEISSHUNGER

Wellenreiten

Ablenken

Alternativ handeln

Auslöser eindämmen: Lebensführung

Auslöser eindämmen: Stimuluskontrolle

SO VERMEIDEN SIE DAS GROSSE FRESSEN AM BUFFET

TUN SIE SO, ALS HÄTTEN SIE BEREITS IHR WUNSCHGEWICHT

ESSEN SIE MIT DEN GEZEITEN

Nutzen Sie Ihren Menstruationszyklus für sich

SÜNDIGEN SIE SAISONAL UND ACHTSAM

Fasten Sie, wenn andere auch fasten

SO WERDEN SIE EXPERTE IN BEZUG AUF IHRE ERNÄHRUNG

Halten Sie den Blutzuckerspiegel konstant

Haben Sie keine Angst vor Fett und Eiweiß

Halten Sie es natürlich

Essen Sie intuitiv und bewusst

Kontrollieren Sie, was Sie essen

Stellen Sie sich auf die Waage

DENKEN SIE DRAN: SPORT IST NICHT GLEICH MORD

ENTSPANNEN SIE SICH

Autogenes Training und progressive Muskelentspannung

Meditation

Kümmern Sie sich um sich selbst!

LITERATURVERZEICHNIS

VORWORT

Seit Kindertagen esse ich gerne. Essen war schon immer meine Leidenschaft.

Als Kind konnte ich nach Herzenslust essen, und meine Mutter freute sich, dass ich nicht so mäkelig wie meine blasse Cousine war, die mit eisenhaltigem Fruchtsaft gepäppelt werden musste.

Bei uns zu Hause gab es täglich drei Mahlzeiten mit frischem Obst und Gemüse aus Omas Garten, Brot vom Bäcker und Fleisch vom Metzger des Vertrauens. Natürlich gab es auch ab und zu Süßigkeiten. Was das Essen anging, habe ich nie einen Mangel erfahren. Ich wurde immer satt, und es schmeckte gut, denn meine Mutter war schon immer eine ausgezeichnete Köchin, die gerne neue Rezepte ausprobierte. So lernte ich schon früh die Vielfalt der Geschmackserfahrungen kennen.

Dass ich nicht dick wurde, verdanke ich zum einen dieser ausgewogenen Ernährung, zum anderen meinem angeborenen Bewegungsdrang.

Dennoch habe ich mich schon als Kind gefragt, wie meine Freunde es schafften, Süßigkeiten wochenlang mitten im Zimmer aufzubewahren, von den verstaubten Nikoläusen und Osterhasen ganz zu schweigen. Bei mir überlebten die Schokofiguren kaum die Feiertage. Wenn ich die anderen fragte, warum sie die Schokolade noch nicht gegessen haben, antworteten sie in der Regel mit einem Schulterzucken: »Kein Appetit.«

Kein Appetit! Unvorstellbar. Egal wie satt ich war, Süßigkeiten gingen immer. Nur waren sie eben nicht immer verfügbar. Aber wenn, dann mussten sie sofort dran glauben.

Als Jugendliche bemerkte ich zum ersten Mal, dass Gewichthalten kein Selbstläufer ist. Gewichtsangaben waren bis dahin abstrakte Zahlen. Doch seit ich die ersten Meisterschaften im Judo gewonnen hatte, wurde das Gewicht zu meinem stärksten Gegner, denn im Judo wird in Gewichtsklassen gekämpft. Jede Gewichtsklasse umfasst einen Spielraum von 4 bis 5 Kilogramm. Leider befand ich mich stets am oberen Ende meiner Gewichtsklasse. Dass ein Abendessen beim Griechen am Tag vor einem Wettkampf keine gute Idee ist, war eine schmerzhafte Erfahrung.

Da ich also sportbedingt nicht viel Spielraum nach oben hatte, beschloss ich mit 14 Jahren zum ersten Mal, bewusst auf mein Gewicht zu achten. Anfangs war es nicht schwer, ich musste lediglich ein paar Tage auf Süßigkeiten verzichten, um 1 bis 2 Kilogramm abzunehmen, und konnte ansonsten ganz normal weiteressen.

Doch mit der Zeit wurde es immer schwieriger. Obwohl ich nicht hungern musste, wurde aus meiner Leidenschaft fürs Essen zunehmend Entbehrung. Tagelang keine Süßigkeiten zu essen und dabei zuzusehen, wie meine allesamt schlanken Schulfreunde unbedarft Gummibärchen aßen und in die Chipstüten griffen, wurde zur Qual.

Ich fragte mich immer öfter, weshalb andere anscheinend alles essen konnten und trotzdem schlank blieben, nur ich nicht. War es Veranlagung, lag es am Stoffwechsel? Ein Blick ins Familienalbum zeigte, dass auf der mütterlichen Seite fast alle Verwandten schlank waren. Auf der väterlichen Seite war hingegen eine Tendenz zum Bauchansatz bei den Männern und breiten Hüften bei den Frauen erkennbar. Und vom äußeren ähnelte ich eher meinem Vater.

Bedeutete dies nun, dass ich mein Leben lang verzichten musste, um schlank zu bleiben? Keine schönen Aussichten.

Kurz vorm Abitur hörte ich mit Judo auf. Ich hatte genug von den häufigen Wettkämpfen und dem ewigen Verzicht auf Süßigkeiten. Zwar befürchtete ich, dadurch zuzunehmen, gleichzeitig hatte ich aber auch die Hoffnung, ohne den äußeren Druck wieder zu einem unbefangeneren Essverhalten zu kommen.

Tatsächlich nahm ich vorübergehend etwas zu, aber es blieb im Rahmen. Die nächsten Jahre blieb ich schlank – allerdings nur, weil ich nach wie vor auf mein Gewicht achtete. Sobald es auch nur leicht nach oben ging, steuerte ich mit dem kurzfristigen Verzicht auf Süßigkeiten dagegen an. Das klappte, bis ich etwa 30 Jahre alt war.

Inzwischen hatte ich mein Medizinstudium beendet und meinen ersten Job als Assistenzärztin begonnen. Das Betriebsklima war gut, und das tägliche Mittagessen mit den netten Kollegen wurde zu einem Ritual, bei dem wir unserem Arbeitsstress für eine Weile entfliehen konnten. Und da ich nun Geld verdiente, gönnte ich mir ab und zu ein kulinarisches Highlight. Zunächst ignorierte ich, dass ich langsam zunahm. Solange die Hose noch irgendwie zuging, war doch alles in Ordnung, oder? Als sich der Knopf jedoch eines Tages gar nicht mehr schließen ließ, konnte ich mich nicht mehr rausreden. Ich stellte mich der Realität, stieg auf die Waage und zog die Notbremse.

Doch anders als in der Jugend reichte es nicht mehr, nur auf das Naschen zu verzichten. Auch bei den drei täglichen Mahlzeiten musste ich mich nun einschränken. Im Laufe der Jahre hatten sich einige Gewohnheiten eingeschlichen. Während das Frühstück mit Müsli und Joghurt noch im Rahmen war, wählte ich in der Kantine allzu oft Schnitzel und Pommes. Und zum Abendbrot liebte ich dicke Käsestullen und Leberwurstbrote.

Eine spezielle Diät wollte ich nicht machen. Mir war klar, dass ich zu einer Ernährung finden musste, die ich möglichst lebenslang einhalten konnte, und das bedeutete: Keine Verbote, aber dafür etwas weniger fett und weniger süß. Außerdem begann ich wieder moderat mit Sport. Das funktionierte gut. Nach zwölf Wochen hatte ich mein Zielgewicht erreicht und konnte eine halbe Stunde am Stück laufen. Laufen wurde neben Essen zu meiner zweiten Leidenschaft, und so kam es, dass ich nicht mehr besonders auf die Ernährung achten musste, denn durch den Sport glich ich kleine Sünden problemlos aus.

Bis ich mich der magischen 40 näherte. Die neue Lebensdekade begann mit einschneidenden Veränderungen. Ich hatte einen stressigen Job in der Forschung gegen eine ruhige Tätigkeit in einer psychotherapeutischen Klinik eingetauscht und war mit meinem Leben zufrieden. Leider schlich sich in dieser Zeit die alte Vorliebe für fetten Käse und Deftiges wieder ein. Und auch die ständig verfügbaren Süßigkeiten, die dankbare Patienten im Krankenhaus hinterlassen hatten, trugen dazu bei, dass ich wieder zunahm. Durch die vielen Nachtdienste bekam ich ständig zu wenig Schlaf, und die Laufschuhe zog ich nur noch selten an.

Die Hosen wurden wieder enger. Als die ersten vorsichtigen Kommentare von wohlmeinenden Verwandten kamen, fasste ich mir ein Herz und stieg auf die Waage. Und war schockiert. Natürlich war mir klar, dass ich zugenommen hatte. Bestenfalls 2 Kilogramm, schlimmstenfalls 4 Kilogramm. Dachte ich. In Wirklichkeit waren es 10 Kilo!

Nun mussten drastische Gegenmaßnahmen ran. Eine Diät! In den folgenden Jahren versuchte ich es erst mit Weight Watchers, ein Jahr später mit Low Carb und zuletzt vor zweieinhalb Jahren mit der Methode Kalorienzählen.

Mit jeder Methode nahm ich zuverlässig einige Kilogramm ab. Allerdings schaffte ich es nie, bis zum Zielgewicht durchzuhalten. Immer wenn mir nur noch 2 Kilogramm fehlten, fing ich an, mir ab und zu wieder etwas zu gönnen. Das sollte kein Problem sein, dachte ich mir, schließlich konnte ich es am nächsten Tag ja wieder ausgleichen. Schnell überwogen allerdings die Gönntage, und ich nahm wieder zu.

Doch woran lag das? Was ließ mich jedes Mal kurz vorm Ende abbrechen? Die gewählten Methoden waren allesamt gut im Alltag umsetzbar und schränkten mich nur wenig ein. Dennoch stellte sich immer wieder der Drang ein, »normal« zu essen. Doch was heißt normal essen? In meinem Fall waren das drei Mahlzeiten am Tag und täglich eine Portion Süßigkeiten sowie ab und zu ein Glas Wein am Wochenende. Eigentlich kein Problem, oder?

Beim Kalorienzählen fand ich heraus, dass ich als relativ kleine Frau in mittleren Jahren an reinen Bürotagen ohne Sport nur etwa 1800 Kilokalorien benötige, um mein Gewicht konstant zu halten. In der Praxis bedeutete das, dass ich mit dieser Kalorienvorgabe zwar körperlich satt werde. Wenn es aber um den Genuss geht, dann reicht es für mich auf Dauer nicht aus. 1800 Kilokalorien bedeuten drei Mahlzeiten à 600 Kilokalorien, was schnell erreicht ist, wenn man morgens eine große Portion Müsli isst, mittags klassisch ein Gericht mit Gemüse, Kartoffeln und magerem Fleisch und abends eineinhalb Scheiben Brot mit nicht zu fettem Käse und magerer Wurst. Zwischendurch vielleicht noch eine Portion Obst. Und keine Süßigkeiten, keine süßen Getränke, kein Alkohol. Genuss sieht anders aus. Kein Wunder, dass sich bei mir irgendwann das Verlangen einstellte, wie früher zu essen.

Beim gewissenhaften Bilanzieren meiner Nahrungsaufnahme fiel mir auf, dass mein Essbedürfnis täglich etwa 300 bis 500 Kilokalorien über meinem Bedarf liegt, also bei 2100 bis 2300 Kilokalorien. Das ist der Bedarf einer großen Frau oder eines kleinen, inaktiven Mannes.

Würde ich meinem »natürlichen« Essverlangen ohne Gegensteuern nachgeben, nähme ich innerhalb von sechs Wochen 1 Kilogramm zu. Über das Jahr macht das dann 5 bis 10 Kilogramm aus!

Nun stand ich vor dem Dilemma: Lebenslang verzichten, oder dick werden. Oder? Es musste doch noch einen dritten Weg geben.

Eine naheliegende Lösung war, den Verbrauch zu steigern. Und das tat ich. Ich intensivierte mein Lauftraining, nahm etwas ab und halte seitdem mein Gewicht. Es ist jedoch nicht so, dass nun wieder alles gut ist, mitnichten. Durch das Laufen kann ich mir täglich 300 bis 500 Kilokalorien mehr leisten. Doch an Tagen, an denen ich keinen Sport mache, komme ich in Bedrängnis. Mittlerweile laufe ich Marathon, doch selbst in der Marathonszene gibt es Menschen, die eine Wampe vor sich hertragen.

Auch wenn ich mit dem intensiven Laufen und dem täglichen Bilanzieren meiner Ernährung eine Zwischenlösung gefunden hatte, war es auf Dauer unbefriedigend.

Um die Frage zu lösen, warum das Essverlangen größer als der Bedarf ist, begann ich daher, mich intensiv damit auseinanderzusetzen, was den Appetit eigentlich ausmacht. Denn nicht der Hunger ist das Problem, ich hatte zu keinem Zeitpunkt, an dem ich abnahm, wirklich Hunger, sondern nur Appetit. Liegt es an den Genen? An den Hormonen? An den Nahrungsmitteln selbst, denen irgendwelche suchtauslösende Substanzen beigefügt sind, die Anke Engelke einmal treffend als »Chipsextrakt« bezeichnet hat? Oder ist es die Psyche, Essen als Ersatz oder Stresslöser zu konsumieren?

Um herauszufinden, was uns zu viel essen lässt, ist es zunächst wichtig, den Appetit zu verstehen. Doch um langfristig etwas zu verändern, muss man ins Handeln kommen. Dabei gilt: annehmen, was man nicht ändern kann, und ändern, was man ändern kann.

Dieses Buch ist kein klassisches Diätbuch. Es enthält keine Rezepte und verbietet keine Nahrungsmittel. Die hier vorgestellten Methoden sind für jeden umsetzbar, egal, ob Veganer oder Allesesser.

Es richtet sich an Menschen, die gerne essen, die immer wieder mit überschüssigen Pfunden kämpfen und nach jahrelangen Versuchen die Nase voll haben von Diäten.

Es ist für Personen geschrieben, die sich über Jahre zum Teil wider-sprüchliches Wissen über vermeintlich gesunde Ernährung angeeignet haben und es dennoch bisher nicht geschafft haben, ihr Wunschgewicht dauerhaft zu halten. Es richtet sich an diejenigen, die nicht essgestört im klinischen Sinne sind, sondern einfach zu kalorienreich essen. Die eine Vorliebe für Süßes und Fettes haben, am besten in Kombination. Für die Salat eine Beilage und niemals ein Hauptgericht ist. Für die Essen Trost oder Belohnung ist und denen bei Kummer nicht der Appetit vergeht. Die durchaus zielstrebig im Leben sind und Durchhaltevermögen haben, was die zahlreichen Diäten beweisen, und trotzdem ständig mit ihrer Figur hadern. Die sich nur zeitweise zum Sport aufraffen können. Die wissen, das frische Biolebensmittel besser wären, dann aber doch lieber zum Discounter gehen und Produkte kaufen, die schnell zubereitet werden können. Dieses Buch ist genau für diejenigen gedacht, die vielleicht schon resignieren, aber doch die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben haben, eine Möglichkeit zu finden, sich mit dem Appetit zu versöhnen, ihn gar zu zähmen.

HUNGER ODER APPETIT?

Vor einigen Jahren nahm ich an einem einwöchigen Fastenwandern teil. Angeregt durch eine Fernsehdokumentation war ich neugierig geworden: neugierig auf die Erfahrung der Leere, neugierig auf das Ausbleiben des Hungergefühls und neugierig auf spirituelle Einsichten.

Außerdem hoffte ich, auf diese Weise ein paar lästige Winterpfunde loszuwerden.

Um in den erlauchten Fastenkreis aufgenommen zu werden, mussten die Teilnehmer am Anfang ein Ritual durchlaufen, das »Glaubern«. Feierlich überreichte uns die Fastenleiterin ein großes Glas Wasser mit Glaubersalz, das wir auf ihr Kommando auf ex trinken mussten. Es war ekelhaft.

Die nächsten Stunden verbrachte jeder für sich allein auf dem stillen Örtchen, bis wir schließlich völlig entleert in einen Erschöpfungsschlaf fielen.

Der erste Morgen begann mit dem Frühstücksritual. Andächtig löffelten wir ungesüßten Früchtetee. Dann begann die Wanderung. Die Teilnehmer bestanden fast ausschließlich aus Frauen in mittleren Jahren. Bis auf zwei Ausnahmen waren alle stark übergewichtig. Und alle waren leidenschaftliche Köchinnen. So war es nicht verwunderlich, dass sich unsere Gespräche in der Hauptsache um Koch- und Backrezepte drehten.

Tatsächlich war das Hungergefühl nach einem Tag völlig verschwunden und tauchte auch bis zum Ende nicht mehr auf. Die vielbeschworene körperliche Leichtigkeit stellte sich ein, wobei das Gefühl noch durch gelegentlichen Schwindel verstärkt wurde.

Hunger war wie gesagt während der gesamten Fastenzeit kein Problem. Und doch bemerkte ich geradezu eine Besessenheit vom Essen. Unsere Wanderungen führten uns durch kleine Ortschaften, wo wir an Konditoreien, Restaurants, Eiscafés und Imbissen aller Art vorbeikamen. Die Sinne waren geschärft, und so nahm ich den Geruch der Speisen besonders intensiv wahr. Ein schier unstillbares Verlangen nach Essen überkam mich, und ohne die Gruppe wäre ich schwach geworden. Auch allein auf meinem Zimmer wurde ich permanent von Visionen eingeholt. Meine Gedanken drehten sich ums Essen und ich bekam Gelüste selbst auf Dinge, die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen und bis dahin auch nicht vermisst hatte. Selbstredend, dass ich auch nachts vom Essen träumte. Ich konnte das Fastenbrechen kaum erwarten. Derart von den Gedanken ans Essen eingenommen, war kein Platz für spirituelle Erleuchtungserlebnisse.

Das Fastenbrechen war die Ekstase, noch nie habe ich den Geschmack eines Apfels so intensiv wahrgenommen. Dieses Empfinden hielt noch einige Tage an, und dann war wieder alles normal.

Was mich das Fasten lehrte: Hunger ist kein Problem, es ist der Appetit.

Offenbar gibt es also einen Unterschied zwischen Hunger und Appetit. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird kaum zwischen Hunger und Appetit unterschieden. Der Duden definiert beide Begriffe als das »Verlangen, etwas zu essen«.1 Der Hunger wird dabei als Leeregefühl in der Magengegend verortet. Der Appetit wird mit Esslust, Gelüste, Gier und Heißhunger gleichgesetzt.

Auch in der Forschung findet sich selten eine klare Trennung zwischen Hunger und Appetit. Das mag vielleicht daran liegen, dass die meisten Erkenntnisse aus Versuchen mit Tieren stammen. Da Tiere nicht verbal mitteilen können, ob sie nun aus Hunger oder aus Appetit gefressen haben, können nur indirekt aus ihrem Verhalten Schlüsse gezogen werden. Studien mit Menschen orientieren sich eher daran, was in welchen Mengen in bestimmten, meist stressigen, Situationen gegessen wurde. Es geht um Kaloriengehalt und Nährstoffzusammensetzung.

Während Appetit in der öffentlichen Wahrnehmung kaum Beachtung findet, ist Hunger allgegenwärtig. Zahlreiche Diäten werben mit dem Ausspruch »abnehmen, ohne zu hungern«. Und die Werbung zeigt eindrücklich, wie man vor Hunger zur Diva werden kann, bis ein Schokoriegel die Erlösung bringt. Keiner benennt den Appetit, und doch zielt die Werbung mit der ganzen Kunst der Verführung einzig auf den Appetit ab. Verniedlicht wird das Ganze als »der kleine Hunger«, und aus einem einfachen Schokoriegel wird die längste Praline der Welt.

Woran Diäten oder Ernährungsumstellungen letztendlich so häufig scheitern, ist nicht der Hunger, sondern vor allem der Appetit. Deshalb ist es so wichtig, hier eine klare Unterscheidung zu machen.

Hunger ist eine nüchterne Angelegenheit. Appetit ist Leidenschaft. Hunger wird in der Hauptsache körperlich wahrgenommen, als Leeregefühl im Magen. Bei stärkerem Hunger macht sich der Magen geräuschvoll bemerkbar, wir spüren seine Bewegungen, die sich bis zu Krämpfen ausweiten können. Manchmal kommen brummende Geräusche hinzu. Das liegt daran, dass im Magen fortlaufend Verdauungssäfte gebildet werden. Ist der Magen leer, werden diese durch die Magenbewegungen, die Peristaltik, hörbar. Hunger ist unmissverständlich, und wenn er stark ist, ist es uns ziemlich egal, was wir zu essen bekommen, Hauptsache Nahrung!

Manchmal stellen sich Benommenheit und Schwindel ein. Dies zeigt an, dass nicht nur der Magen leer ist, sondern dass wir dringend Energie brauchen. Genauer: das Gehirn braucht Energie, und zwar in Form von Zucker. Während das Gehirn nur 2 Prozent des Körpergewichts ausmacht, benötigt es die Hälfte der mit der Nahrung aufgenommenen Kohlenhydrate. Kohlenhydrate sind nichts anderes als aneinandergeheftete Zuckermoleküle, die sich durch Verdauungsenzyme leicht aufspalten lassen und schnell verfügbare Energie bereitstellen. Zwar ist es auch möglich, Energie durch den Abbau von Fetten zu gewinnen, doch dies ist aufwändig und passiert erst, wenn nicht genug Zucker zur Verfügung steht, zum Beispiel wenn wir Diät leben. Das erklärt, warum sich das Hüftgold so hartnäckig hält.

Kürzlich nahm ich an einem langen Laufwettbewerb teil, einem Ultra-marathon. Es ging über 73 Kilometer durch den Thüringer Wald. Um so eine lange Strecke zu schaffen – ich war fast neun Stunden unterwegs – benötigt man reichlich Energie. Die Veranstalter sorgten gut für die Läufer. Etwa alle 5 Kilometer wurden Getränke und Essen bereitgestellt, meist Kohlenhydratreiches wie Bananen, Müsliriegel und Haferschleim, aber auch salzige Suppen. Bei Kilometer 35 bekam ich Hunger. Der Magen knurrte. Zum Glück sollte 2 Kilometer weiter eine Verpflegungsstelle kommen, sodass ich entspannt weiter lief. Doch ausgerechnet dort gab es nichts zu essen, sondern nur Getränke. Ich nahm eine Cola, um Zucker zu bekommen, und hoffte, die nächsten 5 Kilometer zu überstehen. Doch nach 1,5 Kilometern wurde mir schwindelig. Übelkeit stieg auf, schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen und der Ohnmacht nahe musste ich mich übergeben. Gerade noch rechtzeitig blieb ich stehen, lehnte mich an einen Baum und fingerte ein Notfall-Gel aus meiner Seitentasche. Das sind extra für Sportler hergestellte spezielle Gele, die verschiedene Arten von Kohlenhydraten enthalten, die einerseits schnell ins Blut gehen und andererseits etwas länger anhalten als reiner Zucker. Nach 30 Sekunden ging es mir deutlich besser. Der Schwindel war weg, die Übelkeit wich. Ich hatte wieder Kraft. So schaffte ich es bis zur nächsten Verpflegungsstelle, an der ich eine etwas längere Pause machte und ausgiebig aß. In dieser Situation war es mir völlig egal, was ich zu mir nahm. Hauptsache es machte schnell satt und enthielt Energie. Appetit spielte keine Rolle.

Hunger ist urwüchsig und unmissverständlich wie ein Wildtier. Er geht aufs Ganze und greift sich alles, was bei drei nicht auf den Bäumen ist. Dagegen ist Appetit wie ein Haustier. Er ist zähmbar. Manchmal kann er sehr eindringlich sein, wie ein Kätzchen, das schnurrend um die Beine streift, herzzerreißend miaut und uns so lange mit dem Köpfchen anstupst, bis wir nachgeben und Futter bereitstellen. Dabei ist der Appetit äußerst wählerisch. So wie ein eben noch vor Hunger sterbendes Kätzchen das Futter verschmäht, wenn es nicht die richtige Marke ist, ist auch der Appetit sehr zielgerichtet. Das erklärt auch, warum der häufig geäußerte Diätratschlag, bei Appetit auf Schokolade einen Apfel zu essen, nicht weiterhilft. Zwei Äpfel später greift man dann doch meist zur Schokolade.

Appetit und Hunger dienen beide dazu, einen Mangel an Nährstoffen auszugleichen. Hunger ist dabei ziemlich simpel, es geht um Zucker fürs Gehirn und Volumen für den Magen.

Appetit zielt auf bestimmte Nährstoffe ab. Ein Schwerarbeiter bevorzugt eher Deftiges. Nach Tagen mit Fastfood kommen Gelüste auf frischen Salat auf. Nach einem Marathon hatte ich mal eine Zeit lang Appetit auf Erdnüsse, die normalerweise nicht auf meinem Ernährungsplan stehen. Offenbar enthalten Erdnüsse genau die Fette und Eiweiße, die ich zur Regeneration der Beinmuskulatur benötigt habe.

Das Ausgleichen eines Nährstoffmangels kann man auch gut bei Tieren beobachten, zum Beispiel bei Hunden, die beim Spazierengehen Gras fressen, oder bei Ziegen, die am Salzstein lecken.

Appetit hat auch etwas Verführerisches. Der Duft aus einer Konditorei, der einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, obwohl man bis dahin gar nicht ans Essen gedacht hat. Oder das gemeinsame Mahl auf der Familienfeier, das schöne Erinnerungen an alte Zeiten weckt, die mit dem Festtagsbraten verknüpft sind. Und die Schokoladenmousse zum Nachtisch, die wir essen, obwohl wir fast zu platzen drohen.

Es gibt viele Situationen, in denen wir Appetit bekommen, obwohl wir gar nicht hungrig sind. Im Idealfall fallen Hunger und Appetit zusammen. Der Magen knurrt, und wir haben eine Idee davon, was wir jetzt gerne essen würden. Ist es in ausreichender Menge verfügbar, sind wir hinterher nicht nur satt, sondern auch zufrieden.

Anders ist es bei Krankheit. Wenn wir mit Fieber im Bett liegen, haben wir meist keinen Appetit. Und auch der Hunger bleibt länger als üblich aus. Der Körper benötigt jetzt seine ganze Kraft, um die Krankheit zu bekämpfen, da stört übermäßige Verdauungstätigkeit nur. Nährstoffe brauchen wir trotzdem, deshalb empfiehlt sich die berühmte Hühnerbrühe, denn sie ist leicht verdaulich, liefert Salz und etwas Fett. Verweigern wir aus Appetitlosigkeit diese banale Mahlzeit, fängt irgendwann doch der Magen an zu knurren, uns wird schlecht, und wir fühlen uns noch schwächer. Schließlich zwingen wir uns doch, eine Kleinigkeit zu essen, doch ohne Appetit. Aber trotzdem geht es uns kurz darauf besser. Der Appetit ist also eine durchaus verzwickte Angelegenheit. Daher habe ich ihn intensiver unter die Lupe genommen.

APPETIT VERSTEHEN